Diversionsverfahren

Der Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung, gemeinnützige Arbeit, Auferlegung von Geldbußen, Suchtberatungsgespräche u.ä. können im Zuge der Diversion, die ein außergerichtliches Verfahren darstellt, das strafrechtliche Verfahren ersetzen und zur Verfahrenseinstellung führen.

Ebenso können solche Maßnahmen dem Strafverfahren hinzutreten und auch hierzu einer Einstellung oder im Urteil zu einer Strafmilderung führen.

Die genannten Möglichkeiten in Diversionsverfahren überwinden den Charakter der strafrechtlichen Vergeltung und bewahren das Verbleiben des Täters in der Gemeinschaft.

Insbesondere der Täter-Opfer-Ausgleich nimmt Opfern ihre im Strafverfahren ohnmächtige Position bei Achtung der Selbstbestimmtheit und Würde der Beteiligten.

Grundlagen für die Anwendung genannter Maßnahmen zur Konfliktregelung im Zuge der Diversion finden sich im JGG.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Staatsregierung

1. Welcher Personenkreis von Tätern und welche Straftatbestände bis zu welcher Schadenshöhe kommen grundsätzlich für Maßnahmen wie Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung, gemeinnützige Arbeit, Geldbußen, Suchtberatungsgespräche u.ä. im Zuge von Diversionsverfahren in Frage?

2. In wie vielen Fallen ist es im Zeitraum der letzten fünf Jahre bei jugendlichen und bei erwachsenen Straftätern und Straftäterinnen zur Anwendung o.g. Maßnahmen gekommen und in wie vielen der genannten Strafverfahren haben solche Maßnahmen im Zuge der Diversion das strafrechtliche Verfahren ersetzt oder gar zu einer Verfahrenseinstellung geführt, bzw. in wie vielen Fällen sind diese Maßnahmen dem Strafverfahren beigeordnet worden und haben zu dessen Einstellung oder im Urteil zu einer Strafmilderung geführt?

3. Aus welchen Professionen werden diejenigen Personen ausgewählt, die den Täter-Opfer-Ausgleich, die Schadenswiedergutmachung und das Ableisten gemeinnütziger Arbeit begleiten, Suchtberatungsgespräche durchführen sowie die Zahlung auferlegter Geldbußen überwachen, welche fachliche Qualifikation und welche Zeitkontingente haben diese, um die bezeichnete Aufgabe durchzuführen und welche Zeiträume sind für eine notwendige Nachbetreuung und Perspektivenentwicklung für die Straffälligen durch solche Begleiter vorgesehen?

4. Wie ist es um die Möglichkeiten zur Vernetzung, der Fort- und Weiterbildung der den Straffälligen bei der Konfliktregelung im Diversionsverfahren Helfenden bestellt?

5. Gibt es differenzierte Erkenntnisse über Erfolge bzw. Misserfolge oder andere signifikante Faktoren im Wirkungskreis der genannten Maßnahmen im Zuge der Diversion?

6. Gibt es von Seiten der Bayerischen Staatsregierung Konzepte oder Leitlinien für eine zukunftsweisende Perspektivenentwicklung zum Themenkreis Diversion?

Antwort des Staatsministeriums der Justiz vom 29.11.

Vorbemerkung:

Der Ausdruck Diversion ist im Strafrecht kein gesetzlich definierter oder sonst fest umrissener Begriff, sondern wird uneinheitlich verwendet. Überwiegend werden darunter alle Formen der Beendigung der Strafverfolgung ohne förmliche, durch Strafurteil ausgesprochene Sanktionierung des Täters verstanden, mit Ausnahme der Fälle, in denen das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts oder wegen des Fehlens einer Prozessvoraussetzung eingestellt wird.

Die Diversion umfasst damit eine sehr breite Palette von Reaktionsformen sowohl des allgemeinen Strafrechts als auch des Jugendstrafrechts, die in zahlreichen Normen verschiedener Gesetze geregelt sind, unterschiedliche gesetzliche Voraussetzungen aufweisen und je nach Verfahrensstadium von der Staatsanwaltschaft oder vom Gericht angeordnet werden können. Einzelne dieser Rechtsgrundlagen (z. B. § 153a § 45 Abs. 2 JGG) ermöglichen es, alternativ oder auch kumulativ eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen (Auflagen, Weisungen) anzuordnen. Umgekehrt können bestimmte Maßnahmen je nach Sach- und Rechtslage auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen. Beispielsweise findet der Täter-Opfer-Ausgleich Erwähnung in § 153a Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, §§ 155a, 155b § 46a Nr. 1, § 56b Abs. 2 Nr. 1, § 59a Abs. 2 Nr. 1 § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und §§ 45, 47 JGG.

