Neofaschistische Aktivitäten der „Stahlhelm"-Organisation in Niedersachsen

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN) Landesvereinigung Niedersachsen e. V. hat mit Schreiben vom 11. November 1999 die Fraktionen und Abgeordneten des Landtages auf die Aktivitäten der neofaschistischen Organisation „Stahlhelm e. V. - Bund der Frontsoldaten/Kampfbund für Europa" aufmerksam gemacht.

Das Zentrum dieser Organisation befindet sich in Niedersachsen in Jork im sogenannten Franz-Seldte-Haus. Bei Franz Seldte handelte es sich um den Begründer des antidemokratischen Stahlhelmes im Jahr 1918. Er gehörte später der NSDAP-Reichsregierung als Arbeitsminister an.

In Jork wird durch den Stahlhelm-Chef Günter Drückhammer und dessen Sohn Kai-Uwe Drückhammer ein Schulungszentrum unterhalten, dem auch ein Gelände für Wehrsportübungen angeschlossen sein soll. Das „Hamburger Abendblatt" berichtet in seiner Ausgabe vom 6. November 1999 über die Aktivitäten der Gruppe. In dem Bericht wird u. a. Oberstaatsanwalt Helmut Bleh von der Staatsanwaltschaft in Kaiserslautern zitiert, der sich über eine mangelnde Zusammenarbeit mit den Polizeidienststellen in Niedersachsen beklagt. Im Bericht wird er mit den Worten zitiert: „Es ist nicht mehr nachvollziehbar, warum damals die Polizei in Stade nicht über unsere Ermittlungen informiert wurde".

Und weiter heißt es in dem Bericht: „Folge solcher Pannen ist, dass die Bundesführung des Stahlhelms in Jork ein geradezu idyllisches Leben genießen kann".

Die VVN weist darauf hin, dass die „Stahlhelm"-Organisation als zutiefst antidemokratisch und gewaltbereit einzuschätzen sei. So habe die Polizei bei Hausdurchsuchungen in Rheinland-Pfalz bei Mitgliedern dieser Gruppe Maschinenpistolen, Gewehre, Minen, Sprengstoffe und weitere Schusswaffen gefunden. Die Gruppe wird vom Bundesinnenminister in Beantwortung einer Anfrage der PDS-Bundestagsfraktion wie folgt beschrieben: „Der Stahlhelm ist eine rechtsextremistische Gruppierung, deren ideologische Ausrichtung insbesondere von nationalistisch-völkischem, antisemitischem und revisionistischem Gedankengut geprägt ist." Günter Drückhammer fordert die „Rückgliederung" von großen Teilen Polens, Österreichs, Tschechiens und Litauens in ein neues deutsches Reich und bezeichnet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als „von den Siegermächten aufoktroyiert".

Dass diese Ziele von dem Verband nicht nur verbal, sondern auch ausgesprochen militant angestrebt werden, beweisen nicht nur die beschlagnahmten Kriegswaffen, sondern auch die „Wehrsportübungen". So wurde laut einem Bericht des „Buxtehuder Tagesblattes" am 15. Mai 1999 ein Pfingstbiwak abgehalten, an dem sich Kinder aus dem Norden beteiligten. Unter anderem mussten die Kinder in Kriegspielen die „Reichsfahne erobern und verteidigen".

Ich frage die Landesregierung:

1. Welche politischen Ziele verfolgt nach ihren Erkenntnissen der „Stahlhelm"?

2. Mit welchen Mitteln will der „Stahlhelm" seine politischen Ziele durchsetzen?

3. Wie schätzt die Landesregierung die Gewaltbereitschaft der Führer dieser Organisation ein?

4. Welche Aktivitäten des „Stahlhelms" hat es in Niedersachsen in den Jahren seit 1995 gegeben?

5. Welche Maßnahmen ergreift der „Stahlhelm", um Kinder im Sinne seiner antidemokratischen Ideologie zu indoktrinieren?

6. Hält es die Landesregierung für hinnehmbar, dass der „Stahlhelm" in Veranstaltungen wie dem sogenannten Pfingstbiwak Kinder und Jugendliche militärisch ausbildet und zum militanten Hass gegen anders Denkende erzieht?

