Rückgang der Heil- und Hilfsmittel-Verordnungen in Niedersachsen

Trotz Steigerung des Budgets für Heil- und Hilfsmittel ist dieses Budget in Niedersachsen wahrscheinlich um mehr als 6 % erneut überschritten worden. Dennoch berichten Heilmittelerbringer und Patienten, dass medizinisch notwendige Massagen, Krankengymnastik und logopädische Behandlungen verweigert werden. Sie führen dies auf ein zurückhaltendes Verschreibungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte zurück, die fürchten, bei Überschreiten der Richtgrößen in Regress genommen zu werden. Tatsache ist, dass Menschen keine Hilfen erhalten, mit denen sie eine Krankheit entweder heilen oder verhüten oder eine Verschlimmerung vermeiden können.

Wir fragen die Landesregierung:

1. In welchem Umfang hat sich das Budget im Hilfs- und Heilmittelbereich erhöht, und in welchem Umfang ist eine Überschreitung abzusehen?

2. Hat die Landesregierung Erkenntnisse darüber, dass bereits Anfang Januar Ärztinnen und Ärzte mit Hinweis auf das Budget notwendige Therapien nicht mehr verschrieben haben?

3. Kann sie mit aufsichtsrechtlichen Maßnahmen sicherstellen, dass alle Patienten, die physiotherapeutische Maßnahmen oder andere Heil- und Hilfsmittel benötigen, diese auch erhalten?

4. Wie hat sich die Anzahl von Physiotherapeuten pro Einwohner in Niedersachsen in den letzten zehn Jahren verändert?

5. a) Trifft es zu, dass die Verordnungen von Physiotherapien in der Kassenärztlichen Vereinigung von Niedersachsen im Vergleich zu anderen KV-Bezirken im Bundesgebiet (alte Länder) prozentual und auf den Versicherten bezogen deutlich zurückgegangen sind?

b) Hat die Landesregierung Erkenntnisse darüber, dass insbesondere im westniedersächsischen Bereich die Situation besonders dramatisch ist, da hier die Verordnungen angeblich bis zu 80 % zurückgegangen sein sollen?

6. Falls dies zutrifft, auf welche Ursachen führt sie diese Abweichung in Niedersachsen von der bundesdurchschnittlichen Entwicklung zurück?

7. Ist diese Entwicklung bei allen Krankenkassen erkennbar, und auf welche Ursachen führt sie dies zurück?

8. Ist eine Verlagerung auf die ambulante Rehabilitation erkennbar, wenn ja, mit welcher Ausgabendynamik?

9. Erfolgt eine vergleichbare Entwicklung bei den anderen Heilmitteln?

10. Machen Ärztinnen und Ärzte nach Kenntnis der Landesregierung von der Möglichkeit Gebrauch, bei medizinischer Notwendigkeit und entsprechender Patientenstruktur Richtgrößen mit Hinweis auf Praxisbesonderheiten überschreiten zu können, um somit Regresse abzuwenden?

§ 84 SGB V bildet die Grundlage für die Vereinbarung von Budgets und Richtgrößen im Arznei-, Verband- und Heilmittelbereich. Die Bestimmung enthält zugleich die Verpflichtung der Vertragspartner auf regionaler Ebene, derartige Vereinbarungen abzuschließen. Richtgrößen und Budgets bezwecken die Steuerung des Ausgabenvolumens im Verordnungsbereich und sind somit Teil des Instrumentariums zur Sicherung der Beitragssatzstabilität.

Ungeachtet dessen haben Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf Versorgung mit medizinisch notwendigen Arznei-, Verband- und Heilmitteln. Deren Verordnung auf Kassenrezept darf vom Arzt nicht verweigert werden, soweit die Mittel zur Behandlung medizinisch erforderlich sind. Insbesondere darf die Verordnung nicht mit der Begründung verweigert werden, dass das Arzneimittelbudget erschöpft oder die Richtgröße überschritten seien.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die einzelnen Fragen wie folgt:

Zu 1: Hilfsmittel unterliegen keiner Budgetierung.

Für Heilmittel existiert kein eigenständiges Budget. Es geht im Arznei-, Verband- und Heilmittelbudget auf. Dieses wurde in Niedersachsen 1999 nach den Vorgaben des GKVSolG um 7,5 Prozent auf insgesamt 3,726 Mrd. DM erhöht.

Nach vorläufigen Berechnungen liegt eine Überschreitung vor. Eine definitive Aussage zur Höhe der Überschreitung des Budgets für 1999 kann erst bei Vorliegen der entsprechenden Daten der Krankenkassen getroffen werden. Dieses wird voraussichtlich im Sommer d. J. der Fall sein.

Für das Jahr 2000 wurde noch kein Arznei-, Verband- und Heilmittelbudget vereinbart.

Zu 2: In Einzelfällen ist es aufgrund von Eingaben von Versicherten und Leistungserbringern zu Überprüfungen des Verordnungsverhaltens von Vertragsärzten durch die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) gekommen. Soweit die Beschwerdeführer dem Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales Namen von Ärztinnen und Ärzten genannt haben, sind die Beschwerden der KVN zur Prüfung und Stellungnahme übermittelt worden.

Einer Presseverlautbarung des VDB-Physiotherapieverbandes zufolge soll es im Januar 2000 zu einem bundesweiten Rückgang der Verordnungen gekommen sein, wobei insbesondere die negative Entwicklung in anderen Bundesländern herausgestellt wurde. Konkrete Daten für Niedersachsen liegen nicht vor.

