Künstliche Staus

Am 05.11.2003 ereignete sich gegen 23.00 Uhr auf der Autobahn A 3 zwischen Würzburg und Nürnberg ein Verkehrsunfall, bei dem ein PKW mit 180 km/h ungebremst in den letzten Wagen einer Autokolonne raste. Der Fahrer, bei dem es sich um einen entwichenen Strafgefangenen handelte, wurde hierbei getötet. Drei weitere Personen wurden verletzt, zwei davon schwer. Während das Vorkommnis laut Zeitungsmeldung in einem ersten Polizeibericht wie ein tragisches Unglück dargestellt worden ist, erfuhr die Öffentlichkeit später, dass die Polizei künstlich einen Stau herbeigeführt hatte, um den entwichenen Strafgefangenen stellen zu können.

Ich frage deshalb die Staatsregierung:

1. In welchen Fallkonstellationen ist die Polizei entweder zur Gefahrenabwehr oder zur Strafverfolgung aufgrund welcher Rechtsgrundlagen befugt, künstliche Staus herbeizuführen?

2. In wie vielen Fällen sind seit dem 01.04.2000 bis 31.12.2003 von der bayerischen Polizei künstliche Staus herbeigeführt worden und zu welchen Zwecken, mit welchen Ergebnissen und eventuellen Schäden für Unbeteiligte?

3. Wie werden Polizeibeamte dafür ausgebildet, künstliche Staus herbeizuführen und wer ist ­ außer bei Gefahr in Verzug ­ befugt, einen künstlichen Stau anzuordnen und auszuführen?

4. Welche Konsequenzen zieht die Staatsregierung aus dem tödlichen Unfall vom 05.11.2003 und ggf. weiteren polizeilichen Aktionen ähnlicher Art im Hinblick auf die Schwelle für den gezielten Eingriff in den Straßenverkehr und die Vermeidung von Schäden Unbeteiligter und der eingesetzten Polizeibeamten?

5. Trifft es zu, dass das Vorkommnis vom 05.11.2003 in einem ersten Polizeibericht ­ wahrheitswidrig ­ als tragischer Unglücksfall dargestellt worden ist und falls ja, aus welchen Gründen und auf wessen Veranlassung?

6. Haftet der Freistaat für die Regulierung der Körper- und Sachschäden der unbeteiligten Verkehrsteilnehmer und falls ja, sind die Schäden bereits reguliert?

Antwort des Staatsministeriums des Innern vom 15.04.

Vorbemerkung:

Der Anfrage liegt folgende Ausgangssituation zu Grunde:

Am 05.11.2003 gegen 22.40 Uhr wurde an der Tank- und Rastanlage Würzburg-Süd durch die Besatzung einer Zivilstreife der Verkehrspolizeiinspektion Würzburg/Biebelried ein Tankstellenbetrug beobachtet. Die Besatzung verfolgte den 46-jährigen Beschuldigten, der mit einem Pkw der Marke Hyundai unterwegs war und beim Erkennen des Einsatzfahrzeuges auf der A3 in Richtung Nürnberg flüchtete.

In der Anfangsphase der Verfolgung wurde durch eine Fahndungsüberprüfung festgestellt, dass der Halter des Fahrzeuges zur Festnahme ausgeschrieben war. Aufgrund der Fahndungsnotierung konnte ermittelt werden, dass die Ausschreibung aufgrund eines Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Köln wegen Totschlags bestand. Zusätzlich wurde nach dem Halter als Entwichener Strafgefangener gefahndet. Im Fahndungssystem war der personenbezogene Hinweis gewalttätig angebracht.

Der Flüchtige fuhr mit Geschwindigkeiten von bis zu 180 km/h und verhinderte ein Überholen und Anhalten durch Einsatzkräfte der Polizei durch aggressives Fahrverhalten.

Daraufhin veranlasste gegen 23.00 Uhr der den Einsatz leitende Beamte die Bildung eines künstlichen Staus. Obwohl das Stauende auf Grund der Dunkelheit in einer Entfernung von ca. einem Kilometer bereits durch die eingeschalteten Warnblinkanlagen der am Stauende befindlichen Fahrzeuge sowie ein Dienstfahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht frühzeitig zu erkennen war, und auch die verfolgenden Polizeifahrzeuge gefahrlos anhalten konnten, fuhr der Flüchtige ungebremst in ein dort stehendes Fahrzeug. Nach Verlautbarung des Leitenden Oberstaatsanwaltes in Würzburg in einer Pressemitteilung vom 20.11.2003 ist davon auszugehen, dass dies durch den Unfallverursacher bewusst erfolgte. Der Unfallverursacher wurde hierbei getötet und drei weitere Personen zum Teil schwer verletzt.

Zu 1.: Das bewusste und gewollte Verursachen eines Staus ist in der Strafprozessordnung und im Polizeiaufgabengesetz (PAG) nicht in speziellen Befugnisnormen geregelt. Es handelt sich hierbei nicht um eine Anhaltung, da Ziel nicht das bloße Stoppen von Fahrzeugen ist, sondern deren Einsatz als polizeiliches Mittel zur Bildung eines Hindernisses.