7. Wie konnte es zu den vom Kaiserslauterner Oberstaatsanwalt geschilderten Abstimmungsproblemen mit den niedersächsischen Polizeidienststellen kommen?

8. Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um eine Fortsetzung der neofaschistischen Aktivitäten des „Stahlhelms" in Niedersachsen zu unterbinden?

9. Wie will sie sicherstellen, dass es nicht wieder in Jork zu paramilitärischen Aktivitäten wie dem sogenannten Pfingstcamp mit Kindern und Jugendlichen kommt?

10. Was will sie unternehmen, um dieser antidemokratischen und gewaltbereiten Organisation dauerhaft die Fortsetzung ihrer Tätigkeit unmöglich zu machen?

Die Landesregierung ist auf die Existenz und die Aktivitäten der rechtsextremistischen Gruppierung „Der Stahlhelm e.V. - Bund der Frontsoldaten - Kampfbund für Europa" ­ nachfolgend als „Stahlhelm" bezeichnet -, seiner 1983 gegründeten „Ortsgruppe Jork" und des 1997 hieraus hervorgegangenen „Landesverbandes Niedersachsen" keinesfalls erst durch die in der Kleinen Anfrage bezeichnete Initiative der VVN-BdA aufmerksam geworden.

Seit 1992 hat das Innenministerium in seinen jährlichen Verfassungsschutzberichten auf die auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln gewonnenen Erkenntnisse über Strukturen, Ziele und Aktivitäten dieser Organisationen hingewiesen. Das Innenministerium, das seine Entschlossenheit im Kampf gegen rechtsextremistische Aktivitäten auch mit der Maßnahme eines Vereinsverbots in mehreren Fällen unmissverständlich verdeutlicht hat (vgl. zuletzt Heide-Heim/Hetendorf), ist entsprechenden Überlegungen auch in Bezug auf die damalige Ortsgruppe Jork des „Stahlhelm" nachgegangen. Bereits ab Juli 1993 ist ein Verbot der Ortsgruppe geprüft worden. Mit Erlass vom 27.06.1994 musste diese Prüfung aber mit dem Ergebnis abgeschlossen werden, dass kein ausreichender Anlass für ein Vereinsverbot vorlag, nachdem auch bei einer am 20.07.1993 durchgeführten polizeilichen Hausdurchsuchung nach § 4 VereinsG keinerlei Belastungsmaterial gefunden werden konnte, das die Verdachtsmomente erhärtet oder gar ein Vereinsverbot gerechtfertigt hätte. Gemäß § 3 des Vereinsgesetzes ist ein Vereinsverbot bekanntlich mit einer hohen Eingriffsschwelle verbunden.

Der Bundesverband des „Stahlhelm" ist im Vereinsregister beim Amtsgericht Düsseldorf eingetragen. Er gliedert sich laut Vereinssatzung in Landesverbände und Gaue, denen danach wiederum Kreisverbände, Ortsgruppen und Stützpunkte untergeordnet sind. Die Zahl der Mitglieder des Bundesverbandes beläuft sich zur Zeit auf ca. 120 Personen. Von den drei bekannten Landesverbänden Pfalz, Niedersachsen und Saar hat der Landesverband Pfalz mit ca. 60 bis 70 Personen die größte Mitgliederzahl. Der „Stahlhelm" in Nie dersachsen verfügt derzeit über etwa 25 Mitglieder. Weiterhin existieren in Bayern einige „Stahlhelm" Ortsgruppen, jedoch ohne den Überbau eines Landesverbandes.

