Gleichzeitig wird das Gemeinwesen durch die Kriminalität der Mächtigen Steuerhinterziehung u. a. immer stärker

Die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik ist in zunehmendem Maße gekennzeichnet von Ausgrenzung und Vereinzelung. Der objektiv vorhandene gesellschaftliche Reichtum steht für immer mehr Menschen im krassen Gegensatz zu ihren persönlichen Chancen auf Teilhabe und Teilnahme. Insbesondere die steigende Massenarbeitslosigkeit, eine zunehmende und dauerhafte Abhängigkeit von Familien von der Sozialhilfe und die Auflösung der sozialen Sicherungssysteme sind Ursachen dieser Entwicklung.

Gleichzeitig wird das Gemeinwesen durch die „Kriminalität der Mächtigen" (Steuerhinterziehung u. a.) immer stärker bedroht.

Diese Entsolidarisierung bedroht vor allem die Zukunftsperspektiven von Kindern und Jugendlichen. Konnten in den vergangenen Jahrzehnten die persönlichen Lebensperspektiven stark durch die persönliche Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit bestimmt werden, erleben Kinder und Jugendliche heute vielfach das Gegenteil. Die Angst vor Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit und damit vor der Ausgrenzung aus den materiellen Möglichkeiten in Deutschland ist zur prägenden Generationserfahrung geworden (vgl.: Jugendstudie der dt. Shell). Kinder und Jugendliche reagieren auf diese Alltagserfahrung zum Teil durch abweichendes Verhalten. Kriminalität, Gewaltbereitschaft oder Drogenkonsum sind dabei Folge, nicht Ursache der gesellschaftlichen Schwierigkeiten. Nicht Kinder und Jugendliche machen Probleme, sondern die Welt der Erwachsenen schafft die Probleme. Wachsende Jugendkriminalität (überwiegend von männlichen Jugendlichen) ist deshalb ein Problem des Kerns unserer Gesellschaft und nicht der Ränder.

Es darf dabei sicher nicht darum gehen, Straftaten zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Selbstverständlich gibt es eine individuelle Verantwortung der Jugendlichen und der Eltern. Polizei und Justiz tragen hier ebenso Verantwortung wie die Jugendhilfe. So brauchen wir z. B. nicht vorrangig neue Gesetze, sondern eine konsequentere Praxis.

Für die Jugendhilfe ist es wichtig, den Bereich der Jugendgerichtshilfe weiterhin zu qualifizieren. Das Land Niedersachsen hat sich bisher mit den sogenannten Neuen Ambulanten Maßnahmen (Täter-Opfer-Ausgleich und Sozialstunden) stark engagiert.

Problematisch stellt sich auch die Vermittlung gesellschaftlicher Leit- und Wertebilder dar: Die Frage der Werteerziehung ist deshalb auch eine Frage nach den Werteleitbildern, welche die bewußtseinsprägenden gesellschaftlichen Institutionen zur Verfügung stellen.

Die den jungen Menschen über ihre Alltagserfahrungen und über die Medien vermittelten gesellschaftlichen Leitbilder sind zu häufig mit der Normalität von Kriminalität im Allgemeinen und Gewalt im Besonderen verbunden. Die faktische Allgegenwart der Wirtschaftskriminalität oder die Selbstverständlichkeit zunehmend exzessiver Gewaltdarstellungen im Fernsehen - nur um Beispiele zu nennen - hinterlassen als eine Art Grundströmung natürlich ihre Spuren im Prozeß der Wertebildung bei jungen Menschen.

Der Landtag begrüßt die von der Landesregierung bereits ergriffenen Maßnahmen:

­ Um besonders benachteiligte junge Menschen an Ausbildung und Beschäftigung heranzuführen, sind 16 „Regionale Arbeitsstellen" zur beruflichen Eingliederung junger Menschen in Niedersachsen (RAN) eingerichtet worden, die vom Land und der EU gefördert werden.

­ In 82 Jugendwerkstätten erhalten junge Menschen eine gezielte sozial- und berufspädagogische Qualifizierung, die ihnen die Aufnahme einer vollqualifizierenden Ausbildung oder einer Beschäftigung ermöglichen soll.

­ In 55 Jugendgemeinschaftswerken werden junge Aussiedlerinnen und Aussiedler gefördert.

­ Durch ein Modellprogramm zur Gewaltprävention von Jugendlichen werden an sechs Standorten in Niedersachsen neue Wege erprobt, wie Jugendliche gewaltfrei ihre Alltagssituationen bewältigen, ihre Freizeit kreativ gestalten und ihre Lebenskompetenz stärken können.

