Eingriffsbefugnis der Polizei

Nicht jede gesetzliche Eingriffsbefugnis der Polizei setzt einen konkreten Gefahrenverdacht gegenüber der von der Maßnahme betroffenen Person voraus. Verdachtsunabhängige Kontrollen im öffentlichen Verkehrsraum sind aufgrund verschiedenster Rechtsgrundlagen zulässig. § 36 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung erlaubt verdachtsunabhängige Verkehrskontrollen zu straßenverkehrsrechtlichen Zwecken. Regelungen zur Einrichtung von Kontrollstellen gibt es sowohl auf strafprozessrechtlicher Grundlage gemäß § 111

Strafprozessordnung zur Erforschung bereits begangener Straftaten als auch gemäß § 14 des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NGefAG) zur Verhütung bestimmter Straftaten. Kontrollstellen sind darauf angelegt, jedermann kontrollieren zu dürfen, und zwar unabhängig davon, ob gegen die kontrollierte Person Verdachtsmomente vorliegen oder nicht.

Bereits 1994 ist in § 12 Abs. 6 NGefAG eine im Einzelfall verdachts- und ereignisunabhängige Befugnis der Polizei geschaffen worden, allgemeine Kontrollen im öffentlichen Verkehrsraum zur Abwehr wirtschaftlicher Schäden vorzunehmen, die durch die Verbringung deliktisch erlangter Sachen wie insbesondere gestohlener Kraftfahrzeuge in das Ausland entstehen.

Mit der seit dem 06.02.1998 wirksamen Änderung des § 12 Abs. 6 NGefAG hat die Polizei ein wirksames Instrument für die Durchführung von Kontrollmaßnahmen zur Bekämpfung weiterer Erscheinungsformen der internationalen Organisierten Kriminalität wie beispielsweise Menschenhandel, Schleusungs- und Betäubungsmittelkriminalität erhalten. Die Polizei kann danach jede im öffentlichen Verkehrsraum angetroffene Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen.

Mit der Änderung des § 12 Abs. 6 NGefAG ist der Polizei auch weiterhin keine voraussetzungslose Generalbefugnis eingeräumt worden. Es gibt keine grundlose Kontrolle. Der Grundrechtsschutz wird wie bei den genannten Regelungen der Kontrollstellen dadurch gewährleistet, dass sie nur unter bestimmten Voraussetzungen angewandt werden können und generell dem aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Willkürverbot unterliegen. Die Kontrollbefugnis des § 12 Abs. 6 NGefAG erfordert die Vorsorge für die Verfolgung oder zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung mit internationalem Bezug. Dies setzt zwingend eine so genannte lagebildabhängige Verdachtslage voraus, d. h. die Polizei muss über ein allgemeines polizeiliches Lagebild oder gesonderte kriminalistische Erfahrungen verfügen, dass in dem zu kontrollierenden Bereich mit hinreichender Aussicht auf Erfolg Erkenntnisse über die genannten Straftaten zu erwarten sind. Die Zweckbestimmung als Motiv des Gesetzgebers muss gleichzeitig auch das Kontrollmotiv im Einzelfall sein. Die Einhaltung der Voraussetzungen unterliegen der gerichtlichen Kontrolle. Die Polizei muss also belegen können, dass die Maßnahme gerechtfertigt ist, ohne dass konkrete Verdachtsmomente gegenüber der im Einzelnen zu kontrollierenden Person vorliegen müssen.

Eine solche Befugnis rechtfertigt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit. Dem hohen Gefährdungspotenzial der internationalen Kriminalität stehen nur Befugnisse mit einer relativ geringen Eingriffstiefe gegenüber. Diese entsprechen in etwa dem, was jeder Tourist aus Anlass eines Grenzübertritts hinzunehmen hat oder - bezogen auf den Geltungsbereich von Schengen - noch vor nicht allzu langer Zeit hinzunehmen hatte. Weitergehende Befugnisse wie etwa eine Identitätsfeststellung oder eine Durchsuchung sind nach der niedersächsischen Regelung nur statthaft, wenn sich konkrete Verdachtsmomente ergeben und die gesonderten gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Maßnahme vorliegen.

Das in der Anfrage genannte Urteil des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern (LVerfG MV) vom 21.10.1999 - Az. LVerfG 2/98 - zu § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG MV) hat keine Auswirkungen auf die niedersächsische Regelung. Abgesehen von der auf die Vorschrift des SOG MV beschränkten Rechtswirkung des Urteils sind die beiden Regelungen auch nicht miteinander vergleichbar. Niedersachsen ist mit der Normierung in § 12 Abs. 6 NGefAG bewusst einen anderen Weg gegangen als einige andere Bundesländer. Dabei ist der Anwendungsbereich in Niedersachsen insgesamt nicht weiter gefasst.

Die Regelung im SOG MV ist als Befugnis zur Identitätsfeststellung normiert worden, während das NGefAG lediglich eine Kontrollbefugnis mit geringerer Eingriffsintensität enthält. Während § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SOG MV auf die vorbeugende Bekämpfung jeder Form grenzüberschreitender Kriminalität abstellt, reduziert § 12 Abs. 6 NGefAG die Kontrollbefugnis auf die Vorsorge zur Verfolgung oder zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung mit internationalem Bezug. Das LVerfG MV hat eine Beschränkung auf qualifizierte Formen grenzüberschreitender Kriminalität ausdrücklich für zulässig erachtet.