In den einschlägigen Justizstatistiken wird regelmäßig die Häufigkeit der Anwendung bestimmter Tatbestände oder 22.12.

Tatbestandsalternativen erfasst, dabei jedoch nicht nach einzelnen Maßnahmen differenziert, sofern der erfasste Tatbestand verschiedene Maßnahmen zulässt. Angesichts dieser statistischen Beschränkungen und im Hinblick auf die erwähnte Vielfalt der Fallgestaltungen können die aufgeworfenen Fragen nur in allgemeiner Form beantwortet werden.

Zu 1.: Die Voraussetzungen der Anwendung der einzelnen Diversionsmaßnahmen ergeben sich aus den jeweils einschlägigen gesetzlichen Vorschriften (z. B. §§ 153, 153a §§ 45, 47 JGG) sowie aus den bundeseinheitlichen Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz. Landesweite Anweisungen, die den Anwendungsbereich der Diversion in Bezug auf Täterkreis, Deliktsart, Schadenshöhe etc. einengen, gibt es in Bayern nicht. Die Sachbehandlung der Staatsanwaltschaften ist allerdings regelmäßig Gegenstand von Dienstbesprechungen mit den Leitern der bayerischen Staatsanwaltschaften.

Zu 2.: Wie bereits in der Vorbemerkung erwähnt, sind Angaben zur Häufigkeit bestimmter Diversionsmaßnahmen nur eingeschränkt möglich: Angegeben werden kann nur, wie oft die bayerischen Staatsanwaltschaften und Gerichte Verfahren nach bestimmten gesetzlichen Tatbeständen bzw. Tatbestandsalternativen eingestellt haben. Nachfolgend sind die wichtigsten der Einstellungsnormen aufgeführt, die in der Regel dem Bereich der Diversion zugeordnet werden: Z.B. kann ein durchgeführter Täter-Opfer-Ausgleich zu einer Verfahrenseinstellung nach § 153 führen und wird dann statistisch nicht als Täter-Opfer-Ausgleich erfasst.

Maßnahmen, die durch Urteil angeordnet oder vom Gericht im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt wurden, werden im Allgemeinen nicht der Diversion zugeordnet. Abgesehen davon liegen zu den von den Gerichten angestellten Strafzumessungserwägungen keine statistischen Erkenntnisse vor.

Zu 3.: Aus der Vielfalt der Sachverhalte und rechtlichen Fallgestaltungen folgen auch unterschiedlichste Formen der Durchführung der genannten Diversionsmaßnahmen. So kann z. B. der Täter-Opfer-Ausgleich mit professioneller Hilfe, also meist durch eine Fachkraft der Sozialarbeit vermittelt werden. Darauf ist aber namentlich die Regelung des § 46a nicht beschränkt. Nach der Gesetzesfassung sind Fälle nicht ausgeschlossen, in denen der Täter-Opfer-Ausgleich ohne Zuhilfenahme eines Dritten oder etwa unter Mitwirkung von Angehörigen der rechtsberatenden Berufe oder auch ehrenamtlich tätigen Personen zustande kommt.

Der professionell vermittelte Täter-Opfer-Ausgleich wird in Bayern im allgemeinen Strafrecht nahezu ausschließlich unter Mitwirkung von Freien Trägern der Wohlfahrtspflege durchgeführt. In geringem Umfang ist auch die Gerichtshilfe mit dem Täter-Opfer-Ausgleich befasst. Im Jugendstrafrecht werden teils Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe, teils Träger der freien Jugendhilfe tätig.

Reine Schadenswiedergutmachungsleistungen (insbesondere der Ausgleich von Vermögensschäden) werden von den Beschuldigten zumeist ohne staatlicherseits vermittelte Hilfe, aber z. B. häufig nach Beratung durch den Verteidiger erbracht. Dem Ziel, der Wiedergutmachung im Strafverfahren einen breiteren Anwendungsbereich zu geben, diente der im Bundesgebiet einzigartige Modellversuch Schadenswiedergutmachung über anwaltliche Schlichtungsstellen, der durch das Staatsministerium der Justiz in Zusammenarbeit

Das Projekt war in der Modellphase durch die Stiftung finanziert worden. Seit 2002 ist es reguläres Angebot der Strafjustiz und wird durch den Staat finanziert.

