Entlassung von Sexualstraftätern mit Wiederholungsgefahr

Im Sommer 1998 mußte die Strafanstalt Straubing einen Sexualmörder nach Verbüßung seiner Haftstrafe entlassen, weil keine gesetzliche Möglichkeit bestand, ihn weiter in Haft zu behalten. Dies, obwohl ein Gutachten davon ausging, dass bei diesem Sexualstraftäter „erneut mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer ähnlichen Tat zu rechnen sei". Der Betroffene wurde auf Antrag des Gesundheitsreferates der Stadt München per Eilentscheidung des Münchner Amtsgerichtes erneut in die Psychiatrie zwangseingewiesen, um dort zu prüfen, ob von dem Entlassenen eine ständige Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.

Zuvor war der Mann nach seiner Haft rund um die Uhr von der Polizei observiert worden.

Ich frage die Landesregierung:

1. Sind in Niedersachsen ­ wenn ja: wie viele ­ ähnlich gelagerte Fälle vorhanden, wonach eine Entlassung von Sexualstraftätern bevorsteht, die nicht länger im Maßregelvollzug verbleiben können, obwohl eine negative Prognose besteht?

2. Wenn es ähnlich gelagerte Fälle gibt, beabsichtigt die Landesregierung nach einer Entlassung ebenfalls eine Rundumobservierung durch die Polizei vorzunehmen, oder wie soll das Risiko einer Wiederholungstat minimiert werden?

3. Sieht sie Möglichkeiten der Sicherheitsverwahrung?

4. Hält die Landesregierung das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 für ausreichend, um Straftaten von Tätern zu verhindern, die nach Verbüßung ihrer Strafe in Kenntnis ihrer Gefährlichkeit aus der Haft entlassen werden mußten?

Die Kleine Anfrage befasst sich mit der Sicherung der Gesellschaft vor Sexualstraftätern.

Dies gibt mir Anlass zu folgender Vorbemerkung:

Die Verhinderung jedweder Gewalttätigkeiten, namentlich auch der sexuellen Gewalt, in unserer Gesellschaft ist seit langem ein besonderer Schwerpunkt der Landesregierung.

Sie hat durch vielfältige Maßnahmen dazu beigetragen, Gewalt zu verhüten, sie zu verfolgen und ihre Folgen für die Opfer zu mildern.

Die wirksamste Form des Opferschutzes ist dabei die Verhinderung und die konsequente Ahndung von Straftaten. Die Landesregierung hat sich deshalb beispielsweise auf Bundesebene erfolgreich für eine spürbare Erweiterung des Sexualstrafrechts eingesetzt. Die Strafandrohung für Sexual- und Körperverletzungsdelikte sind verschärft worden. Die Entlassung von verurteilten Sexualstraftätern hat höhere Hürden gefunden, die Führungsaufsicht nach der Entlassung ist intensiviert worden, Gerichte können Sicherungsverwahrung neben und anstelle von Strafe leichter anordnen. Die Unterbringung von Sexualstraftätern in Sozialtherapeutischen Anstalten soll Rückfälle vermeiden helfen.

Durch das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz wird künftig die Aufklärung von Sexualund Gewaltstraftaten verbessert. Sogenannte genetische Fingerabdrücke von gefährlichen Straftätern werden genommen und stehen zum Vergleich mit Tatspuren bei künftigen Straftaten zur Verfügung.

Die Landesregierung hat sich darüber hinaus auch für weitere Reformen zur Verbesserung der Rechtsstellung missbrauchter und vergewaltigter Opfer eingesetzt. Mit maßgeblicher Unterstützung Niedersachsens ist das Zeugenschutzgesetz zustandegekommen, das am 1. Dezember 1998 in Kraft getreten ist. Danach wird es durch den Einsatz moderner Videotechnik künftig möglich sein, den Opfern mehrfache Zeugenvernehmungen im Verlauf eines Strafverfahrens zu ersparen und unter erleichterten Voraussetzungen einen anwaltlichen Opferbeistand beizuordnen.

Überall im Lande entstehen mit Unterstützung der Landesregierung Präventionsräte. In ihnen befassen sich Polizei, Justiz, kommunale und private Einrichtungen und Organisationen wie Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften mit den vielfältigen Möglichkeiten der Verbrechensvorbeugung, auch mit dem Schutz vor Sexualstraftaten.

