Bewertung des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens von Schülerinnen und Schülern durch so genannte Kopfnoten

Die Fraktionen der CDU und der SPD haben unter Drucksache 15/89 eine Große Anfrage zu obigem Thema an den Senat gerichtet.

Der Senat beantwortet die Große Anfrage wie folgt:

1. Welche Kenntnis hat der Senat vom Diskussionsstand über so genannte Kopfnoten in den Bundesländern Niedersachsen, Sachsen und Brandenburg, und welche Konzepte für die Einführung liegen in diesen Bundesländern vor?

Welche bereits länger praktizierten Konzepte sind bekannt?

Das Bundesland Sachsen hat zum Schuljahr 1999/2000 die Kopfnoten Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung eingeführt. In den Bundesländern Niedersachsen und Brandenburg liegen für die Bewertung von Arbeits- und Sozialverhalten Entwurfsfassungen der entsprechenden Erlasse bzw. Zeugnisbeiblätter vor, die sich zurzeit am Ende einer Anhörungsphase befinden.

Außerdem wird im Bundesland Thüringen ein Einschätzungsbogen zum Lernprozess, zur Arbeitsweise und zum sozialen Verhalten an elf Schulen unter wissenschaftlicher Begleitung erprobt.

In Sachsen ist eine Benotung der vier Kategorien Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung von der 2. Jahrgangsstufe an in einer 5-stufigen Notenskala vorgesehen.

Dagegen soll in allen übrigen Bundesländern, die hier gegenwärtig Neuerungen beabsichtigen oder durchführen, die Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens und seiner jeweils länderspezifischen Unterkategorien entweder als unschematische verbale Beurteilung oder aber in Rasterform vorgenommen werden.

Zu bereits länger praktizierten Konzepten stellt der Senat fest:

Die Mehrzahl der Bundesländer kennt Aussagen zu Mitarbeit und Verhalten in den Zeugnissen entweder als ausgeführte Bemerkungen in einer so genannten allgemeinen Beurteilung oder aber benotet in einer 4- oder 5-stufigen Notenskala.

Unterschiedlich modifiziert sind in den Ländern i. d. R. die Jahrgangsstufen 1 und 2, die Abschlussjahrgänge und die Sekundarstufe II von diesen Beurteilungen ausgenommen; für Abschlussjahrgänge sind allenfalls Bemerkungen zugelassen, die dem Fortkommen der Schülerinnen und Schüler dienen.

Bemerkenswert ist, dass in einer Reihe von Bundesländern, die bisher schon Benotungen oder allgemeine Beurteilungen zum Sozial- und Arbeitsverhalten kannten, gegenwärtig die Diskussion um modernisierte Formen solcher Bewertungen aufgenommen ist - wie z. B. im Saarland - oder Änderungen entsprechender Verordnungen vorbereitet werden - wie in Hamburg - oder bereits durchgeführt sind -wie in Hessen --. Diskussion und Änderungen zielen immer darauf ab, den so genannten Schlüsselqualifikationen aus den Bereichen sozialer Kompetenz, Methoden-/Lernkompetenz und so genannter Selbstkompetenz, die z. B. Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung einschließt, stärker Rechnung zu tragen.

2. Welche pädagogischen Gründe haben nach Kenntnis des Senats diese Diskussion ausgelöst, wie beurteilt dieses der Senat und sind diese Gründe, die zur Einführung der so genannten Kopfnoten in anderen Bundesländern führen, auch auf die Situation in Bremen übertragbar?

Die bundesweite Diskussion um die Bewertung von Arbeits- und Sozialverhalten hat nach Kenntnis des Senats drei wesentliche Ausgangspunkte:

- Sowohl die Erziehungswissenschaften und Fachdidaktiken als auch die Curriculumentwicklungen der vergangenen Jahre legen Unterricht und Schule einen veränderten, erweiterten Lern- und Leistungsbegriff zu Grunde.