Die Befugnis zur Herbeiführung eines künstlichen Staus stützt sich daher auf die Generalklausel des Art. 11 PAG.

Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit ist eine konkrete Gefahr im Sinn des Art. 11 PAG. Adressaten der Maßnahme sind die Fahrzeuginsassen, deren Fahrzeuge den Stau auslösen sollen und die für die Gefahr nicht verantwortlich sind.

Nach Art. 10 PAG ist eine Maßnahme gegen Nichtstörer unter folgenden Voraussetzungen zulässig:

­ Es liegt eine gegenwärtige erhebliche Gefahr vor (Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 PAG).

­ Maßnahmen gegen den eigentlichen Störer nach Art. 7 oder 8 PAG sind nicht oder nicht rechtzeitig möglich (Art. 10 Abs. 1 Nr. 2 PAG).

­ Die unmittelbare Ausführung der Maßnahme ist wirkungslos bzw. nicht rechtzeitig möglich (Art. 10 Abs. 1 Nr. 3 PAG).

­ Die unbeteiligten Personen dürfen durch die Inanspruchnahme nicht erheblich gefährdet werden (Art. 10 Abs. 1 Nr. 4 PAG). Im jeweiligen Einzelfall darf aus Sicht des anordnenden Beamten aufgrund der zum Zeitpunkt der Anordnung gegebenen Umstände eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit der unbeteiligten Dritten somit nicht erkennbar sein.

Neben diesen Voraussetzungen ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 4 PAG) zu beachten. Mittel ist die Bildung eines Staus durch Fahrzeuge Dritter. Zweck ist die Anhaltung eines Fluchtfahrzeuges. Die Maßnahme muss geeignet sein, den Zweck zu erfüllen. Mittel mit geringeren Beeinträchtigungen dürfen nicht in Betracht kommen. Bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn nach Art. 4 Abs. 2 PAG ist in die Abwägung einzubeziehen, dass der Eingriff darin zu sehen ist, dass die Personen, die sich in den aufgestauten Fahrzeugen befinden, angehalten werden. Neben dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist auch das Eigentumsgrundrecht betroffen. Die Fahrzeuge dürfen nicht fortbewegt werden und es kann eine Gefährdung der Sachintegrität drohen. In der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass die Nachteile nicht außer Verhältnis zum Erfolg stehen.

Zu 2.: Im Rahmen der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben ist die Polizei vielfach gehalten, in den fließenden Verkehr, auch auf Autobahnen einzugreifen. Eine Anhaltung des Verkehrs auch mit der Folge der Bildung eines Staus kommt beispielsweise regelmäßig in Betracht, um Gegenstände, die die Sicherheit des Verkehrs beeinträchtigen, von der Fahrbahn entfernen zu können oder um Unfallstellen abzusichern. Neben diesen in erster Linie auftretenden Fallkonstellationen spielt die Anhaltung des Verkehrs zum Zwecke der Ergreifung flüchtiger Personen zahlenmäßig eine eher nachrangige Rolle.

Eine bayernweite Berichtspflicht zur Herbeiführung künstlicher Staus ist vom Staatsministerium des Innern nicht angeordnet. Eine stichprobenartige Anfrage bei einzelnen Polizeipräsidien hat ergeben, dass auch dort keine entsprechenden Aufzeichnungen geführt werden. Im Zusammenhang mit der Bildung von künstlichen Staus eingetretene Schäden für Unbeteiligte sind dem Staatsministerium des Innern, abgesehen von dem in Rede stehenden Fall, in letzter Zeit nicht bekannt geworden. Von einer nachträglichen Erhebung der Fallzahlen, der Anlässe und der Ergebnisse wurde auf Grund des damit verbundenen hohen Aufwands abgesehen.

Zu 3.: Die Polizeibeamten erhalten im Rahmen der Ausbildung bei der Bayer. Bereitschaftspolizei eine ausführliche Beschulung bezüglich der Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten, sowie eine Fahrerfortbildung für den Einsatzbereich mit einem Sicherheitstraining. Darüber hinaus sind die in der PDV 371 Eigensicherung im Polizeidienst enthaltenen Regelungen über die Durchführung von Einsatz- und Verfolgungsfahrten sowie das Anhalten von Fahrzeugen Grundlage für entsprechende polizeiliche Maßnahmen.

Für Polizeibeamte, die bei Verkehrsdienststellen eingesetzt sind, welche Bundesautobahnen betreuen, gehören Eingriffe in den fließenden Verkehr zum täglichen Dienst. Die Einwirkung zur Minimierung der Geschwindigkeit bzw. zum Abstauen des Verkehrslaufs bis zum Stillstand ist, wie bereits erwähnt, beispielsweise in folgenden Situationen erforderlich:

­ Begleitung von Schwertransporten

­ Beseitigung von Hindernissen auf der Fahrbahn

­ Absicherung von Unfallstellen.