­ Derzeit bestehen schon 35 kommunale Präventionsräte. Es wird erwartet, dass bis Jahresende 60 kommunale Präventionsräte bestehen werden. Die kommunalen Präventionsräte werden durch den Landespräventionsrat koordiniert.

­ Derzeit fördert das Land in 58 von 61 Jugendamtsbezirken ambulante sozialpädagogische Maßnahmen (Uelzener Modell).

­ An 30 Standorten wird der Täter-Opfer-Ausgleich durchgeführt.

­ Aktionsprogramm zur Zusammenarbeit von Schule und Sportverein in Niedersachsen mit z. Z. über 1 300 Projekten.

Große Sorge bereiten solche Kinder und Jugendliche, die durch deviantes Verhalten auffällig werden. Nur durch ein Bündel von präventiven Maßnahmen kann zu positiven Entwicklungsmöglichkeiten auch dieser jungen Menschen beigetragen werden.

Vor diesem Hintergrund unterstützt der Landtag das Vorhaben der Landesregierung, sachgerechte Konzepte zu erarbeiten und diese mit allen Beteiligten abzustimmen. Die folgenden Vorschläge sind dabei zu berücksichtigen:

1. Schaffung von Zukunftsperspektiven Staat und Sozialpartner müssen die Schaffung von beruflichen Zukunftsperspektiven für die junge Generation als gemeinsame Herausforderung begreifen. Deshalb müssen sowohl durch Stärkung der Ausbildungsbereitschaft zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen als auch der weitere Weg in die Arbeitswelt durch flankierende Maßnahmen gesichert werden.

2. Sicherung von Bildungschancen

Zur Qualifizierung der Schule als Handlungseinheit sollen die Schulen Schulprogramme entwickeln, die die Schule als Erziehungs- und Bildungsraum in den Blick nehmen. Die Schulprogramme sollen durch eine interne und externe Evaluation begleitet und ausgewertet werden. Durch Prozesse der „Öffnung von Schule" insbesondere in das Gemeinwesen und eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule können gerade auch die Bildungschancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen verbessert werden.

Bildungspolitisches Ziel bleibt es auch, in diesem Erziehungs- und Bildungsraum Schule diejenigen Kinder zu halten oder durch geeignete Maßnahmen zu reintegrieren, deren Lebenssituation zu aggressivem oder delinquentem Verhalten geführt hat.

Ein genereller Ausschluß dieser Schülerinnen und Schüler aus der Grundschule, der Orientierungsstufe oder der Sekundarstufe I wird abgelehnt.

3. Erziehung zu Kompetenz und Verantwortung

Die Familie, die Schulen, alle anderen mit Erziehung und Ausbildung befaßten Gruppen und Institutionen sowie die Medien müssen in verstärktem Maße dazu beitragen, daß die Erziehung zu Grundwerten wie Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität, Gemeinsinn und Nächstenliebe sowie das Bekenntnis zum freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat wieder einen größeren Stellenwert in unserer Gesellschaft erhalten, als es derzeit der Fall ist. Die Vermittlung von Rechts- und Unrechtsbewußtsein muß eine zentrale Aufgabe auf allen Handlungsebenen sein. Auch die Erziehung zur Leistungsbereitschaft als Grundlage der materiellen Entwicklung und der sozialen Sicherheit in unserer Gesellschaft ist ein notwendiger Bestandteil dieses Erziehungsgedankens.

Verantwortungsvolle Jugend-, Familien-, Bildungs- und Medienpolitik hat diese Werteerziehung zu stärken und zu fördern.

4. Ausbau von Präventionsmaßnahmen Angesichts unterschiedlicher Verhältnisse vor Ort, z. B. hinsichtlich unterschiedlich hoher Anteile ausländischer Jugendlicher und Aussiedlerkinder, sind lokale Präventionskonzepte zur Verhinderung von Jugendkriminalität wohnortnah zu initiieren, zu fördern, landesweit zu koordinieren und zu vernetzen. Dabei sind kommunale Kinder- und Jugendhilfe, Kirchen, Vereine und Verbände, Schulen, lokale Medien, Polizei und Justiz einzubeziehen. Insbesondere Sportvereine haben hier eine wichtige Funktion.