Ziel schulischen Lernens ist demnach eine Handlungskompetenz, die sich aus vier Kompetenzbereichen zusammensetzt:

- Fachkompetenz,

- soziale Kompetenz,

- Methoden- oder Lernkompetenz,

- Selbst- oder personale Kompetenz.

Insbesondere die letzten drei Bereiche enthalten zahlreiche Teilkompetenzen, die als Schlüsselqualifikationen bezeichnet werden: z. B. Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Kooperations-/Teamfähigkeit, Beherrschung von Lern- und Arbeitstechniken, Sorgfalt, Zuverlässigkeit, Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft, Fähigkeit zur Selbsteinschätzung u. v. m.

Diese fächerübergreifenden Kompetenzen konstituieren einen erweiterten Leistungsbegriff, der eine differenziertere und transparentere Rückmeldung und Bewertung erforderlich macht, als es die herkömmlichen Benotungen fachlicher Leistungen oder traditionelle Kopfnoten ermöglichen.

- Die Erwartungen der Wirtschaft an Schulabgängerinnen und -abgänger sind bundesweit von den Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern in den vergangenen Jahren präzisiert und publiziert worden, so u. a. auch durch die Bremer Handelskammer und die Kammergemeinschaft Ausbildung und Bildung der norddeutschen Industrie- und Handelskammern.

Diese Kataloge von geforderten Fertigkeiten und Fähigkeiten enthalten neben fachlichen und allgemeinen Grundfertigkeiten stets auch breit aufgeführte Schlüsselqualifikationen aus den bereits genannten Kompetenzbereichen.

Das Einfordern dieser Grundfertigkeiten und Schlüsselqualifikationen ist Gegenstand in den Dialogen Politik-Wirtschaft und Schule-Wirtschaft.

- Unterschiedlich akzentuiert ist die Forderung nach der Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens von Lehrer- und Elternverbänden sowie von politischen Parteien vorgetragen worden.

Der Senat nimmt die öffentliche Debatte über die Berücksichtigung von zentralen Schlüsselqualifikationen in schulischen Zeugnissen ernst. Insbesondere begrüßt es der Senat, dass dort, wo diese Debatte bereits in konkrete Maßnahmen überführt wird, i. d. R. sehr differenzierte Kategorien des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens zum Gegenstand einer verbal gefassten oder gerasterten Bewertung gemacht werden.

Bezogen auf die genannten Ausgangspunkte und mit Blick auf die Funktion einer Bewertung von Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten ist der Senat der Auffassung, dass in der Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen die Anforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen Arbeits- und Berufswelt sehr ernst genommen werden müssen, dass aber die hier benannten Kompetenzen insgesamt eine Schlüsselfunktion haben für die Biografie der/des Einzelnen, nicht nur im Beruf, sondern auch im privaten wie im politischen und kulturellen Leben.

Der Senat sieht andererseits - bestärkt durch Teile der öffentlichen Debatte --, dass die Einführung von Bewertungen des Arbeits- und Sozialverhaltens das Risiko birgt, dass unter ungünstigen Bedingungen eine vorwiegend disziplinierende Funktion dieser Beurteilungen zum Zuge kommen könnte. Der Senat teilt daher die Position jener Länder, in denen die Einführung in den Kontext veränderten Unterrichts und damit von Schulentwicklung und Arbeit am Schulprogramm eingebettet wird.

3. Teilt der Senat die Auffassung, dass Zeugnisse neben der Bewertung des fachlichen Wissens und Könnens auch Aussagen treffen müssen zu sozialem Verhalten und sozialer Kompetenz, zu Arbeitsverhalten und Leistungsbereitschaft sowie Mitarbeit und Ordnung, und ist der Senat bereit, auch für das Land Bremen eine Bewertung des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens einzuführen?

Wenn ja, wie könnte ein Konzept dafür auch in Ergänzung zur Benotung von Fächern und Leistungen aussehen, und welche pädagogischen Effekte könnten nach Auffassung des Senats erzielt werden, wenn nein, welche Gründe hat der Senat für seine Einschätzungen?

