Bedeutungsverlust der deutschen Sprache

1. Wie steht die Niedersächsische Landesregierung angesichts ihrer Verantwortung für die Schulbildung im Lande Niedersachsen zur Auffassung sprachkritischer Initiativen, hier vor allem des Vereins zur Wahrung der deutschen Sprache (VWDS) (vgl. z. B. „Focus" Nr. 14 vom 03.04.1999, S. 192 ff.), der wachsende Gebrauch englischer Wörter und Wendungen im Deutschen in allen Bereichen des Lebens gefährde die eigenständige Entwicklung unserer Sprache?

2. Wie beurteilt die Landesregierung die Auffassung dieser Initiativen, durch die zunehmende Verwendung einer deutsch-englischen Sprachmischung drohten der Rückzug des Deutschen als eine der führenden Kultursprachen und die Rückbildung zu einer regionalen Sprache bzw. sogar zu einem Dialekt im angloamerikanischen Sprachraum?

3. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass sich der Unterricht an den Schulen in Niedersachsen mit diesen Veränderungen unserer Sprache und den damit verbundenen Folgen auseinandersetzen sollte?

4. Wenn ja, wie?

Bei der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache im März dieses Jahres zum Thema „Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz", an der einige Hundert Germanisten teilnahmen, wurde in mehreren Beiträgen auf Probleme in einigen Kommunikations- und Sachbereichen hingewiesen, die u. a. durch den Gebrauch von Anglizismen bedingt sind.

Hierin wurde von den Fachleuten aber keine generelle Gefahr für die deutsche Sprache gesehen. Die mit dem Gebrauch mancher, besonders neuer Anglizismen in bestimmten Kontexten verbundenen Verstehens- und Verständigungsprobleme unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen, die früher durch den Gebrauch von Entlehnungen aus anderen Sprachen (bes. Latein, Griechisch, Französisch, Italienisch) oder auch durch deutschstämmige Ausdrücke (etwa in der Rechts- und Verwaltungssprache) verursacht wurden und weiterhin verursacht werden können. Die Herkunft eines Wortes ist nur eines von mehreren Kriterien für seine Verständlichkeit und Gebräuchlichkeit.

Die Zunahme von Anglizismen in der deutschen Gegenwartssprache wird selbstverständlich auch von der Germanistik konstatiert. Während bis Ende des 19. Jahrhunderts vor allem Wörter aus dem Lateinischen und Französischen (Romanismen) ins Deutsche übernommen wurden, werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend Wörter zunächst aus dem britischen, seit Kriegsende vermehrt aus dem amerikanischen Englisch entlehnt. Der relative Anteil der Anglizismen am derzeitigen deutschen Wortschatz entspricht aber bisher nicht dem Anteil der Romanismen im Deutschen des 17. bis 19. Jahrhunderts, der seit Ende des 19. Jahrhunderts merklich zurückgegangen ist. Das dreibändige Anglizismen-Wörterbuch von Carstensen/Busse (Berlin/New York 1993 bis 1996) verzeichnet rund 3 500 Anglizismen, die seit Kriegsende in das Deutsche übernommen worden sind. Hinzu kommen einige weitere Hundert, die in den 90-er Jahren in Gebrauch geraten sind (z. B. Kids, Mobbing, Online), nachdem ein Teil der älteren kaum mehr gebraucht wird (z. B. Knickerbocker, Mackintosh, Ulster). Anglizismen sind nicht über den ganzen deutschen Wortschatz verteilt, sondern treten gehäuft im Sprachgebrauch von Sach- und Kommunikationsbereichen auf, die starken Veränderungen, darunter auch kurzlebigen Moden, unterliegen, also unter anderem in der Bekleidungs- und Sportartikelindustrie, der Computertechnik auch für den allgemeinen Gebrauch, in der kommerziellen Freizeitindustrie, in Unterhaltungssendungen von Funk und Fernsehen und besonders weitverbreitet in der Werbung. Zu beobachten ist aber auch, dass viele der angebotenen Anglizismen auf der „Verpackung" bleiben. Das heißt, manche Produkte oder Dienstleistungen werden konsumiert, ohne dass ihre englischen oder pseudo-englischen Bezeichnungen in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen würden.