Einen wichtigen Baustein für diese Zusammenarbeit bildet auch die veränderte Aus- und Fortbildung sowohl von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten als auch von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen und Lehrkräften. Das begonnene Modellvorhaben für eine projektorientierte und interdisziplinäre Ausbildung in der Fachhochschulausbildung der Polizei und der Sozialpädagogik in Hildesheim muss deshalb fortgeführt werden. Das gilt auch für die gemeinsame Fortbildung von Polizei und Lehrkräften in Braunlage.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Stärkung präventiver Ansätze ist die nachhaltige Unterstützung der sozialen Arbeit von Vereinen und Verbänden und ihres damit verbundenen ehrenamtlichen Engagements für die Gesellschaft.

5. Verbesserung der Reaktionsmöglichkeiten

Die Maßnahmen der Prävention müssen durch verbesserte Reaktionsmöglichkeiten ergänzt werden. Auch rechtswidriges Verhalten von Kindern darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.

­ Reaktionen müssen zeitnah und mit Bezug zum rechtswidrigen Verhalten erfolgen, damit ihr erzieherisches Ziel dem jungen Menschen noch erkennbar ist.

­ Familie, Schule und Jugendhilfe müssen in ihrem Erziehungsverhalten dahingehend qualifiziert werden, dass auffälliges Verhalten nicht hingenommen, sondern daß sofort entsprechend reagiert wird. Notwendig ist die Entwicklung einer „Kultur des Hinsehens" in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

­ ein Präventionsprogramm zur Ausweitung weiterer Präventionsmaßnahmen aufzulegen, mit dem lokale Präventionskonzepte entwickelt werden, die der gezielten Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten gerade auch für gefährdete junge Menschen dienen.

4 (Ausgegeben am 2. November 1998)

­ ein Interventionsprogramm im Rahmen der Hilfe zur Erziehung (§ 34 KJHG) zur intensiven pädagogischen und therapeutischen Förderung zu entwickeln, um Kinder, die durch hochgradig deviantes Verhalten auffällig werden, mit gezielten Angeboten der Jugendhilfe zu erreichen und aufzufangen.

Mit dem Interventionsprogramm ist nicht die Rückkehr in die traditionelle geschlossene Heimunterbringung, mit der die pädagogischen Ziele nicht erreicht worden sind, vorzusehen. Vielmehr sollen zeitlich befristete Maßnahmen zur Inobhutnahme von Kindern, die durch mehrfaches oder schwer rechtswidriges Verhalten auffällig geworden sind, als Krisenintervention verbunden werden mit mittel- und langfristigen Betreuungs- und Sozialisierungskonzepten, damit die im BGB vorgesehenen gerichtlichen Eingriffe in das Sorgerecht nicht faktisch ins Leere gehen.

Beide Programme sollen auch die Erfahrungen aus den Projekten „Youth at risk" zum Abbau von Erlebnisarmut bei Jugendlichen mit delinquentem Verhalten aufgreifen.

Antwort der Landesregierung vom 20. Oktober 1998

Präventionsprogramm

Das MK hat den Entwurf eines Programms entwickelt. Dazu erfolgt derzeit eine Bestandsaufnahme, inwieweit unter der Federführung der Kommunen und unter Mitwirkung aller mit der Prävention befassten Stellen, eine Verstärkung lokaler Präventionsschwerpunkte erfolgen kann. Bei den Überlegungen wird an die Zielgruppe aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in Niedersachsen gedacht. In diesem Zusammenhang wird geprüft, inwiefern gerade im Zusammenwirken von Schule und Jugendhilfe und in enger Kooperation mit der Justiz und der Polizei sozialpädagogische Konzepte gestärkt werden können.

Interventionsprogramm

Zur Entwicklung eines Interventionsprogramms befindet sich das MK am Beginn eines Abstimmungsverfahrens zur finanziellen Unterstützung zielgerichteter Hilfen und Angebote der Heimträger. Konzeptionelle Überlegungen werden dahingehend angestellt, dass unter Wahrung der originären Zuständigkeit der Kommunen Konzepte der Hilfen zur Erziehung für Kinder gestaltet werden können, die mit den bisherigen Bemühungen der Jugendhilfe nur schwer zu erreichen waren. Es wird dabei an die Zielgruppe einzelner Kinder bis 14 Jahre gedacht, die durch hochgradig deviantes und delinquentes Verhalten besonderer Unterstützung bedürfen.

Sobald über die nähere Ausgestaltung der Programme weitere Erkenntnisse vorliegen, wird dem Landtag erneut berichtet worden.