Tötung des bulgarischen Asylbewerbers Dr. Zdravko Nikolov Dimitrof durch ein Sondereinsatzkommando der niedersächsischen Polizei

Bei dem Versuch, den bulgarischen Asylbewerber Dr. Zdravko Nikolov Dimitrof am 10. Dezember 1999 in seiner Wohnung in Braunschweig in Abschiebehaft zu nehmen, wurden von einem Polizeibeamten des Sondereinsatzkommandos lebensgefährliche Schüsse auf Dr. Nikolov abgegeben, die am 21. Dezember 1999 zum Tode führten.

Dr. Nikolov befand sich im Asylfolgeverfahren. Noch in den ersten Dezembertagen soll er ein Schreiben des Verwaltungsgerichtes Braunschweig erhalten haben, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass die Stadt Braunschweig nicht auf einer zwangsweisen Vorführung zum Amtsarzt bestehen wolle. Solange die Frage der Suizidgefahr im Raume stehe, kämen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung nicht in Frage. Die Ergebnisse des Verwaltungsgerichtsverfahrens müssten abgewartet werden.

Die Suizidgefahr des Dr. Nikolov ging auf Misshandlungen und Folterungen durch die bulgarische Polizei und Ärzte in einem psychiatrischen Gefängnis im Jahr 1992 zurück.

Dies war den Behörden bekannt, sie ordnete eine amtsärztliche Untersuchung an, zu der Dr. Nikolov wiederholt nicht erschien. Er war erfüllt von einer tiefsitzenden Angst, „für verrückt erklärt und in eine Anstalt eingewiesen zu werden", wie Nikolof wörtlich gegenüber Zeugen erklärte. Vor dem Hintergrund der Folter- und Psychiatrisierungserfahrungen in Bulgarien misstraute er den staatlich bestellten Medizinern. Zu den Ärzten des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin fand er Vertrauen. Das Behandlungszentrum für Folteropfer empfahl aufgrund der dort vorliegenden Kenntnisse in einem Schreiben an die Ausländerbehörde, auf eine Untersuchung durch amtliche Ärzte zu verzichten, „weil hierdurch ein Kern der Traumatisierung erneut aufbrechen kann". In gleichem Schreiben boten sie sich als Ärzte des Vertrauens zu einer eingehenderen Exploration an.

Trotz der eindeutigen Positionierung der Ärzte gegen jegliche Zwangsmaßnahmen und zahlreicher Warnungen von Einzelpersonen und Verbänden wurde durch die Ausländerbehörde Braunschweig sowohl die Abschiebung als auch die zwangsweise Vorführung beim Amtsarzt beantragt.

Obwohl dieser Sachverhalt behördenbekannt war und auch den zuständigen Polizeibehörden die besonderen Umstände des Falles nicht unbekannt sein konnten, kam es zu dem nach Presseberichten „mit äußerster Härte" durchgeführten Polizeieinsatz. Dieser Einsatz endete mit den tödlichen Schüssen auf Dr. Nikolov.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Wie beurteilt sie den Abschiebeversuch vor dem Hintergrund, dass Dr. Nikolov sich im laufenden Asylfolgeverfahren befand und ihm noch Anfang Dezember 1999 vom Verwaltungsgericht Braunschweig mitgeteilt wurde, dass, solange die Suizidgefahr im Raume stehe, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen werden solle?

2. Wie beurteilt sie die versuchte Abschiebung vor dem Hintergrund, dass sie in Kenntnis einer Reihe von in Monaten zuvor vorgelegten Attesten zur Suizidalität des Dr. Nikolov und seiner Traumageschichte angeordnet wurde?

3. Wieso bestand die Ausländerbehörde Braunschweig auf einer amtsärztlichen Untersuchung, obwohl mehrere Gutachten und Stellungnahmen Dr. Grässners vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin und des behandelnden Internisten vorlagen? Falls Zweifel an der Glaubwürdigkeit bestanden, warum wurden sie nicht formuliert?

4. Wann und von wem sollte die zwangsweise amtsärztliche Untersuchung des Dr. Nikolov in der Abschiebehaft durchgeführt werden? Warum wurde von der Ausländerbehörde Braunschweig keine zwangsweise Vorführung in das städtische Gesundheitsamt angeordnet? Ist eine Änderung der Praxis der Untersuchung durch Amtsärzte der Gesundheitsämter geplant?

5. Wann und von wem wurde der Auftrag zur Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen erteilt?

6. War der Amtsleiter der Ausländerbehörde Braunschweig während des Einsatzes vor Ort, war er in telefonischem Kontakt zu den Einsatzkräften, und inwieweit hat er die Braunschweiger Polizei über die psychische Verfasstheit Dr. Nikolovs und die Warnungen ärztlicherseits informiert?

7. Welche Vorbereitung durch die Polizeiführung hat es für die eingesetzten Beamten auf diesen konkreten Einsatz gegeben? Welche Informationen über die Hintergründe dieses Falles lagen den eingesetzten ortsfremden SEK-Beamten vor?

8. Zu welchem Zeitpunkt und auf welcher Grundlage wurde das SEK mit wie vielen Einsatzkräften und mit welchem Auftrag aus Hannover herbeigerufen?

