Müssen die Strafverfolgungsbehörden vor dem Verbrechen kapitulieren?

Ende April ist der langjährige Leiter der Hildesheimer Staatsanwaltschaft, Leitender Oberstaatsanwalt Horst Lücke, in den Ruhestand getreten. Zuvor hat er sich in einem Interview mit der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung" zur Situation der örtlichen Staatsanwaltschaft und besonders zu deren personeller Unterbesetzung geäußert. Er hat eingeräumt, die Behörde habe die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit schon seit längerem deutlich überschritten, und die Entwicklung in der nächsten Zukunft verheiße für die staatsanwaltliche Arbeit auch keine Besserung. Eher sei mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen. Auf die Frage „Bleibt das Verbrechen Sieger?", hat Leitender Oberstaatsanwalt a. D. Lücke ausweislich des veröffentlichten Textes des Interviews geantwortet: „Ja, am Ende, so befürchte ich, gewinnt das Verbrechen."

Dies vorausgeschickt, fragen wir die Landesregierung:

1. Teilt sie die Auffassung des bisherigen Leiters der Hildesheimer Staatsanwaltschaft, seit wann ist sie ihr bekannt, und worin sieht sie die Ursachen für eine derartige Prognose?

2. Wie stellt sich die Kriminalstatistik in den letzten zehn Jahren für den Bereich der Staatsanwaltschaft Hildesheim im Vergleich zur Entwicklung in Niedersachsen und im Bund dar?

3. Wie hat sich im selben Zeitraum die personelle Ausstattung der Hildesheimer Staatsanwaltschaft in Relation zur Zahl der gemeldeten Straftaten und der jeweiligen Aufklärungsquoten entwickelt?

4. Teilt die Landesregierung die in dem Interview ebenfalls geäußerte Befürchtung, während der EXPO werde sich die Zahl der Straftaten auch im Bereich der Staatsanwaltschaft Hildesheim ganz erheblich erhöhen, was wegen der personellen Unterbesetzung dazu zwinge, bestimmte Formen der Kriminalität nicht so zu verfolgen, wie es eigentlich erforderlich wäre?

5. Was wird sie unternehmen, um den befürchteten „Sieg des Verbrechens" abzuwenden?

Die Niedersächsische Landesregierung hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft Hildesheim infolge von Überlastung nicht mehr in der Lage wäre, den gesetz lichen Strafverfolgungsauftrag im gebotenen Umfang zu erfüllen. Der Landesregierung ist indessen bewusst, dass die Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft Hildesheim - wie auch der übrigen niedersächsischen Staatsanwaltschaften - ausgesprochen hoch ist. Dies ist zum Teil auf einen anhaltend hohen Geschäftsanfall hinsichtlich der zu bearbeitenden Ermittlungsverfahren zurückzuführen. Darüber hinaus nimmt die Arbeitsbelastung auch durch eine Vielzahl von Gesetzesänderungen zu, die infolge der sich immer rascher wandelnden Lebensbedingungen zwar notwendig sind, zugleich aber für die Staatsanwaltschaften neue Aufgabenzuweisungen und auch der statistischen Erfassung nicht zugängliche Mehrarbeit bedeuten.

So ist zum Beispiel davon auszugehen, dass die Heraufsetzung der gesetzlichen Mindeststrafen für Straftaten wie Körperverletzung oder Wohnungseinbruch vermehrt zur Verhängung von Freiheitsstrafen führt, die zu vollstrecken für die Staatsanwaltschaften wesentlich arbeitsaufwändiger ist als die Kontrolle des Eingangs von Zahlungen im Anschluss an bisher in vergleichbaren Fällen verhängte Geldstrafen. Die zu begrüßende Stärkung von Verletztenrechten im Strafverfahren bedeutet für Staatsanwaltschaften Mehrarbeit, weil dadurch mehr Verfahrensbeteiligte umfangreichere Rechte in Anspruch nehmen. Auch die sinnvolle Regelung des Täter-Opfer-Ausgleichs, die zu einem Ausgleich zwischen Straftätern und Opfern beitragen soll, bedingt während des Ermittlungsverfahrens für die Staatsanwaltschaften Mehraufwand. Soweit neue strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen im Interesse der Rechtsstaatlichkeit unter Richtervorbehalt gestellt worden sind, führt das jeweilige Herbeiführen der richterlichen Zustimmung zu ihrem Einsatz ebenfalls zu Mehraufwand. Ganz erhebliche Mehrbelastungen sind auch mit der Umsetzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes verbunden. Dieses erfordert bei allen im Bundeszentralregister eingetragenen Personen, die wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung verurteilt worden sind, zum Zweck der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren jeweils eine Einzelfallprüfung, ob eine Anordnung zur Entnahme von Körperzellen mit anschließender molekulargenetischer Untersuchung zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters herbeizuführen ist.

Das Niedersächsische Justizministerium ist bestrebt, den mit der zunehmenden Arbeitsbelastung einhergehenden erhöhten Personalbedarf dadurch auszugleichen, dass innerhalb des Geschäftsbereichs Stellen von weniger stark belasteten Gerichten und Staatsanwaltschaften zumindest vorübergehend auf die Staatsanwaltschaften mit stark angespannter Personallage verlagert werden. Zur Bewältigung des mit der Umsetzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes verbundenen Mehraufwandes sind den Staatsanwaltschaften seit dem Frühjahr 2000 zudem zwölf Stellen der Besoldungsgruppe R 1 befristet bis zum 31.12.2001 zur Verfügung gestellt worden; eine dieser Stellen wurde der Staatsanwaltschaft Hildesheim zugewiesen.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1: Auf die Vorbemerkung wird Bezug genommen. Im Übrigen äußert sich die Landesregierung zu den persönlichen Auffassungen und Befürchtungen des früheren Leiters der Staatsanwaltschaft Hildesheim nicht.

Zu 2: Eine gesonderte Kriminalstatistik für den Bezirk der Staatsanwaltschaft Hildesheim wird nicht geführt. Die Entwicklung des Geschäftsanfalls und der Erledigungen bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim im Vergleich zu den übrigen Staatsanwaltschaften in Niedersachsen und in der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich für die Jahre 1990 bis 1999 aus nachfolgender Übersicht: