Patent

Ob mehr soziale Gerechtigkeit erreichbar wäre, wenn das Kindergeld einkommensabhängig gewährt würde, wie Petra Beckerhoff meint, 12 ist fraglich. So plausibel dieser Vorschlag klingt, so wenig berücksichtigt er, dass der Sozialstaat womæglich seinen Rückhalt in anderen Teilen der Bevælkerung verliert, wenn er nur noch die Armen und Bedürftigen alimentiert. Gerade weil ± und vermutlich: bloû wenn ± die Mittelschichten selbst von Universaltransfers wie dem Kindergeld profitieren, akzeptieren sie Programme für randständige Minderheiten: Nur ein Sozialsystem, aus dem die Mehrheit der Bevælkerung Nutzen zieht, wird eine Staatsbürgermoral hervorbringen kænnen. Wenn Sozialstaat ausschlieûlich negative Konnotationen hat und hauptsächlich für Arme da ist, wie es in den USA der Fall ist, wird er am Ende die Gesellschaft spalten. 13

Sinnvoll wäre hingegen ein für alle Familien gleiches, einheitliches Kindergeld, während die für den Staat teuren und Spitzenverdiener begünstigenden Steuerfreibeträge fragwürdig sind. Statt alle Eltern gegenüber Kinderlosen materiell besser zu stellen, wie es die traditionelle Familienpolitik tut, müssen sozial benachteiligte Kinder gezielt gefærdert werden. Dabei sollte ihre Unterstützung unabhängig von der Familienform wie von der Erwerbsbiografie der Eltern erfolgen. Rechte eines Kindes leiten sich aus seiner Identität als Kind, nicht aus seinem Verhältnis zu einem anspruchsberechtigten Elternteil ab. 14

Unser System der sozialen Sicherung ist nicht nur erwerbsarbeits- und ehezentriert, vielmehr auch stark erwachsenenorientiert. Die Rechtsposition von Kindern muss verbessert und institutionell verankert werden, dass sie autonome Subjekte mit eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen sind. Eine derart verstandene Kinderwohlfahrtspolitik ist eine ressortübergreifende Querschnittsaufgabe, deren einzelne Elemente, Programmteile und Instrumente bislang unzureichend in ihren Wirkungen auf die Wohlfahrt und Lebenschancen von Kindern untersucht worden sind. 15

Obwohl die Ehefærderung ± statt einer Kinderfærderung ± als grundlegende Fehlorientierung der Familienpolitik gilt, 16 bietet die Umwandlung des Ehegatten- in ein Familiensplitting keine Læsung, weil dieses noch ungerechter hinsichtlich der Verteilungswirkung wäre. Die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt kritisiert, dass ein Familiensplitting die Steuerbelastung kinderreicher Spitzenverdiener und Einkommensmillionäre deutlich verringern, kinderreichen Durchschnittsverdienern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger(inne)n jedoch (zu) wenig oder nichts bringen würde: Alleinerziehende würden davon allerdings profitieren, aber nur minimal, weil die wenigsten in Einkommenskategorien verdienen, wo ein Familien-Splitting deutliche Steuervorteile bringt. 17

Bildungspolitik, Ganztagsbetreuung und Gemeinschaftsschule Ungeklärt ist, ob Finanzmittel, die der (ganzen) Familie dienen sollen, bedürftigen Kindern wirklich helfen oder nur die Haushaltsvorstände erreichen. Claudia Pinl fordert statt hæherer Zuwendungen des Staates an die Eltern einen Ausbau æffentlicher Einrichtungen, die auch den sonst leer ausgehenden Kindern zugute kämen: Der Familienleistungsausgleich entzieht den Kindern Geld an den Stellen, wo gerade sie es am meisten brauchen: in Erziehungsberatungsstellen und schulpsychologischen Diensten, in Ganztagsschulen, KiTas, Horten, Krippen und Freizeiteinrichtungen für Jugendliche. 18 Beratungs-, Betreuungs- und Bildungsangebote für sozial benachteiligte Familien sind wirksamer als die Anhebung des Kindergeldes und steuerlicher Freibeträge.

Ganztagsschulen, die (preisgünstige oder kostenlose) Kindergarten-, Krippen- und Hortplätze ergänzen sollten, haben einen doppelten Nutzeffekt: Einerseits kænnen von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefærdert werden, andererseits ihre Mütter leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme eher meistern lässt. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich soziale Handicaps kompensieren, weil eine Versorgung der Kinder mit gesunder Nahrung (gemeinsames Mittagessen), eine systematische Færderung bestimmter Schülerinnen und Schüler bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung des Nachmittags mæglich sind.

Dieser Erkenntnis dürfte wohl geschuldet sein, dass der Bund durch ein Sonderinvestitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung die Länder bis 2008 mit insgesamt vier Milliarden Euro bei der Schaffung von Ganztagsschulen unterstützt. Auûerdem erhalten die Länder nach dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) jährlich 1,5 Milliarden EUR, die durch Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe gespart werden sollen, zur Schaffung von mehr Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren. Um einen bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbetreuung zu ermæglichen, hält C. Katharina Spieû eine Reform des kommunalen Finanzausgleichs für unabdingbar; gleichzeitig denkt sie an die Bildung einer aus Steuermitteln gespeisten Familienkasse. 19 Für die Unter-zwei-Jährigen müsste es dem Anspruch auf einen Kindergartenplatz nach § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII entsprechend einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz geben.