Im Jugendstrafrecht sind vor allem Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe und Träger der freien Jugendhilfe mit der Organisation und Überwachung gemeinnütziger Arbeit befasst.

Im allgemeinen Strafrecht wird die Ableistung gemeinnütziger Arbeiten teils von Justizbediensteten, teils von Freien Trägern vermittelt und begleitet. Sie hat im Erwachsenenstrafrecht die mit Abstand größte Bedeutung bei der Abwendung der Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen (Projekt Schwitzen statt Sitzen).

Für Suchtberatungsgespräche werden staatliche, kommunale und freie Suchtberatungsstellen in Anspruch genommen.

Die Zahlung auferlegter Geldbußen wird regelmäßig von den Staatsanwaltschaften und Gerichten selbst überwacht.

Zu 4.: Die Fortbildung für Richter und Staatsanwälte befasst sich auch mit dem Gesichtspunkt der Diversion, und zwar in der Regel fokussiert auf den Täter-Opfer-Ausgleich. Die Thematik findet sich bei Fortbildungsveranstaltungen an der Deutschen Richterakademie sowohl bei Tagungen mit übergreifendem strafrechtlichem Thema wie z. B. Entwicklung und Tendenzen im Strafrecht oder Aktuelle Fragen des Jugendstrafrechts als auch bei speziell konzipierten Tagungen wie Täter-Opfer-Ausgleich und allgemeine Schadenswiedergutmachung im Strafprozess, in denen Modelle und Methodik der Konfliktberatung, -schlichtung und -vermittlung im Mittelpunkt stehen.

Zu 5.: Wissenschaftliche Studien, die Erfolge bzw. Misserfolgeder Diversion umfassend ausweisen, sind der Staatsregierung nicht bekannt. Allerdings sind zahlreiche Modellversuche zum Täter-Opfer-Ausgleich, das bayerische Projekt zur Schadenswiedergutmachung über anwaltliche Schlichtungsstellen (s. o. zu Frage 3) sowie das Kriminalpädagogische Schülerprojekt (Teen Courts) wissenschaftlich begleitet worden. Die wissenschaftliche Begleitforschung vermittelt jedoch kaum Erkenntnisse über die Legalbewährung der in die Modellversuche einbezogenen Beschuldigten, auf die die Frage wohl abzielt.

Im Hinblick auf diese defizitäre Erkenntnislage hat das Staatsministerium der Justiz Prof. Dr. Dieter Dölling (Universität Heidelberg) mit einer Studie zur Legalbewährung nach Täter-Opfer-Ausgleich beauftragt. Einbezogen waren bzw. sind die Modellversuche im Jugendstrafrecht in München und Landshut (ab 1987) und im allgemeinen Strafrecht in Nürnberg (ab 1990) sowie Aschaffenburg (ab 1992). Nach den bisher vorliegenden Ergebnissen zum Jugendstrafrecht war die Legalbewährung nach erfolgreichem etwas günstiger als nach anderen jugendstrafrechtlichen Sanktionen. Zu berücksichtigen ist jedoch vor allem, dass die absoluten Zahlen sehr niedrig liegen. Die Ergebnisse zu den Modellen in Nürnberg und Aschaffenburg stehen noch aus.

Die Staatsregierung vertritt insgesamt die Auffassung, dass bei sachgerechter Handhabung der Opportunitätsvorschriften der Verfahrensordnungen keine nachteiligen Wirkungen in spezial- und generalpräventiver Hinsicht zu befürchten sind. Namentlich die im Ländervergleich seit vielen Jahren gemeinsam mit Baden-Württemberg niedrigste Kriminalitätsbelastung in Bayern spricht dafür, dass eine sachgerechte Handhabung durch die bayerische Strafjustiz gewährleistet ist. Einer extensiven Verfahrensweise, wie sie etwa in Bremen im Jugendstrafrecht (Diversionsquote im Jahr 2002: 84 %) oder in Schleswig-Holstein im Erwachsenenstrafrecht (Diversionsquote im Jahr 2002: 62 %, dabei über 40 % aller anklagefähigen Verfahren mit Verfahrensbeendigung ohne jegliche weitere Sanktion) gepflogen wird, erteilt die Staatsregierung eine strikte Absage.

Zu 6.: Wie schon in der Vergangenheit (u. a. Modellversuche zu Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung; Teen Courts) wird die Staatsregierung auch in der Zukunft mit zukunftsweisenden Projekten hervortreten, sofern sich hierfür Gelegenheiten ergeben. Ergänzend wird auf die Vorbemerkung sowie die Antwort zu Frage 5 verwiesen.