Umfang und Formen der Schulverweigerung an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen

Nach wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Monate nimmt die Schulverweigerung („Schulabsentismus") insbesondere in Hauptschulen, Sonderschulen und berufsbildenden Schulen in den letzten Jahren deutlich zu.

Ich frage daher die Landesregierung:

1. Welche Erscheinungsformen des Schulabsentismus und der Schulverweigerung werden an den Schulen des Landes (aufgeschlüsselt nach Schulformen) registriert, und welche der nachfolgenden Ausprägungen sind den Schulaufsichtsbehörden dazu in den letzten drei Jahren bekannt geworden:

a) unentschuldigte Fehlzeiten

b) dauernde oder zumindest langwierigere (mehr als vierwöchige) Abwesenheitsphasen

c) Nichterscheinen bei Prüfungen

d) Bummelantentum (Verspätungen, Überziehen von Pausen, Fernbleiben in bestimmten Unterrichtsfächern)

e) Unterrichts- und Leistungsverweigerung trotz physischer Anwesenheit in der Schule?

2. Welche Ursachen sieht die Landesregierung für die von ihr registrierten Formen von Schulverweigerung, und welchen Einfluß hat nach ihrer Einschätzung insbesondere die Situation auf dem Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt für junge Leute?

3. Wie viele Ordnungswidrigkeitsverfahren sind durch die zuständigen Behörden 1998

(im Vergleich dazu auch 1993) im Lande mit welchen Ergebnissen eingeleitet worden?

4. Wie viele Zwangszuführungen zum Unterricht sind von den zuständigen Behörden im Jahre 1998 (im Vergleich dazu auch 1993) mit welchen Ergebnissen eingeleitet worden? Hält die Landesregierung das Instrument der Zwangszuführung für ein sinnvolles Instrument gegen Schulverweigerung?

5. Welche pädagogischen Instrumente und Verfahren hält sie für erforderlich, um sowohl präventiv als auch reaktiv einer steigenden Tendenz zur Schulverweigerung entgegenzuwirken, und welche Vorkehrungen hat sie getroffen (Erlasse, neue Unterrichtsformen, sozialpädagogische Begleitung schwieriger Schüler o. ä.), um dies zu unterstützen?

6. Sofern sie an der gegenwärtigen Schulpflichtregelung festhält: Welche Instrumente und evtl. Alternativen zur Schulpflichterfüllung werden z. Z. diskutiert, um Jugendliche stärker zum Schulbesuch oder ggf. zu verpflichtenden Alternativangeboten zu motivieren?

7. Wie viele Jugendliche haben im Schuljahr 1998/1999 von der Möglichkeit des § 67 Abs. 5 NSchG Gebrauch gemacht, und wie viele davon haben ihre Schulpflicht

a) in anerkannten Jugendwerkstätten,

b) in anderen Einrichtungen absolviert?

Welche Probleme haben sich dabei ergeben?

Jedes unentschuldigte Fernbleiben vom Unterricht ist eine Schulpflichtverletzung. Die Spannbreite dieses Fernbleibens führt in Wissenschaft und Praxis zu Problemen bei der Begriffsbestimmung (z. B. Schulverweigerung, Schulschwänzen, Absentismus). Ähnliches gilt bei Erhebungen und Auswertungen von ­ nicht immer vergleichbaren ­ statistischen Daten sowie bei Einschätzungen zum Handlungsvollzug der Schulen. Dies erschwert es, eindeutige Aussagen zu Umfang und Ausmaß des unentschuldigten Fernbleibens zu machen. Als wesentlichste Merkmale werden genannt

­ Schwänzen wegen Leistungsdrucks (z. B. bei Klassenarbeiten)

­ Schwänzen an Eckstunden

­ Tagesschwänzen (alleine oder in Gruppen)

­ Schwänzen von Volljährigen in der Oberstufe

­ Schwänzen als Aversion gegen „die Schule" oder eine Lehrkraft

­ sporadisches „Schwänzen" über längerfristiges Fernbleiben bis Dauerabwesenheit (z. B. der sog. Bahnhofskinder)

­ Schwänzen aus außerschulischen Anlässen

­ Eltern unterstützen Dauerbummelei oder kümmern sich nicht darum

­ Resignation wegen mangelnder Motivation und beruflicher Perspektivlosigkeit

­ Jobben zum Unterhalt oder zur Erhöhung des Taschengeldes.

Bei präventiven oder reaktiven Maßnahmen gegen unentschuldigtes Fernbleiben muss deshalb zunächst geklärt sein, welcher der Tatbestände in welchem Ausmaß vorliegt, ob pädagogisches Handeln hilfreich ist oder andere Reaktionen notwendig werden.