Neben der grundsätzlichen Schulung der Beamten für Einsatzfahrzeuge kommt hinzu, dass Beamte der vorgenannten Verkehrsdienststellen über eine erhebliche Fahrpraxis im Hochgeschwindigkeitsbereich und in extremen Fahrsituationen verfügen.

Bei der Beurteilung von Einsatzlagen, in denen die Drosselung des Verkehrs bis zum Stillstand durch die Polizei in Betracht kommt, ist festzustellen, dass es sich hierbei ausschließlich um Sachverhalte handelt, die sofortiges Handeln erfordern. Die sich daraus ergebende Anordnungskompetenz für die Polizei kann zweckmäßigerweise nur im Bereich der unmittelbar beteiligten Dienstkräfte beim örtlichen Einsatzleiter liegen.

Zu 4.: Die Bayer. Polizei hat die gesetzliche Verpflichtung, Gefahren abzuwehren und Straftaten zu verfolgen. Dieses Gebot gilt auch im Zusammenhang mit der Ergreifung flüchtiger Kraftfahrzeugführer. Die Staatsregierung legt seit jeher großen Wert darauf, dass durch das polizeiliche Handeln insbesondere unbeteiligte Dritte nicht mehr als unvermeidbar beeinträchtigt werden. Gerade bei von der Polizei herbeigeführten künstlichen Staus gilt deshalb in strikter Anwendung der unter Ziffer 1 aufgeführten Rechtsgrundsätze der Grundsatz, dass mögliche Gefährdungen nicht größer sein dürfen als die durch den Einsatz abzuwehrenden Gefahren.

Die Staatsregierung trägt dafür Sorge, dass die Einhaltung dieser Grundsätze auch in Zukunft in gebührender Weise an die Dienstkräfte der Bayer. Polizei vermittelt wird.

Zu 5.: Es ist zutreffend, dass die Ereignisse als tragisches Unglück dargestellt wurden. Diese Wertung hat bis zum jetzigen Zeitpunkt Gültigkeit und dürfte wohl keine Änderung erfahren.

Dieser tragische Unglücksfall ereignete sich nicht durch die Maßnahme der Polizei, sondern im Zusammenhang mit dieser. Die Verursachung des schweren Personen- und Sachschadens ist ausschließlich auf das Verhalten des flüchtigen Straftäters zurückzuführen. Die Staatsanwaltschaft Würzburg geht davon aus, dass der Unfallverursacher bewusst in das Stauende fuhr.

Es ist nachvollziehbar, dass die direkt am Ereignis beteiligten Polizeibeamten erheblich unter dem Einfluss des tragischen Unglücks standen, womit eine sofortige und eindeutige Sachverhaltsklärung im Laufe der Nacht nicht möglich war. Mit einem Vorausbericht wurde die Polizei dem Informationsbedürfnis der Presse und der Bevölkerung gerecht.

Es wäre nicht dienlich gewesen, wäre man bei der Berichterstattung mit Mutmaßungen an die Öffentlichkeit getreten.

Eine offensive Berichterstattung über polizeitaktische Maßnahmen mit detaillierter Darstellung der Abläufe würde zudem das zukünftige Verhalten von flüchtigen Straftätern beeinflussen.

Der zunächst festgestellte und belegbare Sachverhalt wurde in einer unverzüglich vorgenommenen Meldung und bei der Verständigung der Staatsanwaltschaft mitgeteilt. Nachdem weitere Ergänzungen feststanden, wurde am 19.11.2003 ein Zwischenbericht an die Staatsanwaltschaft Würzburg geleitet. Seitens der Staatsanwaltschaft Würzburg wurde durch den Leitenden Oberstaatsanwalt am 20.11.2003 eine umfassende Presseerklärung abgegeben.

Zu 6.: Eine Haftung des Freistaates Bayern käme bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 70 Abs. 2 S. 1 PAG bzw. des § 839 BGB in Betracht. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass diese Ansprüche ­ unabhängig von der Frage der Kausalität bzw. des Verschuldens ­ subsidiär sind (vgl. Art. 70 Abs. 1, letzter Halbsatz PAG bzw. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB). Das bedeutet, dass sich ein Geschädigter nur dann an den Freistaat Bayern halten kann, sofern er nicht anderweitig Ersatz zu erlangen vermag.

Bisher haben zwei schwer verletzte Unfallbeteiligte über ihren Bevollmächtigten vorsorglich Amtshaftungsansprüche beim Polizeipräsidium Unterfranken angemeldet und darum gebeten, bis zum rechtskräftigen Abschluss eines gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers zu führenden Schadensersatzprozesses auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Beide Erklärungen wurden dem Bevollmächtigten der Unfallbeteiligten vom Polizeipräsidium Unterfranken mit Schreiben vom 26.02.2004 übersandt.

Der Ausgang der Klage gegen die Kfz-Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers bleibt abzuwarten.