Der Senat teilt die Auffassung, dass Zeugnisse neben der Bewertung fachlicher Leistungen im engeren Sinne auch Aussagen treffen müssen zu Leistungen und Lernständen im Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten und zu einzelnen darin enthaltenen Kompetenzen bzw. Schlüsselqualifikationen.

Der Senat beabsichtigt, auch in Bremen in einem gestuften und mit Schulen und Kammern rückgekoppelten Verfahren eine ausdrückliche Bewertung des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens einzuführen.

Derartige Beurteilungen sind auch jetzt schon Bestandteil von Rasterzeugnissen oder Lernentwicklungsberichten der Grund- und z. T. auch der Gesamtschulen. Sie sind gleichfalls Element der Beobachtungsbögen, die z. T. zur Vorbereitung der Beratungsgespräche in der Orientierungsstufe verwendet werden, wie überhaupt das Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten einen zentralen Gesprächs- und Beratungsgegenstand an Elternsprechtagen bilden.

Zudem sind diese Bewertungen oft verborgen - und das ist ein Nachteil - in den gängigen Fachleistungsnoten.

Einzelne Bremer Schulen der Sekundarstufe I haben bereits mit der Entwicklung von Beiblättern zu den Zeugnissen begonnen, auf denen die Leistungen im Arbeits- und Sozialverhalten eingeschätzt werden.

Nach Auffassung des Senats soll das Konzept einer Einführung der Bewertung von Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten in Bremen folgende Aspekte berücksichtigen bzw. folgenden Prinzipien genügen:

- Die Auswahl der zu bewertenden Kategorien muss korrespondieren mit den Zielaussagen der Neufassungen bremischer Rahmenlehrpläne, die - soweit sie vorliegen - erkennbar einen erweiterten Lern- und Leistungsbegriff enthalten.

- In der Vorbereitung einer entsprechenden Regelung ist - nach Hamburger Vorbild - ein enger Dialog mit u. a. den Personal- und Ausbildungsbereichen bremischer Wirtschaft zu führen.

- Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich einzelne Bremer Schulen bereits auf den Weg gemacht haben und dass die Beurteilbarkeit und Objektivierbarkeit einzelner Kategorien - wie z. B. Verantwortungsbereitschaft - sich erst noch praktisch erweisen muss, ist geplant - nach dem Vorbild Thüringens - zunächst eine zweijährige Erprobung an ca. 30 Schulen durchzuführen, deren Evaluation Eltern- und Schülervertretungen sowie wiederum Partner/Abnehmer aus der Wirtschaft einbeziehen muss.

- Es erfolgt keine Benotung; die Schulen sollten mit Schulkonferenzbeschluss zwischen einer Bewertung in Rasterform oder verbalisierten Beurteilungen wählen.

- Die Bewertung des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens sollte in Anlage zum Zeugnis auf einem verpflichtenden Beiblatt als Bestandteil des Zeugnisses vorgenommen werden, auf dem gleichfalls die Zahl der unentschuldigten Fehltage vermerkt wird.

- Schulen, die Lernentwicklungsberichte oder Rasterzeugnisse ausstellen, werden von der Ergänzung entpflichtet, müssen allerdings die ausgewählten Kategorien des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens berücksichtigen.

- Abgangs- und Abschlusszeugnisse enthalten keine Bewertung des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens; zu prüfen ist die Möglichkeit, nach der auf Antrag der Schülerin/des Schülers positive Bemerkungen aufgenommen werden können.

Rückmeldungen über die Leistungen und Lernstände in der Sozial-, Methodenund Selbstkompetenz haben den Effekt einer Verstärkung und verstärkten Beachtung des Lernens in diesen Bereichen; sie verbessern die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung und die Voraussetzungen für das Gelingen von Unterricht.

