Anwendung des § 105 JGG in Niedersachsen

Nach der in den letzten Jahren zu beobachtenden richterlichen Praxis wird bei Verfehlungen Heranwachsender überwiegend Jugendstrafrecht angewandt. § 105 Abs. 1 JGG bestimmt jedoch, dass bei Verfehlungen Heranwachsender Jugendstrafrecht dann anzuwenden ist, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters ergibt, dass dieser zur Zeit der Tat in seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand oder wenn es sich um eine Jugendverfehlung handelt.

Auch der Gesetzgeber ging bei Schaffung des § 105 JGG davon aus, dass die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende die Ausnahme bilden würde. Jugendstrafrecht sollte demnach bei Heranwachsenden regelmäßig nur bei Entwicklungsstörungen Anwendung finden, während geistig und charakterlich normal entwickelte Heranwachsende nach Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen sind. Damit weicht die richterliche Praxis von der ursprünglichen Intention des § 105 Abs. 1 JGG ab.

Daher frage ich die Landesregierung:

1. Wie viele Heranwachsende wurden in den Jahren 1995, 1996, 1997 und 1998 in Niedersachsen strafrechtlich verurteilt?

2. In wie vielen Fällen (absolute Zahlen und prozentuale Zahlen) wurde dabei auf Heranwachsende das Jugendstrafrecht angewandt?

3. Gibt es nach Kenntnis der Landesregierung in der Handhabung des § 105 JGG ein Nord-Süd-Gefälle im Vergleich Niedersachsens zu den süddeutschen Ländern Bayern oder Baden-Württemberg und ebenso ein Stadt-Land-Gefälle, wie es die Fachliteratur annimmt (vgl. Eisenberg Kommentar zum JGG, 7. Auflage, § 105 Rn. 4)?

Nach § 105 des Jugendgerichtsgesetzes hat das Gericht bestimmte Vorschriften des Jugendstrafrechts entsprechend anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Niedersächsischer Landtag - 14. Wahlperiode Drucksache 14/946

Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung lässt sich dem Gesetz keine Vermutung für die grundsätzliche Anwendung des Erwachsenenstrafrechts entnehmen. Vielmehr soll jeder Heranwachsende der seinem geistigseelischen Reifegrad entsprechenden Behandlung zugeführt werden: Ist er bereits im Wesentlichen ausgeformt, dem Erwachsenenstrafrecht; sind bei ihm Entwicklungsdefizite vorhanden, dem Jugendstrafrecht. Diese Voraussetzungen muss das Gericht feststellen.

Nur wenn das Gericht nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten Zweifel nicht beheben kann, muss es die Sanktionen dem Jugendrecht entnehmen. In diesem Zusammenhang hat der Bundesgerichtshof es ausdrücklich als unzutreffend bezeichnet, die strafrechtliche Sonderbehandlung, die das Jugendstrafrecht kennzeichnet, als die durchweg mildere gegenüber der Regelung des allgemeinen Strafrechts anzusehen und daraus Folgerungen zu ziehen. Allerdings erfordere der das Jugendstrafrecht weit mehr als das allgemeine Strafrecht beherrschende Erziehungsgedanke, Heranwachsende im Zweifelsfall nicht von jener jugendgemäßen strafrechtlichen Behandlung auszuschließen, die für den jungen Menschen nicht nur in seinem Interesse, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit geschaffen ist und seiner Eigenart angepasste Erziehungsmaßnahmen gestattet (BGHSt 12, 116, 119). Die vom Gesetz den Gerichten anvertraute Einzelfallentscheidung ist zwangsläufig mit Unterschieden verbunden, die sich durchaus auch regional ausdrücken können, aber gleichwohl dem Einzelfall eher gerecht werden als eine schematische Behandlung. Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt:

Zu 1 und 2: Für die letzten Jahre weist die Strafverfolgungsstatistik des Landes Niedersachsen für Heranwachsende folgende Zahlen aus: Verurteilungen von Heranwachsenden nach allgemeinem Strafrecht nach Jugendstrafrecht insgesamt

Das Ergebnis der Strafverfolgungsstatistik 1998 liegt noch nicht vor.

Zu 3: a) Stadt-Land-Gefälle in Niedersachsen:

Die Strafverfolgungsstatistik für das Land Niedersachsen weist nur Landesergebnisse aus.

Aus dem Datensatz ließe sich allenfalls eine Regionalisierung nach den einzelnen Bezirken der Staatsanwaltschaften vornehmen. Jede Staatsanwaltschaft in Niedersachsen hat jedoch städtische und ländliche Regionen zu betreuen.

Ein Stadt-Land-Gefälle ließe sich mithin auch aus den Zahlen der einzelnen Staatsanwaltschaften nicht entnehmen.

b) Nord-Süd-Gefälle

Die Verhältnisse in den anderen Bundesländern können aus den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts entnommen werden (Fachserie 10 Reihe 3 Strafverfolgung 1995, 1996, 1997). Niedersächsischer Landtag - 14. Wahlperiode Drucksache 14/946

Für die alten Bundesländer ergeben sich folgende Zahlen: Verurteilungen von Heranwachsenden:

Für deutsche Verurteilte weichen die Zahlen leicht ab: Verurteilungen von deutschen Heranwachsenden:

Anderen Tabellen des Statistischen Bundesamtes sind die Zahlen der Verurteilungen jeweils differenziert nach Ländern und nach Altersgruppen zu entnehmen; eine Unterscheidung nach dem jeweils angewendeten Recht (Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht) wird jedoch nicht vorgenommen.

Für Bayern oder Baden-Württemberg liegen hier keine Zahlen vor.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass niedersächsische Gerichte bei Heranwachsenden häufiger Jugendrecht anwenden als der Durchschnitt der Gerichte in den anderen Ländern des früheren Bundesgebietes. Ergebnisse einzelner Länder lassen sich nicht feststellen.