Seit 1998 versucht der „Stahlhelm" sich auch Kindern und Jugendlichen zu öffnen. Hierzu hat er Unterorganisationen wie den „Scharnhorst-Bund deutscher Jungen und Mädel" sowie den „Spielkreis" für Kinder bis 12 Jahren gebildet, denen nach derzeitigem Erkenntnisstand ca. 10 Jugendliche bzw. Kinder aus dem Kreis der Funktionäre und Anhänger angehören sollen.

Der niedersächsische Verfassungsschutz beobachtet diese Entwicklung mit besonderer Aufmerksamkeit. Das Innenministerium prüft aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse fortlaufend die rechtlichen Möglichkeiten exekutiven Einschreitens. Die Erkenntnisse werden insbesondere nach Maßgabe des Vereinsgesetzes - unabhängig von einer festzustellenden Bundes- oder Landeszuständigkeit für ein mögliches Vereinsverbot - einer eingehenden Prüfung unterzogen.

Dies vorausgeschickt nehme ich zu den einzelnen Fragen wie folgt Stellung:

Zu 1: Der „Stahlhelm " verfolgt als oberstes Ziel die Wiederherstellung des „Deutschen Reiches" (in den Grenzen des nationalsozialistischen „Großdeutschen Reiches") und die „Wehrhafterhaltung" der deutschen Jugend. Weitere Ziele sind: Aufklärung gegen die von Rechtsextremisten so genannte Umerziehung und Geschichtsklitterung, Erhaltung und Förderung des deutschen Soldatentums, der „Stahlhelm" ist gegen ein „MischmaschEuropa der Multiunkultur" und strebt ein Europa der Vaterländer an. In seinem Sprachgebrauch wird eine Überbetonung und Verherrlichung „deutschen Soldatentums" und dessen kritiklose Glorifizierung sowie eine Negierung der Legitimität demokratischer Entscheidungen deutlich. Insgesamt ist die ideologische Ausrichtung von nationalistischvölkischem, antisemitischem und revisionistischem Gedankengut geprägt.

Zu 2: Die Aktivitäten der „Stahlhelm"-Mitglieder waren bisher im Wesentlichen binnenorientiert, d. h. sie beschränkten sich auf organisationsinterne Appelle, wehrsportähnliche Übungen, Besichtigungsfahrten zu militärhistorischen Stätten, Gedenk- und Sonnenwendfeiern. Anders als bei den auf Öffentlichkeitswirksamkeit ausgerichteten rechtsextremistischen Parteien und neonazistischen Organisationen ist hier eine nach außen gerichtete Agitation bislang kaum erkennbar gewesen.

Die Äußerungen des Vereins im zweimonatlich erscheinenden Vereinsorgan „Der Stahlhelm" wenden sich in erster Linie an die Mitglieder und sind - da auch kaum öffentlich verbreitet - weniger auf Außenwirkung bedacht.

Für ein militantes Anstreben seiner politischen Ziele durch den „Stahlhelm"Landesverbandes Niedersachsen gibt es keine unmittelbaren Erkenntnisse, auf die sich die in der Kleinen Anfrage erhobene Behauptung der Beschlagnahme von Kriegswaffen stützen könnten. Bekannt sind in diesem Zusammenhang zwei Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des „Stahlhelm"-Landesverbandes Niedersachsen wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz, da Zeugen im Vereinsheim drei Luftgewehre und ein Kleinkalibergewehr gesehen haben wollen. Die Beschlagnahme von Kriegswaffen kann jedoch nicht bestätigt werden.

Zu 3: Zur Einschätzung der betreffenden Organisation wird zunächst auf die Vorbemerkung und die Antworten zu den Fragen 1 und 2 Bezug genommen. Die Gewaltbereitschaft der in Niedersachsen ansässigen Funktionäre des Vereins wird derzeit als nicht bedrohlich angesehen. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Mitglieder dieser Organisation aus individuellen Gründen die Grenze zur Gewaltdelinquenz spontan überschreiten.