Der Senator für Bildung und Wissenschaft plant, in Abstimmung mit den Schulen ab Schuljahr 2000/2001 in ca. 30 Schulen aller Schulstufen im Rahmen von Modellprojekten gezielte Erfahrungen mit der Bewertung des Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens zu sammeln und dies auszuwerten.

4. Teilt der Senat die Auffassung, dass die Aussagefähigkeit des Zeugnisses gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie den Erziehungsberechtigten, aber auch zum Beispiel gegenüber betrieblichen Ausbildungsträgern steigt, wenn nicht nur Leistungs- sondern Verhaltenskategorien bewertet werden, wie bewertet der Senat die Einschätzung, dass mit der Aufnahme von Bewertungen in die Zeugnisse der Erziehungsauftrag der Schule gegenüber dem Bildungsauftrag eine angemessene Betonung erhält, und teilt der Senat schließlich die Auffassung, dass Kopfnoten auch die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern verbessern können, indem sie nicht nur an den gemeinsamen Erziehungsauftrag erinnern, sondern auch eine regelmäßige Bewertung und Rückmeldung darstellen?

Der Senat teilt die Auffassung, dass mit der Aufnahme von Bewertungen des Lern-, Sozial- und Arbeitsverhaltens die Transparenz und Aussagekraft schulischer Beurteilungen und Zeugnisse steigen.

Der Senat ist allerdings der Auffassung, dass auch in den Arbeits- und Sozialkompetenzen nur Erlernbares jeweils als Lernleistung bewertet werden kann.

Zeugnisse dürfen in ihrer erzieherischen Funktion jedoch nicht überhöht werden; der Bildungs- und Erziehungsprozess muss vorrangig in der alltäglichen schulischen Arbeit kontinuierlich geleistet werden.

Die Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens ist zu nutzen in der Lernberatung von Schülerinnen und Schülern. So weisen einzelne Bundesländer (z. B. in Brandenburg, Thüringen und Hessen) diesen Beurteilungen ausdrücklich eine Verwendung in Beratungsgesprächen mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit den Erziehungsberechtigten zu.

Die Beurteilungen dienen so auch der Betonung des gemeinsamen Erziehungsauftrags von Schule und Elternhaus und einer darauf gerichteten Zusammenarbeit.

Der Erhöhung der Aussagekraft schulischer Zeugnisse gegenüber betrieblichen Ausbildungsträgern kann nach Auffassung des Senats nur in eingeschränkter Form genügt werden:

Eine Reihe von Bundesländern (so z. B. Baden-Württemberg und Hessen) nimmt Abgangs-, Abschluss- und Prüfungszeugnisse von einer Bewertung des Sozial- und Arbeitsverhaltens aus. Eine weitere Gruppe von Ländern lässt nur Beurteilungen in diesem Bereich zu, die dem Fortkommen der Schülerin oder des Schülers dienen (Berlin) oder den Übertritt in das Berufsleben nicht erschweren (Bayern).

5. Wie schätzt der Senat die pädagogische Wirkung ein, wenn neben der Erweiterung der Bewertungsbereiche auch die Anzahl der unentschuldigten Fehltage im Zeugnis aufgeführt werden, und ist der Senat der Auffassung, dass auch dies die Aussagekraft der Zeugnisse gegenüber Dritten erhöhen kann?

Mit der Aufnahme von unentschuldigten Fehltagen in Zeugnissen sieht der Senat sowohl eine positive erzieherische Wirkung als auch einen verbesserten Informationswert der Zeugnisse insbesondere gegenüber den Erziehungsberechtigten gegeben.

Dies kann die Schule aber nicht von der Verpflichtung zu unmittelbarer und rechtzeitiger Einflussnahme und Information bei akuten unentschuldigten Unterrichtsversäumnissen befreien.

Auch für die Angabe unentschuldigter Fehltage in Zeugnisse muss gelten, dass Abgangs- und Abschlusszeugnisse davon ausgenommen werden.