Mit der nachhaltigen Aufnahme von Anglizismen verändert sich der deutsche Wortschatz, wie er sich schon immer in Teilen laufend verändert hat durch Übernahmen aus anderen Sprachen und durch innersprachliche Neubildungen (neuere Beispiele sind etwa Armutsfalle, Besserwessi, Datenautobahn, Elchtest). Die grammatische Struktur der deutschen Sprache verändert sich hierdurch jedoch nicht oder nur sehr langsam. (Grammatische Änderungen sind relativ langsame Prozesse, z. B. Vermeiden des Genitivs, die sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinziehen können, z. B. im Bereich der Flexionsformen oder der Wortstellung.) Sprachveränderungen sind Änderungen im Sprachgebrauch. Die deutschsprachigen Menschen selbst entscheiden durch ihren Sprachgebrauch, wie sich die deutsche Sprache weiter entwickelt. Dazu gehört, dass sie ihren eigenen Sprachgebrauch und den ihrer Kommunikationspartner kritisch beobachten. Das heißt auch, dass nicht jede sprachliche Neuheit kritiklos übernommen werden muss, insbesondere dann nicht, wenn die Motive etwa für den Gebrauch mancher Anglizismen im individuellen Sprachgebrauch (Imponiergehabe) oder in der Produktwerbung (Suggestion nicht oder kaum vorhandener Eigenschaften) offensichtlich sind. Der Gebrauch von modischen, irreführenden oder unverständlichen Anglizismen braucht also ebenso wenig kritiklos hingenommen zu werden, wie etwa ein unnötiger Gebrauch spezieller fachsprachlicher Ausdrücke, gleich welcher Herkunft, in Texten, die für Laien bestimmt sind.

Die Möglichkeiten, andere Menschen durch den eigenen Sprachgebrauch sprachlich zu beeinflussen, sind ungleich verteilt. Journalisten, Werbetexter, Schriftsteller, Politiker und Lehrer haben wegen des größeren Verbreitungsgrads ihrer Texte und mündlichen Äußerungen einen größeren Anteil an der weiteren Sprachentwicklung und damit auch eine besondere Verantwortung.

Dieses vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen wie folgt:

Zu 1 und 2:

Diese Einschätzung der deutschen Gegenwartssprache durch sprachkritische Initiativen wird weder von den meisten sachkundigen Wissenschaftlern, besonders den Germanis ten, noch von der Landesregierung geteilt. Es gibt andererseits Probleme für die weitere Entwicklung der deutschen Sprache, die aber mit dem Gebrauch von Anglizismen nur am Rande zu tun haben: In mehreren Sach- und Fachbereichen wird das Deutsche als Fachoder Verkehrssprache auch von deutschsprachigen Menschen völlig zugunsten des Englischen aufgegeben. Dies gilt unter anderem für die meisten Naturwissenschaften, in denen nur noch auf Englisch publiziert wird, und auch für einige große Industriebetriebe mit Sitz in Deutschland, die Englisch als Konzernsprache eingeführt haben. In diesen Bereichen entwickelt sich die deutsche Sprache nicht weiter, falls sich Wissenschaftler und Wirtschaftsagenten nicht zu einer kultivierten Zwei- oder Mehrsprachigkeit entschließen.

Dies ist freilich mit politischen Maßnahmen eines einzelnen Bundeslandes nicht zu beeinflussen. Es bedarf einer Meinungs- und Willensbildung im ganzen Bundesgebiet, möglichst sogar in allen deutschsprachigen Staaten und Regionen.

Zu 3: Ja.

Zu 4: Ein aufmerksames, kritisches Sprachbewusstsein entwickelt sich nicht naturwüchsig, sondern ist, wie es schon immer sein sollte, ein wichtiges Erziehungsziel von Schulen und Weiterbildungseinrichtungen. Zum Sprachunterricht gehören auch Bewusstmachung und kritische Erörterung von Sprachveränderungen in Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich der Veränderungen des Wortschatzes durch Entlehnungen aus anderen Sprachen. Dies sollte aber stets im Zusammenhang mit der Bewusstmachung von Funktionen des Sprachgebrauchs geschehen, und nicht etwa unter Rückgriff auf überholte Vorstellungen von „Sprachreinheit". So lernen bereits in der Orientierungsstufe die Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht, dass sich Sprache verändert; Wortneuschöpfungen durch Zusammensetzungen, Wortübernahmen dienen als Beispiele. In den Sekundarbereichen I und II thematisieren die Schülerinnen und Schüler an Beispielen Formen sprachlichen Wandels. So liegt z. B. in der Realschule der Schwerpunkt der unterrichtlichen Behandlung bei Veränderungen in der Sprachverwendung im Hinblick auf gesellschaftliche Wirklichkeit. Im Gymnasium, Schuljahrgänge 7 bis 10, geht es um Sprachnorm und Sprachwandel. Arten und Ursachen des Wandels stellen Unterrichtsinhalte im ersten Jahr der Kursstufe dar.