Die Polizei in Niedersachsen geht bei der Bearbeitung der Jugendkriminalität deshalb neue Wege

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Um den Ansprüchen einer zeitgemäßen Bewältigung normabweichenden Verhaltens junger Menschen in notwendiger Kooperation mit den anderen zuständigen Institutionen zu genügen, ist es erforderlich, in den polizeilichen Umgang mit Minderjährigen die aktuellen gesellschaftlichen und pädagogischen Erkenntnisse einfließen zu lassen.

Die Polizei in Niedersachsen geht bei der Bearbeitung der Jugendkriminalität deshalb neue Wege. Seit Dezember 1998 geben die vom Innenministerium herausgegebenen „Leitlinien für die polizeiliche Bearbeitung von Jugendsachen" verbindliche Hinweise.

Gemäß dieser Leitlinie und der am 10.10.1998 geänderten „Richtlinie für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Jugendsachen bei jugendtypischem Fehlverhalten (Diversionsrichtlinie)" führt die Polizei im Einvernehmen mit der Justiz im Sinne einer wünschenswerten schnellen und intensiven staatlichen Reaktion auf jugendliches Fehlverhalten so genannte erzieherische Gespräche durch, um einem geständigen Jugendlichen das Unrecht seiner Tat nachhaltig zu verdeutlichen und nach Möglichkeiten der Wiedergutmachung zu suchen.

Darüber hinaus ist für die Bearbeitung von Jugendstraftaten generell die Polizeidienststelle zuständig, in deren Zuständigkeitsbereich der/die jugendliche Täter (in) wohnt („Patenmodell"). Erste Erfahrungswerte zum „Leitlinienerlass" und zum Teilaspekt „erzieherisches Gespräch" sind durchweg positiv.

Bereits im Rahmen der Durchführung eines vorgelagerten Pilotprojekts bei der Polizeiinspektion Hameln wurde die Durchführung „erzieherischer Gespräche" von der polizeilichen Praxis als durchweg positiv beurteilt. Bei Erreichung des pädagogischen Ziels wird es als schnelles und arbeitssparendes Verfahren beurteilt, das es erlaubt, den Fall in der Regel bereits nach einer Woche der Staatsanwaltschaft vorzulegen. Darüber hinaus bewirkt es eine Verbesserung des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen jugendlichen Straftätern und vernehmenden Polizeibeamten. Auch von positiven Beurteilungen durch die Jugendgerichtshilfe wird berichtet.

Abgesehen von sonstigen übergreifenden polizeilichen Beteiligungsformen werden in mehreren Polizeidienststellen in Niedersachsen weitere Modelle erprobt. Stellvertretend für eine Anzahl weiterer, z. T. an örtlichen Brennpunkten ausgerichteter Modellprojekte, werden folgende Pilotmodelle genannt: Modellprojekt „PATE" bei der Polizeiinspektion Delmenhorst:

Die „Patentätigkeit" in der engeren Bedeutung des Begriffes drückt eine besondere Verantwortlichkeit des Jugendsachbearbeiters für einen bestimmten Minderjährigen aus. Der Jugendsachbearbeiter, der für den jugendlichen Delinquenten zuständig ist, steht ihm als Partner und Weggefährte zur Seite und soll ihm im Idealfall aus seiner kriminellen Karriere heraushelfen. Das „Patenmodell" findet sich bereits in dem o. a. Leitlinienerlass als Grundgedanke wieder.

Modellprojekt „JUGENDGERICHTSHILFE" der Polizeiinspektion Delmenhorst:

Dieses Modell verfolgt die Zielrichtung der Beschleunigung des Strafverfahrens. Die strafrechtliche Reaktion soll auf sanktionswürdiges Fehlverhalten schnell folgen. In geeigneten Fällen - zumeist Ladendiebstähle - werden polizeiliche Ermittlungsverfahren noch am gleichen Tage durch die Beamtinnen und Beamte des „Ersten Angriffs" erledigt und abschließend bearbeitet. Dies führt im Zusammenwirken mit der Justiz zu einer schnellen staatlichen Reaktion, quasi als „Aha-Erlebnis" für die/den delinquente(n) Jugendliche(n).

Neben dem bereits erwähnten Projekt entfaltet die Polizeidirektion Hannover eine ganze Reihe weiterer Aktivitäten:

Bei der PI Nord lief in der Zeit vom 07.06. bis 20.06.1999 ein erfolgreiches Anti-GewaltProjekt unter dem Motto „Mach mich nicht an!". Die Polizei und verschiedene Jugendeinrichtungen hatten ein umfangreiches Programm erarbeitet, welches sich an Minderjährige sowie deren Eltern richtete. Es umfasste ein Videoprojekt, Info-Nachmittage zu Gewaltthemen (z. B. „Gewalt in den Medien"), Selbstbehauptungskurse für Jungen und Mädchen, Gruppenarbeiten, den Besuch einer Jugendarrestanstalt und vieles mehr.

An der IGS Linden wird in Kooperation mit externen Fachkräften aus dem Stadtteil, u. a. mit dem BfJ, das Projekt „GERNIE" durchgeführt. In 10 Wochen werden mit den Kindern Themenschwerpunkte wie Vertrauen, Wir-Gefühl, Umgang miteinander, Selbstbehauptung, Grenzen setzen und das Respektieren von Andersartigkeit erörtert. Das Training (1 Doppelstunde pro Woche) findet nicht im Klassenraum, sondern im Jugendzentrum statt.

Bei der PI Süd nimmt neben einer Vielzahl anderer Veranstaltungen die Beteiligung am „Mitternachtssport" breiten Raum ein. Hierbei handelt es sich um ein gezieltes Angebot für Minderjährige, die an den Wochenenden auf der Straße „hängen". Es bietet ein vielfältiges Spektrum. Von einem umfangreichen Sport/Bewegungsangebot bis hin zu speziellen Turnieren ist alles möglich. Diese Veranstaltungen finden ohne Wettkampfcharakter und ohne das Ausspielen teurer Preise statt. Die körperliche Betätigung in fairer sportlicher Form soll im Vordergrund stehen. Der Mitternachtssport wird in Hannover flächendeckend angeboten und durch das Jugendamt organisiert und durchgeführt. Für die polizeiliche Jugendarbeit ergibt sich dabei ein hervorragendes Betätigungsfeld. Durch aktive Teilnahme findet man sehr schnell Zugang zu den Minderjährigen und kann vorhandene Vorurteile/Berührungsängste abbauen.

Die PI Nord setzt im Jahre 2000 ihr 1998 begonnenes Präventionsprogramm „Bürger und Polizei" u. a. mit dem Baustein „Bekämpfung der Jugenddelinquenz" fort.

In den Sommerferien 2000 beteiligt sich die PD Hannover an der Feriencard-Aktion der Landeshauptstadt Hannover. U. a. wird in Kooperation mit einem JZ eine Funsportveranstaltung und in Kooperation mit dem Caritasverband Hannover e.V. ein Selbstbehauptungstraining für junge russische Aussiedlermädchen angeboten.

Eine institutionelle Vernetzung der polizeilichen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Durchführung spezieller Maßnahmen und Modelle ist durch die regelmäßig stattfindenden Arbeitstagungen der Beauftragen für Jugendsachen bei den Polizeiinspektionen mit dem Landesbeauftragten für Jugendsachen beim Landeskriminalamt Niedersachsen sichergestellt.

Der niedersächsische Beitrag im Rahmen des Nordverbunds „Flexibilisierung der Übergangsphase und Berufswahlpass" zum BMBF-Programm „Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben" umfasst das Projekt „Unterstützende Maßnahmen für lernschwache und benachteiligte Schülerinnen und Schüler von Hauptschulen zur Erhaltung und Entwicklung der Lernmotivation, kontinuierlicher Arbeitsbereitschaft und zielgerichteter Aufgabenbearbeitung", das in Gifhorn seit Beginn des Schuljahres 1999/2000 erfolgreich durchgeführt wird. Einer Gruppe von 12 Schülerinnen und Schülern des 7. Schuljahrgangs wird darin durch Kooperation mit der kommunalen Jugendhilfe, der Jugendwerkstatt, der Berufsberatung und Partnerbetrieben eine Betreuung zur Verfügung gestellt, die unterrichtsersetzend auf Erwerbsarbeit hin orientiert. Die Teilnahme ist freiwillig, sie wird von der Schule aufgekündigt, wenn Vereinbarungen über regelmäßige Teilnahme und Sozialverhalten nicht eingehalten werden. (Es liegen positive Rückmeldungen der Lehrkräfte vor, wonach die Fehlzeiten der Schwänzer und Kranken auch im „Stammunterricht" gegen Null tendieren). Die Anzahl entsprechender Angebote ist in Gifhorn bereits erhöht worden.