9. Warum waren die SEK-Beamten nicht mit einer speziellen Schutzweste, die auch vor Messerstichen schützt, ausgerüstet?

10. Welche Einsatzmittel wurden in welcher Reihenfolge während des gesamten Polizeiund SEK-Einsatzes eingesetzt?

11. Wurden die Schüsse von dem angeblich durch Messerstiche bedrohten Beamten oder von einem anderen Beamten abgegeben, und welche Munition wurde verwendet?

Welche Alternativen hätten bestanden?

12. Wie erklärt die Landesregierung, dass die angeblich in Notwehrsituation abgegebenen Schüsse nicht so abgegeben wurden, dass es lediglich zu leichteren, nicht lebensgefährdenden Verletzungen des Asylbewerbers gekommen wäre?

13. Gab es nach ihren Erkenntnissen in der konkreten Situation für die Einsatzkräfte keine andere Möglichkeit, als den Asylbewerber durch Schusswaffeneinsatz tödlich zu verletzen?

14. Hält sie die Abschiebungsanordnung und den SEK-Einsatz zur Durchsetzung der Abschiebung Dr. Nikolovs für rechts- und verhältnismäßig?

15. Wann wurde die Ausländerbehörde Braunschweig vom Tod Dr. Nikolovs informiert?

16. Stand die Ausländerbehörde der Stadt Braunschweig während des Krankenhausaufenthaltes mit dem Klinikum in Kontakt? Falls ja, weshalb hat die Verwaltung des Krankenhauses die PDS-Bundestagsabgeordnete Heidi Lippmann von seinem Tod in Kenntnis gesetzt und bei ihr angefragt, wer die Kosten für die Behandlung übernehmen würde?

17. Wer hat die Kosten für die ärztliche Behandlung und für die Beerdigung übernommen?

18. Sind die niedersächsischen Ausländerbehörden zur amtsärztlichen Überprüfung fachärztlicher Atteste verpflichtet, und über welchen Ermessensspielraum verfügen sie in der Entscheidung über ein fachärztlich festgestelltes Abschiebungshindernis? Welche Weisungen gibt es zur amtsärztlichen Untersuchung an die kommunalen Ausländerbehörden?

19. Wie oft ist das SEK in Niedersachsen seit 1995 zur Durchsetzung von Abschiebungen eingesetzt worden? (Angaben aufgeschlüsselt nach Einsätzen, Einsatzorten und Verläufen)

Wie oft wurden seit 1995 Schusswaffen bei der Durchführung von Abschiebungen eingesetzt, wie viele Flüchtlinge wurden dabei verletzt, wie viele starben in Folge ihrer Verletzungen? (Angaben aufgeschlüsselt nach Einsatzorten und Einsatzkräften)

21. Erwägt die Landesregierung einen Abschiebeschutz für traumatisierte und suizidgefährdete Flüchtlinge und Folteropfer?

22. Wird sie Maßnahmen zum Schutz für Folteropfer und suizidgefährdete Flüchtlinge ergreifen, und wird es diesbezügliche Anweisungen an die kommunalen Ausländerbehörden geben?

23. Gibt es Überlegungen zur Einrichtung eines Behandlungszentrums für Folteropfer in Niedersachsen, wenn nein, warum nicht?

24. Welche psychologischen und therapeutischen Hilfen werden traumatisierten Folteropfern und suizidgefährdeten Asylbewerbern nach § 4 und ggf. § 6 AsylbLG in Niedersachsen gewährt, und wer entscheidet über die Gewährung? An welche Einrichtungen können sich Folteropfer und suizidgefährdete Asylbewerber in Niedersachsen wenden?

25. Hätte aus der Sicht der Landesregierung der Tod Dr. Nikolovs vermieden werden können?

26. Welche Anstrengungen wurden unternommen, um die in Bulgarien lebenden Eltern des Dr. Nikolov über den Tod ihres Sohnes zu informieren? Falls der Kontakt noch nicht hergestellt wurde, welche Maßnahmen sind diesbezüglich angedacht?

Am 10. Dezember 1999 wurde in Braunschweig, Ackerstr. 38, der bulgarische Asylbewerber Dr. Zdravko Dimitrov (Nikolov) durch einen Schusswaffengebrauch des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Niedersachsen bedauerlicherweise so schwer verletzt, dass er infolge dieser Verletzungen am 21. Dezember 1999 verstarb.

Herr Dr. Dimitrov ­ ein mazedonischer Volkszugehöriger aus Bulgarien ­ war am 1. Oktober 1993 mit einem in Sofia ausgestellten Visum der Deutschen Botschaft zu Studienzwecken nach Deutschland eingereist. Er nahm auf der Basis eines Stipendiums des Deutschen-Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ein Studium an der Technischen Universität Braunschweig auf und erhielt von der zuständigen Ausländerbehörde der Stadt Braunschweig zu diesem Zweck eine Aufenthaltsbewilligung. Zweieinhalb Monate vor Ablauf der Aufenthaltsbewilligung stellte Herr Dr. Dimitrov einen Asylantrag, der vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 21. April 1995 abgelehnt wurde.