So wichtig mehr Ganztagsbetreuung ist, so wenig reicht sie aus, um Bildung stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Gleichwohl stæt die æffentliche Reformdebatte selten bis zu den Wurzeln des Problems vor, der Drei- bzw. Viergliedrigkeit des Schulwesens in Deutschland. Wer von der Gesamt- bzw. Gemeinschaftsschule für Kinder aller Bevælkerungsschichten jedoch nicht sprechen will, sollte auch von der Ganztagsschule schweigen.

Diese war stets ein Ziel reformpädagogischer Bemühungen, degeneriert aber zur bloûen Verwahranstalt, wenn sie nicht in eine umfassende Strukturreform und ein Gesamtkonzept integriert wird, das soziale Selektion vermeidet.

Christof Prechtl und Daniel Dettling beklagen, dass die Bundesrepublik sechsmal so viel Geld für Soziales wie für Bildung aufwendet, sehen sie doch in Letzterer den Schlüssel zur Bekämpfung der (Kinder-)Armut: Da zwischen Bildungsstand und Erfolg am Arbeitsmarkt ein klarer Zusammenhang besteht, produziert das deutsche Bildungswesen heute die Sozialfälle von morgen. Politisch bedeutet dies: Die Vermeidung von Bildungs-, nicht Einkommensarmut, ist die zentrale Herausforderung. 20 Hier unterliegen die beiden Autoren einem Irrtum: Was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Kinder mehr Bildung bekommen, konkurrieren sie um die wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze nur auf einem hæheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen. Fehlende oder mangelhafte (Schul-)Bildung kann die Armut potenzieren und zementieren. Sie ist jedoch nur der Auslæser, nicht die Ursache materieller Not. Bildung ist deshalb auch ein nur begrenzt taugliches Mittel, also keine Wunderwaffe im Kampf gegen die (Kinder-)Armut, weil sie zwar durch soziale Diskriminierung entstandene Teilhabedefizite junger Menschen mildern, aber nicht verhindern kann, dass materielle Ungleichheit auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen durchschlägt.

Gerade wer Bildungs- als Sozialpolitik begreift, müsste verhindern, dass von der Schule über den Weiterbildungssektor bis zur Hochschule alle Institutionen dieses Bereichs privatisiert werden. Denn das heiût, die Eintrittsbarrieren für Spræsslinge weniger gut situierter Familien zu erhæhen. Michael Opielka macht deutlich, dass die Debatte über die (Wieder-)Einführung von Studiengebühren und Schulgeld politisch-ideologisch motiviert und nicht frei von Mythen über das US-amerikanische Bildungssystem ist. 21 Kontraproduktiv wirken auch die Beschneidung der Lernmittelfreiheit durch entsprechende Gesetze in mehreren Bundesländern und die Schlieûung von (Schul-)Bibliotheken aus Kostengründen.

Gesundheits- und Sozialpolitik Früherkennungs- bzw. Vorsorgeuntersuchungen (U 1 bis U 9) werden überwiegend, aber nur begrenzt von den sozial Marginalisierten, wahrgenommen. 22 Häufig zeigen die Schuleingangsuntersuchungen, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Kinder aus unterprivilegierten Schichten schon nach den ersten Lebensjahren aufweisen und welchen psychosozialen Belastungen sie dadurch ausgesetzt sind. Trotzdem erscheint der Vorschlag, die Früherkennungsuntersuchungen obligatorisch zu machen und die Nichtteilnahme mit Sanktionen zu belegen, 23 unangemessen. Gesundheitsprävention ist zwar zweckmäûig, dennoch sollte sie statt mit Strafen über Anreize erfolgen.

Da die Kommerzialisierung der kindlichen Freizeitgestaltung sozial benachteiligte Familien finanziell überfordert, müssen ihnen Städte und Gemeinden mehr kostenlose -günstige, aber gleichzeitig interessante und attraktive Angebote machen. Die æffentlichen Verwaltungen sieht Christian Palentien ebenso in der Pflicht wie die Träger der Wohlfahrtspflege: Sie kænnen, wie es in vielen Kommunen schon seit längerer Zeit üblich ist, günstig oder kostenfrei Angebote gestalten, etwa Ferienspiele, die sich an alle Kinder und Jugendlichen wenden, also nicht nur an die sozial schwächer gestellten, und hierüber eine weitere Ausgrenzung und Stigmatisierung vermeiden. 24

Städte und Gemeinden sind aus finanziellen Gründen (sinkende Steuereinnahmen bei steigenden Sozialausgaben) immer weniger in der Lage, ihre Regelaufgaben im Kinder- und Jugendhilfebereich zu erfüllen, von freiwilligen Leistungen ganz zu schweigen. Wenn mehr Mittel zur Verfügung stünden, kænnte die Sozial- und Jugendarbeit ein Stützpfeiler im Kampf gegen die Kinderarmut sein. Eine kindorientierte Sozialpolitik darf nicht zulassen, dass Beratungs- und Betreuungsangebote aufgrund staatlicher Sparmaûnahmen und leerer æffentlicher Kassen weiter verringert werden. Detlef Baum sieht die zentrale Herausforderung und eine adäquate Strategie zur Bekämpfung der Armut und ihrer Folgen für Kinder darin, den Zusammenhang zwischen räumlicher und sozialer Ausgrenzung in den Städten zu durchbrechen. Will der Staat die individuelle rechtliche und ækonomische Position von Personen verbessern, muss die kommunale Sozialpolitik die sozialräumlichen Strukturen zu gestalten suchen, unter denen Menschen leben bzw. aufwachsen, und die pädagogischen Beziehungen zu optimieren oder zu konstituieren suchen, die das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in einer Kommune gelingen lassen.

Roland Merten konstatiert, dass noch keine Kinder- und Jugendhilfepolitik entwickelt und realisiert worden sei, die man als Politik für Kinder und Jugendliche klassifizieren kænne.