Abgesicherte Aussagen zum Spektrum unentschuldigten Fernbleibens oder zu schulformbezogenen Gewichtungen sind nicht möglich. Es gibt seit jeher in Niedersachsen

­ wie auch in anderen Bundesländern ­ keine landesweiten statistischen Daten zum unentschuldigten Fernbleiben. Die Lehrkräfte machen lediglich Eintragungen in Klassenbücher oder Kurshefte. Sie sind nicht berichtspflichtig. Schulen und Bezirksregierungen mussten deshalb für die Beantwortung dieser Anfrage auf Erfahrungen und globale Einschätzungen zurückgreifen.

Dabei gehen die Bezirksregierungen und Schulen gegenüber den Vorjahren von einer Zunahme unentschuldigten Fernbleibens aus.

Offenbar beeinflussen vor allem außerschulische Faktoren das unentschuldigte Fernbleiben.

Dazu zählen beispielsweise:

1. Einstellungen des Elternhauses oder einzelner Ausbildungsbetriebe (Gleichgültigkeit gegenüber den Jugendlichen oder gezieltes Unterstützen ihres Fehlverhaltens)

2. Wertigkeit der Schulpflicht gegenüber anderen Pflichten oder Angeboten

3. subjektiv eingeschätzte und tatsächlich bestehende Perspektivlosigkeit zu Ausbildungs- und Berufschancen

4. Jobangebote für dauerhafte oder kurzfristige Arbeit (z. B. bei Messen)

5. Psychische Probleme, Drogen-, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch.

Schulen können - so auch die Wissenschaft - verstärkend wirken, etwa wenn Kinder oder Jugendliche die Schule als Ort des Versagens erleben oder wenn sie von Mitschülerinnen und Mitschülern oder Lehrkräften gehänselt oder gemieden werden. Generell sind Schulen aber nicht primäre Auslöser für unentschuldigtes Fernbleiben.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die einzelnen Fragen wie folgt:

Zu 1: Alle in der Frage genannten Erscheinungsformen sind bekannt. Als besondere Ausprägungen werden von einer der vier Bezirksregierungen das eigenmächtige Verlängern der Schulferien und Arztbesuche während der Unterrichtszeit genannt.

Eine andere Bezirksregierung beobachtet zunehmende Fehlzeiten am Ende des Schuljahres bei Hauptschulen und Schulen für Lernhilfe sowie bei einzelnen berufsbildenden Schulen (Berufsvorbereitungsjahr; Berufsgrundbildungsjahr, um die Chancen für eine Ausbildung ­ ohne Anrechnung des Schuljahres ­ zu erhöhen; Berufsfachschulen, die keinen schulischen Abschluss voraussetzen). Gründe dafür seien insbesondere die im Vorspann unter 3. genannten Faktoren. Die genannten Beobachtungen lassen sich jedoch weder regional noch schulformbezogen so zuordnen, dass keine Aufschlüsselung nach Schulformen möglich ist.

Zu 2: Die Ursachen der verschiedenen Formen unentschuldigten Fernbleibens wurden bereits im Vorspann benannt. Zum Einfluss der Ausbildungs- und Berufschancen wird verwiesen auf die Antwort zu Frage 1.

Zu 3: Vergleichbare Daten aus den Jahren 1993 und 1998 liegen nicht vor. Aus dem deshalb lückenhaften Material wird dennoch eine Zunahme der eingeleiteten Bußgeldverfahren erkennbar. Dabei kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass 1998 die Bereitschaft einzelner Schulen zur Meldung zugenommen hat. 1998 wurden von den Schulen mindestens 6397 Anträge für ein Bußgeldverfahren gestellt, 2982 Bußgeldbescheide wurden erteilt.

Werden Bußgelder nicht bezahlt, so praktizieren einzelne Behörden erfolgreich Vereinbarungen für einen sozialen Dienst als Arbeitseinsatz gem. § 98 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG). Hierzu bedarf es der Entscheidung der Gerichte.

Zu 4: Aus den bekannten Daten (Problem wie bei Frage 3) ist zu entnehmen, dass 1998 mindestens 59 Zwangszuführungen erfolgt sind. Für 1993 liegen keine Vergleichsdaten vor.

Zwangszuführungen werden von den zuständigen Behörden unterschiedlich gehandhabt.

Einige verzichten ganz auf zwangsweise Zuführungen, da diese pädagogisch untauglich seien und zahlreiche Jugendliche die Schule sogleich wieder verlassen würden.