In ähnlicher Weise wird beim sog. Wolfsburger Ansatz verfahren. Hier sollen schwer verhaltensgestörte Kinder, die schon längere Zeit nicht mehr beschult werden können, über eine besondere Förderung an einem außerschulischen Lernort reintegriert werden.

Das Jugendamt der Stadt hat für eine Werkstattklasse Räume in einem Freizeitheim be reitgestellt und beschäftigt eine Tischlerin. Im Rahmen des Förderkonzeptes der Hauptschule Vorsfelde stehen zurzeit für diese Maßnahme 25 Lehrerstunden zur Verfügung.

Zurzeit werden sechs Schüler vorwiegend mit handwerklichen Tätigkeiten beschäftigt, über die u. a. schulische Inhalte erarbeitet werden. Der Erwerb eines Schulabschlusses erscheint hierdurch für einige Jugendliche wieder realistisch; sie können über Erfolgserlebnisse ihr Selbstwertgefühl stärken.

Die positiven Erfahrungen in Gifhorn und Wolfsburg sollen landesweit nutzbar gemacht werden. Die beiden Modelle werden gegenwärtig auf übertragbare Elemente untersucht, die in dem von der Landesregierung geplanten Programm zur Stärkung der Hauptschule ihren Niederschlag finden sollen.

In diese Richtung zielt auch das Präventions- und Interventionsprogramm der Niedersächsischen Landesregierung (Durchführungsbeginn: 01.12.2000), das eine weitere wichtige Maßnahme, mit der die Entwicklungsbedingungen gefährdeter junger Menschen verbessert und damit den Phänomenen Schulschwänzen bzw. Schulverweigerung und Delinquenz begegnet werden soll, darstellt. Kern dieses Programms ist die Einrichtung von Nachmittagsangeboten an Schulen und zugleich die Bündelung vorhandener neu einzurichtender Präventions- und Integrationsmaßnahmen. Mit den Angeboten der Beratung, der Betreuung, der Freizeitgestaltung und der existenzsichernden Hilfen sollen die Präventions- und Integrationsprojekte in sozialen Brennpunkten, insbesondere soweit sie Schwerpunkte der Zuwanderung sind, dazu beitragen, abweichendem Verhalten, Schulversagen und Absentismus entgegenzuwirken und stattdessen eine positive Persönlichkeitsentwicklung sowie Ausbildungs- und Integrationsfähigkeit der jungen Menschen zu fördern.

Wie bereits mehrfach dargestellt, setzt die Landesregierung verstärkt auf Prävention. Es gehört zu den Aufgaben des 1996 durch Beschluss der Landesregierung gegründeten Landespräventionsrates, den Gedanken der gesamtgesellschaftlichen Prävention weiter in die Kommunen hineinzutragen und sie bei Gründung und Aufbau von örtlichen Präventionsgremien zu beraten und zu unterstützen. Inzwischen sind über 100 Präventionsräte in Niedersachsen gegründet, deren Arbeit in erster Linie durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geleistet wird. Die Möglichkeit durch die kleinräumige Präventionsarbeit unmittelbar vor Ort Einfluss auf das Gemeinwesen bzw. auf einzelne Stadtteile und Quartiere nehmen und Veränderungen einleiten und herbeiführen zu können, motiviert viele Menschen in den Gemeinden und Städten zu Mitarbeit, denn gesamtgesellschaftliche Prävention beinhaltet auch die Veränderung der Lebensbedingungen in einer Kommune.

Bartling (Ausgegeben am 18. August 2000)