Die Anfrage bezieht sich auf einen Strafrechtsfall aus dem Freistaat Bayern, der öffentliches Interesse gefunden hat. Der Bayerische Staatsminister der Justiz hat mir dazu mitgeteilt, dass der Straftäter, zur Tatzeit Heranwachsender im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes, wegen Vergewaltigung und Mordes unter Anwendung von Erwachsenenstrafrecht zur Höchststrafe von 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war (§ 106 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes ­ JGG). Nach vollständiger Verbüßung dieser Freiheitsstrafe wurde er am 31. Juli 1998 aus der Justizvollzugsanstalt entlassen. Da er ihm angebotene Therapien während des Strafvollzugs abgelehnt hatte und aufgrund einer fachpsychologischen Begutachtung als rückfallgefährdet galt, wurde gegen ihn anschließend die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Maßgabe des bayerischen Unterbringungsgesetzes angeordnet und mehrmals verlängert. Dies bestätigt meine Einschätzung, dass auf der Grundlage des geltenden Rechts ein hinreichender Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen kranken Menschen sichergestellt werden kann.

Dies vorausgeschickt beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1: Die Frage bezieht sich auf die Möglichkeit einer Entlassung von Sexualstraftätern aus dem Maßregelvollzug trotz negativer Prognose. Sie ist mit „Nein" zu beantworten. Denn nach § 67 d Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Maßregelvollzug, § 63 StGB) erst dann zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Das Gericht erklärt die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) erst dann für erledigt, wenn keine Gefahr mehr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird (§ 67 d Abs. 3 StGB). Bei einer ausdrücklich festgestellten Gefahr, einschlägig rückfällig zu werden, schließt das Gesetz mithin eine Entlassung eines gefährlichen Straftäters, auch eines Sexualstraftäters, aus dem Maßregelvollzug aus.

Wird hingegen ­ wie in dem in der Anfrage angesprochenen Ausgangsfall ­ ausschließlich Freiheitsstrafe verhängt, ohne dass daneben eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wird der Strafgefangene spätestens mit der vollen Verbüßung der verhängten Freiheitsstrafe entlassen.

Eine vorzeitige Entlassung unter Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ist nach § 57 Abs. 1 StGB nur möglich, wenn dies unter Berücksichtigung der Sicherungsinteressen der Allgemeinheit verantwortet werden kann.

In Niedersachsen ist bislang ein dem geschilderten bayerischen Ausgangsfall ähnlicher Sachverhalt bekannt geworden. Wegen psychischer Auffälligkeiten war ein Strafgefangener, der allerdings überwiegend wegen außerhalb der Sexualdelikte liegender Gewaltstraftaten verurteilt worden war, vorläufig stationär untergebracht und psychiatrisch untersucht worden, um seine möglicherweise fortbestehende Gefährlichkeit zwecks Entscheidung über eine an den Strafvollzug anschließende Unterbringung nach dem Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) sachverständig einzuschätzen. Nachdem das für die Entscheidung zuständige Gericht nach Durchführung einer Anhörung die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus mangels konkreter Gefährlichkeit des Strafgefangenen abgelehnt hat, ist er entlassen worden.

Zu 2: Der niedersächsischen Polizei stehen Rechtsinstrumente zur Verfügung, um einer vergleichbaren Gefahrenlage begegnen zu können. So gibt das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz zum Beispiel der Polizei nach einer richterlichen Anordnung das Recht, eine Person, bei der Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, längerfristig zu observieren, wenn die Vorsorge für die Verfolgung oder die Verhütung dieser Straftaten auf andere Weise nicht möglich erscheint. Die niedersächsische Polizei wird in einem ähnlich gelagerten Fall von diesem Recht Gebrauch machen.

Zu 3: Die Voraussetzungen, unter denen gegen einen Sexualstraftäter Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, ergeben sich insbesondere aus dem durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I, 160) neu in das Strafgesetzbuch eingefügten § 66 Abs. 3. Unter welchen Voraussetzungen das Gericht Sicherungsverwahrung anordnen muss, ist in § 66 Abs. 1 StGB geregelt.

Nach § 66 Abs. 3 ­ neu ­ StGB kann bei Sexualstraftätern Sicherungsverwahrung nunmehr unter deutlich herabgesetzten Voraussetzungen angeordnet werden. Satz 1 der Vorschrift erlaubt es dem Gericht, gegen rückfällige Sexual- und Gewaltstraftäter bereits dann Sicherungsverwahrung zu verhängen, wenn sie schon einmal wegen einer Katalogtat zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wurden, davon mindestens zwei Jahre verbüßt haben, sodann erneut wegen einer solchen Tat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt werden und sich daraus insgesamt der Schluss auf einen Hang zu erheblichen Straftaten ziehen lässt. Satz 2 lässt Sicherungsverwahrung sogar ohne vorangegangene Verurteilung zu, wenn der Täter zwei in Tatmehrheit zueinander stehende „Katalogtaten" begangen hat, er wegen dieser beiden Taten Freiheitsstrafe von jeweils mindestens zwei Jahren verwirkt hat und er deswegen zu insgesamt mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird.

Eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ist nach derzeitiger Rechtslage nicht möglich. Einem entsprechenden Gesetzesvorschlag des Freistaates Bayern vom 16. September 1997 (Bundesratsdrucksache 699/97) ist die damalige CDU-geführte Bundesregierung nicht gefolgt. Die Initiative ist im Bundesrat ebenfalls wegen schwerwiegender verfassungsrechtlicher und rechtssystematischer Bedenken gescheitert.

Der Bundesrat hat seine ablehnende Haltung wie folgt begründet (Beschluss vom 6. November 1998 ­ Bundesratsdrucksache 854/98): „Gegen den Gesetzentwurf sprechen schwerwiegende verfassungsrechtliche und rechtssystematische Einwände. Er ist zudem nicht geeignet, einen wirksamen Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu gewährleisten.

Sicherungsverwahrung ist für einen Straftäter nach der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe die gravierendste Sanktion, die ein Strafgericht verhängen kann. Der Entwurf schlägt vor, diese Rechtsfolge durch Beschluss im Wege eines Anhörungsverfahrens vor der Strafvollstreckungskammer nachträglich zu verhängen und damit die materielle und formelle Rechtskraft eines Strafurteils zu durchbrechen.

Dieses Verfahren unterläuft die rechtsstaatlichen Garantien der Strafprozessordnung über die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten. Dem Angeklagten werden die wichtigsten Garantien eines fairen Hauptverfahrens ­ mündliche und öffentliche Hauptverhandlung, die Beteiligung von Schöffen, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision gesicherte Beweisantragsrecht, die Pflichtverteidigung in der Hauptverhandlung ­ vorenthalten.

Auch wenn die Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Maßregel unabhängig von der Tatschuld zur Gefahrenabwehr erfolgt so bleibt sie doch Bestandteil des Strafverfahrens aufgrund einer konkreten Anlasstat. Die Abwehr von Gefahren, die von einem Täter allein aufgrund seiner psychischen Verfassung, ohne Anknüpfung an eine Anlasstat ausgehen, ist demgegenüber nicht Aufgabe der Strafjustiz sondern präventiv-polizeiliche Pflicht.

Der Entwurf bleibt zudem einen überzeugenden Beleg dafür schuldig, dass die Maßnahme die Gefahren für die öffentliche Sicherheit zu verringern geeignet ist.

Die grausamen Verbrechen der vergangenen Monate, auf die er Bezug nimmt, sind nicht von Tätern begangen worden, die nach Verbüßung ihrer Strafe in Kenntnis ihrer Gefährlichkeit aus der Haft entlassen werden mussten, sondern von Tätern, die sich durch unauffälliges und angepasstes Verhalten der Aufmerksamkeit der Vollzugsbediensteten entzogen hatten und/oder die sogar auf Bewährung entlassen worden waren.

Soweit in der Vergangenheit Gerichte durch die restriktive Fassung des § 66 StGB im Falle einer Erstverurteilung gehindert waren, trotz erkannter Gefahr eine Sicherungsverwahrung anzuordnen, ist dieser unbefriedigende Rechtszustand durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 bereits geändert worden. Die Beurteilung der Gefährlichkeit eines Täters bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 StGB bleibt Aufgabe des sachverständig beratenen Tatgerichts."

Ich teile diese rechtliche Bewertung des Bundesrates.

Zu 4: Das in der Anfrage genannte Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I, 160) und das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I, 164) enthalten umfangreiche Neuregelungen, die insgesamt dem Ziel dienen, Rückfalltaten einschlägig vorbestrafter Sexualstraftäter entgegenzuwirken. Für die Beurteilung der tatsächlichen praktischen Auswirkungen der Neuregelung ist es angesichts des erst kurzen Zeitraums seit Inkrafttreten derzeit noch zu früh. Ob weitere gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz vor Sexualstraftätern erforderlich sind, kann daher heute noch nicht abschließend beurteilt werden.