Modellprojekt zur Feststellung der Staatsangehörigkeit und zur Beschaffung von Heimreisedokumenten - das so genannte Projekt X

Im Februar 1998 wurde das niedersächsische Modellprojekt „Zur Beschaffung von Heimreisedokumenten für Ausländer mit ungeklärter Staatsangehörigkeit" begonnen. Ziel dieses Modellprojektes soll die „Durchführung eines Identifizierungsverfahrens" und die „Beschaffung von Heimreisedokumenten" bei ausreisepflichtigen Menschen, „bei denen die Ausstellung von Heimreisedokumenten durch den Heimatstaat an der fehlenden oder unzureichenden Mitwirkung dieser Personen scheitert", sein.

Das Niedersächsische Innenministerium legt das Fehlen der Papiere in die Verantwortung der Flüchtlinge und geht in seiner Weisung vom 06.02.1998 an die Bezirksregierungen davon aus, dass „in zunehmendem Maße vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer vorsätzlich ihre Herkunft verschleiern oder im Rahmen der Passersatzbeschaffungsmaßnahmen unzutreffende oder keine Angaben machen und so die Ermittlung ihres zur Rücknahme verpflichteten Heimatstaates verhindern".

Die niedersächsischen Ausländerbehörden sind seit o. g. Weisung des Niedersächsischen Innenministeriums aufgefordert, den jeweiligen Bezirksregierungen „geeignete Personen, unter Angabe eventueller Verhaltensauffälligkeiten, zu melden". Nach der Auswahl der Personen durch das Dezernat 301 der Bezirksregierung erhalten die gemeldeten Flüchtlinge die Auflage zur sofortigen Wohnsitznahme in der ZASt Braunschweig oder in der ZASt Oldenburg. Dort soll eine umfassende „Betreuungsarbeit" erreichen, dass die Flüchtlinge bei der Passbeschaffung mitwirken und sich den Botschaften der zuvor eventuell noch ungeklärten Herkunftsländer stellen.

Die Flüchtlinge erhalten in den ZASten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das Niedersächsische Innenministerium führt dazu im Erlass vom 28.05.1999 aus, dass Flüchtlinge im Modellprojekt wegen „ihrer Verweigerung der Mitwirkung... in der Regel den Anspruch auf den Barbetrag verwirkt" haben. Die Flüchtlinge unterliegen zusätzlich einem Arbeitsverbot, sodass sie keine Möglichkeit haben, sich den Bedingungen des Lagerlebens zu entziehen oder einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung ihrer Interessen zu beauftragen. „Einige Ausländerbehörden erstatten gegen Flüchtlinge, die in das Modellprojekt eingewiesen werden, Anzeige wegen mittelbarer Falschbeurkundung (,falsche Identitätsangaben). Da ein Anwalt nicht finanziert werden kann, kann weder Widerspruch eingelegt noch ggf. ein verhängtes Bußgeld bezahlt werden. Die Folge: Strafhaft" (aus: Asylpolitik in Niedersachsen, Bestandsaufnahme zur Lebenssituation von Flüchtlingen in Niedersachsen: hrsg. vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat, Juni 2000).

Darüber hinaus sind Flüchtlingsorganisationen Fälle bekannt geworden, in denen die Behörden auf den Papieren der Flüchtlinge den Aufdruck „Ausweisersatz" gestrichen und hinter dem Namen „angeblich" eingefügt haben, sodass die betroffenen Flüchtlinge keinerlei Rechtsgeschäfte mehr abschließen können. „Manche Flüchtlinge besitzen nichts als die Essens-Ausgabekarte der ZASt, um sich bei Kontrollen auszuweisen" (aus: Asylpolitik in Niedersachsen, Bestandaufnahme zur Lebenssituation von Flüchtlingen in Niedersachsen: hrsg. vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat, Juni 2000).

Im Rahmen der Identitätsklärung unterliegen die Flüchtlinge durch die regelmäßig stattfindenden Interviews, durch die Botschaftsvorführungen und die stattfindenden Zimmerdurchsuchungen zusätzlich einen enormen psychischen Druck. Einige Flüchtlinge entziehen sich dem Modellversuch bereits nach Erhalt der Wohnsitzauflage, einige nach einiger Zeit in den ZASten. Sie tauchen unter - in die Illegalität, recht- und papierlos.

Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen mahnen die Zustände und Bedingungen in den ZASten an, die schon in einem 10-tägigen Hungerstreik von Flüchtlingen in der ZASt Braunschweig ihren Ausdruck fanden, und fordern die sofortige Einstellung des Modellprojektes.

Dem entgegen ziehen die Bezirksregierungen positive Bilanzen, u. a. mit der Begründung, dass das Modellprojekt eine Alternative für die Ausländerbehörden zur Abschiebehaft darstellen würde.

Dabei bleibt jedoch festzuhalten, dass die Abschiebehaft und das Modellprojekt grundsätzlich einer unterschiedlichen Zielsetzung unterliegen. So ist es nicht auszuschließen, dass für einen Teil der Flüchtlinge, die sich im Modellprojekt befinden, keine rechtliche Grundlage für die Anordnung einer Abschiebehaft bestände, zumal darüber hinaus gerichtlich beschieden wurde, dass die Abschiebehaft nicht als Beugehaft angewendet werden darf, um beispielsweise die Preisgabe der Identität zu erzwingen. Hinzu kommt, dass einige Flüchtlinge zuvor in Abschiebehaft waren und sozusagen als „Folgemaßnahme" zur Teilnahme am Modellprojekt verpflichtet wurden.