Die Befugnisse in § 12 Abs. 6 NGefAG beschränken sich nicht wie im SOG MV auf den grenznahen Raum, sondern gelten grundsätzlich für das ganze Land. Anstelle eines räumlichen Bereichs (Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km), der vom LVerfG MV als ungeeignet angesehen wird, ist ein Sachkriterium (Straftaten von erheblicher Bedeutung mit internationalem Bezug) gewählt worden. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass der Grenzbezug einerseits zu eng ist, weil Kriminalität mit internationalem Bezug an jeder Stelle des Inlandes stattfinden kann, der Grenzbezug andererseits zu weit gehen kann, weil die Abschaffung der Grenzkontrollen einer ausdrücklichen politischen Zielsetzung entspricht, die nicht dadurch konterkariert werden darf, dass diese Kontrollen unter der Bezeichnung „Schleierfahndung" in den grenznahen Raum (Grenzschleier) verlagert werden.

Das der Landesregierung vorliegende Zahlenmaterial bestätigt die Wirksamkeit der Rechtsnorm. Im Hinblick auf den sehr hohen personellen und damit verbundenen finanziellen Aufwand zur Erhebung des statistischen Datenmaterials ist auf eine nochmalige gesonderte Berichterstattung durch die Polizeibehörden aus Anlass der Anfrage verzichtet worden.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen wie folgt:

I. Fragen zur Praxis

Zu 1: Von März 1998 bis Januar 1999 wurden in Niedersachsen 49 373 Personen kontrolliert.

Die Anzahl der Kontrollmaßnahmen wurde nicht festgehalten. 1999 wurden bei 50 056

Kontrollmaßnahmen insgesamt 94 980 Personen kontrolliert.

Zu 2: In Niedersachsen gibt es für die Kontrollen keine räumliche Beschränkung auf den grenznahen Raum. Deshalb besteht auch kein Anlass, eine Erfassung nach gesetzlich nicht vorgegebenen Kriterien vorzunehmen. Großkontrollen erfolgten schwerpunktmäßig auf den Bundesautobahnen und Bundesstraßen. Es wurde nicht erfasst, ob die Kontrollen in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs durchgeführt wurden.

Zu 3: Die Großkontrollen sind ihrer Anlage nach stationäre Kontrollen. Eine solche Kontrolle wurde auch auf der Bundesautobahn 1 am 17./18.11.1999 durchgeführt. Dabei wurden 900 Lkw und 270 Pkw angehalten und überprüft. Eine flächendeckende Übersicht, wie viele Kontrollen in welcher Form erfolgten, liegt nicht vor. Die Kontrollen im Rahmen der Streife sind als mobile Kontrollen anzusehen.

Zu 4: Angaben über Dienststellen, die die verdachtsunabhängigen Kontrollen durchführten, wurden nicht erhoben. An den Bundesautobahnen werden in der Regel die Polizeikommissariate (BAB) mit den Kontrollen befasst. Sowohl dort als auch in den Polizeiinspektionen gibt es in unterschiedlicher Ausprägung Fahndungsgruppen, zu deren Aufgabenbereich auch die Durchführung von verdachtsunabhängigen Kontrollen gehört. Die Fahndungsgruppen wurden auf diese Aufgaben speziell vorbereitet. Es handelt sich um behördeninterne Ausbildungsmaßnahmen, für die es kein spezifisches Anforderungsprofil gibt.

Der Bundesgrenzschutz war zum Teil an den Großkontrollen beteiligt. Ob und inwieweit er an den mobilen Kontrollen im Rahmen der Streife beteiligt war, wurde nicht erhoben.

Zu 5: Die Anzahl der angehaltenen Fahrzeuge wurde nur bei der in der Antwort zu Frage 3 genannten Großkontrolle erhoben.

Zu 6: Im Rahmen der verdachtsunabhängigen Kontrollen wurden im Jahr 1999 94 980 Personen kontrolliert. Eine Aufschlüsselung nach Nationalitäten, oder allgemein nach ausländischen und inländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern erfolgt nicht, da hierzu keine Veranlassung besteht.

Zu 7: Angaben zu weiterführenden Maßnahmen aufgrund der Überprüfungen wurden im Einzelfall nicht erhoben. Im Rahmen der Kontrollen wurden 1999 von den Polizeibehörden 991 Festnahmen, 343 Haftbefehlsvollstreckungen, 8 998 Identitätsfeststellungen sowie 883 Aufenthaltsermittlungen gemeldet. Dies ist ein Beleg dafür, dass sich das Instrument bewährt hat.

Zu 8: Die Kontrollen haben dazu geführt, dass 1999 in 2 027 Fällen Sicherstellungen und Beschlagnahmen erfolgten. Darunter befanden sich unter anderem Betäubungsmittel, Fahrzeuge und Fahrzeugteile, Schusswaffen, waffenähnliche Gegenstände sowie gefälschte Urkunden.

Zu 9: In insgesamt 193 Fällen wurden die nachfolgenden Mengen an Betäubungsmitteln sichergestellt bzw. beschlagnahmt: 138,6 Gramm Heroin, 134,5 Gramm Kokain, 7 016

Stück Ecstasy-Tabletten, 9,7 Gramm Speed, 47,867 Kilogramm Haschisch, 2,482 Kilogramm Cannabis, 42,256 Kilogramm Marihuana, 7.300 Stück Khat-Pflanzen, 173 Kilogramm Khat, 203 Gramm Rauschpilze und 4 582 LSD-Trips. Darüber hinaus wurden u. a. 116 gestohlene Fahrzeuge, 113 Fahrzeugteile, 118 Schusswaffen und waffenähnliche Gegenstände, 186 gefälschte Urkunden und 910 sonstige Gegenstände sichergestellt bzw. beschlagnahmt.

Zu 10: In den in der Antwort zu Frage 9 geschilderten Fällen, in denen Gegenstände sichergestellt bzw. beschlagnahmt wurden, ist davon auszugehen, dass mit der Maßnahme die weitere Ausführung einer Straftat verhindert worden ist.