Zu 3: Der Landesregierung stehen keine rechtsaufsichtlichen Mittel gegenüber einer Vertragsärztin oder einem Vertragsarzt zur Verfügung. Allerdings führt das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales gemäß § 78 Abs. 1 SGB V die Aufsicht über die KVN und ist Aufsichtsbehörde gemäß §§ 86, 87 des Kammergesetzes für Heilberufe (HKG) für die Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN).

Die KVN kann im Rahmen des § 81 Abs. 5 SGB V i.V.m. der satzungsmäßigen Disziplinarordnung Maßnahmen gegen ihre Mitglieder verhängen, die ihre vertragsärztlichen Pflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllen.

Die Ärztekammer Niedersachsen wacht gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 HKG über die Einhaltung der Berufspflichten der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte. Diese sind als Pflichtmitglieder der ÄKN nach § 33 Abs. 1 HKG verpflichtet, ihren Beruf gewissenhaft auszuüben. Näheres regelt die Berufsordnung ÄKN.

Wird bekannt, dass ein Kammermitglied eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst gebotene medizinische Maßnahme verweigert, so hat die Kammer nach § 74 Abs. 1 HKG die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Hält die Kammer nach dem Ergebnis der Ermittlungen das Kammermitglied eines Berufsvergehens für hinreichend verdächtig, so kann sie bei dem Berufsgericht die Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens beantragen. Antragsberechtigt ist auch das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales als Aufsichtsbehörde (§ 78 Abs. 1 HKG).

Wird durch die Ermittlungen ein Berufsvergehen nicht festgestellt oder hält die Kammer eine Ahndung nicht für angebracht oder nicht für zulässig, so stellt sie das berufsrechtliche Verfahren ein. Die Kammer übersendet dem Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales als Aufsichtsbehörde unverzüglich eine Zweitschrift des Einstellungsbescheides.

Hält das Ministerium ein berufsgerichtliches Verfahren für erforderlich, so kann es die Eröffnung des berufsgerichtlichen Verfahrens beantragen.

Neben den vorbezeichneten berufsrechtlichen Maßnahmen drohen der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt bei einer vorsätzlichen Verweigerung einer medizinisch notwendigen Maßnahme ferner der auf die §§ 5 und 6 der Bundesärzteordnung gestützte Widerruf der Approbation oder das Ruhen der Approbation. Hierüber entscheidet die örtlich zuständige Bezirksregierung nach Prüfung des Einzelfalles unter Berücksichtigung unterschiedlicher Beurteilungskriterien, wie z. B. Schwere der Verfehlung, Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, strafbare Relevanz.

Zu 4: Die Entwicklung der letzten 10 Jahre kann nicht dargestellt werden, weil die Anzahl der zugelassenen Physiotherapeuten für den gesamten Zeitraum nicht bekannt ist. Es liegen aber die Zulassungszahlen für Februar 1996 und März 2000 vor.

Danach waren im Februar 1996 pro 100 000 Einwohner 45 Physiotherapeuten in Niedersachsen zugelassen.

Für März 2000 liegt die Einwohnerzahl in Niedersachsen noch nicht vor. Die letzte bekannte Einwohnerzahl stellt den Stand vom 31.07.1999 dar. Ein Vergleich mit der Anzahl der zugelassenen Physiotherapeuten im März 2000 ergibt pro 100 000 Einwohner 53 zugelassene Physiotherapeuten.

Zu 5 a, 5 b, 6 und 7: Valide Daten, die die Entwicklung im gesamten Jahr 1999 widerspiegeln, liegen noch nicht vor. Dies hat seine Ursache darin, dass die Verordnungen den Krankenkassen erst nach dem Abschluss der Behandlungen zur Rechnungsbegleichung vorgelegt werden.

Mit einer Auswertung entsprechender Daten kann deshalb erfahrungsgemäß erst ca. 6 Monate nach Ablauf des Budgetjahres begonnen werden.

Zu 8: Nein.

Zu 9: Als „andere Heilmittel" im Sinne der Fragestellung sind logo- und ergotherapeutische Maßnahmen zu verstehen. Hier bleibt zunächst festzustellen, dass diese Therapien nach der Richtgrößenvereinbarung anerkannte Praxisbesonderheiten darstellen, die von den Vertragsärzten im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung geltend gemacht werden können.

Gleichwohl wurde von den entsprechenden Berufsverbänden über einen Umsatzrückgang berichtet, der nach der bislang vorliegenden Datenlage aber nicht bestätigt werden kann.

Zu 10: Nach § 106 Abs. 5 a SGB V n. F. löst eine Überschreitung der Richtgrößen um mehr als 5 v. H. eine Wirtschaftlichkeitsprüfung aus, wenn aufgrund der vorliegenden Daten nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Überschreitung durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bis zum 31.12.1999 lag diese Grenze bei 15 v. H.

Die Wirtschaftlichkeitsprüfung obliegt den Prüfungs- und Beschwerdeausschüssen. Dabei handelt es sich um Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen. Im Rahmen dieses Verfahrens können die betroffenen Vertragsärzte Praxisbesonderheiten geltend machen. Für diesen Zweck wurden von den Vertragsparteien Dokumentationsbögen entwickelt, die Bestandteil der Richtgrößenvereinbarung sind.

Die Prüfungen nach § 106 Abs. 5 a SGB V werden nach Vorlage der entsprechenden Daten beginnen können. Dies wird frühestens im Spätsommer 2000 für das Budgetjahr 1999 erwartet.