Zudem ist die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Passlosigkeit" im Kern zwar klar, aber in der Praxis jedoch recht umstritten. So stellte Hubert Heinhold (in: Pro Asyl 21.04.1998) fest: „In der Praxis gibt es sehr wenige Fälle, in denen unmittelbar vor einer drohenden Abschiebung bereits ausgestellte Reisedokumente vernichtet oder unbrauchbar gemacht werden, aber viele Fälle, in denen es umstritten ist, ob die betroffene Ausländerin oder der betroffene Ausländer den Verlust des Passes zu vertreten hat".

So stellt sich auch die Frage, inwieweit es Flüchtlingen im Rahmen der allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 70 AuslG überhaupt zuzumuten ist, an der Passbeschaffung mitzuwirken oder sie gar zwangsweise Botschaftsangehörigen vorzuführen.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Wie viele abgelehnte, aber geduldete Asylbewerber und Asylbewerberinnen aus welchen Ländern leben zur Zeit in Niedersachsen?

2. Wie viele Flüchtlinge mit „ungeklärter Staatsangehörigkeit" leben zur Zeit in Niedersachsen?

3. Wie viele Plätze stehen zur Durchführung des niedersächsischen Modellprojektes in den ZASten Braunschweig und Oldenburg zur Verfügung?

4. Wie viele Personen aus welchen Ländern wurden dem Modellprojekt bisher von welchen Ausländerbehörden gemeldet, und in welchen ZASten wurden sie zur Wohnsitznahme aufgefordert; wie viele von ihnen sind Männer, wie viele Frauen und wie viele Familien?

5. Wie viele der von den Ausländerbehörden gemeldeten Personen wurden dem Modellprojekt nicht zugeführt? Aus welchen Gründen?

6. Bei wie vielen Personen aus welchen Ländern konnte die Identität geklärt werden?

Wie viele von ihnen wurden bereits in welche Länder abgeschoben, wie viele von ihnen befinden sich wo in Abschiebehaft und bei wie vielen wurde ein Abschiebehindernis anerkannt?

7. Wie viele Personen aus welchen Ländern konnten aus welchen Gründen mit welchem Aufenthaltsstatus das Modellprojekt wieder verlassen und Wohnsitz in einem Flüchtlingswohnheim und/oder einer privaten Wohnung nehmen?

8. Unter welchen Umständen werden Flüchtlinge direkt nach ihrem Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung dem Modellprojekt zugeordnet und nicht umverteilt?

9. Wie viele Personen sind der Auflage zur Wohnsitznahme in einer ZASt nicht nachgekommen, und wie viele Personen haben sich nach Wohnsitznahme dem Modellprojekt entzogen?

10. Wie viele zur Wohnsitznahme verpflichtete Flüchtlinge aus welchen Ländern wurden zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben? Bei wie vielen konnte der Aufenthalt ermittelt werden, und wohin wurden sie nach ihrer Festnahme mit welchem Ziel verbracht?

11. Wie viele dem Modellprojekt gemeldete Personen aus welchen Ländern sind zur Zeit zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben?

12. Wie viele Personen aus welchen Ländern sind aus dem Modellprojekt heraus freiwillig in welches Land ausgereist?

13. Wie hoch ist die durchschnittliche Verweildauer im Modellversuch?

14. Wie viele Männer, Frauen und Familien aus welchen Ländern befinden sich zurzeit im Modellprojekt (unter Angabe der ZASten)?

15. Welche speziellen Unterbringungsmöglichkeiten gibt es in den ZASten Oldenburg und Braunschweig für Frauen und Familien?

16. Wie viele Personen aus welchen Ländern wurden bisher aus der Abschiebehaft in das Modellprojekt „überführt"?

17. Wie viele Personen aus welchen Ländern wurden bisher aus dem Modellprojekt in die Abschiebehaft, wie viele in die Strafhaft „überführt"?

18. Ist die Zahl der Abschiebehaftanträge aufgrund der Durchführung des Modellprojektes gesunken?

19. Ist eine Aufstockung bzw. Reduzierung der Plätze zur Fortführung des Modellprojektes in den jeweiligen ZASten geplant? Wenn ja, warum und um wie viele Plätze handelt es sich?

20. Welche Aufenthaltspapiere werden den Personen im Modellprojekt ausgestellt, und mit welchen zusätzlichen Aufdrucken bzw. Ergänzungen sind sie versehen?

21. Wie viele Flüchtlinge im Modellprojekt erhalten Leistungen nach § 1 a AsylbLG und warum?

22. Welche Stellungen beziehen die Bezirksregierungen Braunschweig und Weser-Ems im Rahmen ihrer Berichtspflicht zu den durch das Niedersächsische Innenministerium erbetenen Punkten:

a) Zahl der von den Ausländerbehörden gemeldeten Personen

b) Kriterien für die Auswahl der aufzunehmenden Personen

c) Zahl der Personen, die eine Wohnsitzauflage erhalten haben

d) Zahl der tatsächlich aufgenommenen Personen

e) Probleme bei dem Identifizierungsverfahren und der Passersatzbeschaffung

f) Zahl der ausgereisten Personen

g) Verhalten der Personen in der Einrichtung

h) Bewertung zur Weiterführung des Projekts?

23. Welche Anweisungen an die Ausländerbehörden gibt es vonseiten der Landesregierung und vonseiten der Bezirksregierungen zur Teilnahme an dem Modellprojekt und zur Meldung von Personen?