Arbeitsamt

11 Polizei

Nutzung von SPUDOK-Daten (Brandanschlag auf das Arbeitsamt Göttingen)

Nach einem Brandanschlag auf das Arbeitsamt Göttingen am 7. November 1997 kam es infolge der Auswertung eines Selbstbezichtigungsschreibens zu einem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwaltes beim Bundesgerichtshof (GBA). Das Verfahren richtete sich gegen Unbekannt u. a. wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung (Autonome im Bereich Göttingen). Der GBA beauftragte das Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA) mit der Wahrnehmung der polizeilichen Aufgaben auf dem Gebiet der Strafverfolgung. Im Rahmen der Ermittlungen erstellte das LKA im Februar 1998 auch eine Liste mit 105 Datensätzen (105-Liste). Die Angaben umfassen Namen, Vornamen, Geburtstag und -ort. Gemeinsames Merkmal dieses Personenkreises war nach den polizeilichen Unterlagen die Zurechnung zur linksextremistischen autonomen Szene Göttingens überwiegend in den 80er Jahren oder auch später.

Die Einbeziehung des Personenkreises in die laufenden Ermittlungen beruhte auf der Annahme, dass es sich bei den Tätern des Brandanschlages um Angehörige dieser Szene handeln könne, weil das aktuelle Selbstbezichtigungsschreiben deutliche Ähnlichkeiten mit Bekennerschreiben der „revolutionären Zellen" aus dem Jahre 1980 aufwies. Zweck der „105-Liste" war es, die Namen mit Daten des Arbeitsamtes Göttingen abzugleichen. Dem lag die Arbeitshypothese zu Grunde, dass nach dem Selbstbezichtigungsschreiben Angehörige der älteren autonomen Szene selbst von Maßnahmen des Arbeitsamtes betroffen sein konnten, was als mögliches Tatmotiv angesehen wurde. Die Verpflichtung des Arbeitsamtes zur Auskunftserteilung wurde durch einen Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes angeordnet. Hinweise auf einen Tatvorwurf gegen einzelne Personen ergab der Datenabgleich nicht. Das LKA hat den polizeilichen Ermittlungsvorgang zwischenzeitlich an den GBA abgegeben. Das Ermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Bei den auf der Liste aufgeführten Personen handelt es sich um solche, die heute u. a. als Journalisten, Rechtsanwälte, Pfarrer, Politiker, Direktoren, Dezernenten oder Ministerialbeamte tätig sind, vgl. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, LTDrs. 14/866. Unter dem Stichwort „105 Göttinger Dauerverdächtige" kam es zu einer kritischen Medienberichterstattung und zu parlamentarischen Beratungen, in denen u. a. die Meinung vertreten wurde, dass sich die Nutzung der vor langer Zeit gespeicherten Namen für aktuelle Ermittlungen nicht mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vertrage. Das Niedersächsische Innenministerium wies namens der Landesregierung dies wie auch den Vorwurf zurück, es handele sich bei der Namensauflistung um Namen aus einer alten SPUDOK-Datei (SPUDOK Nr. 74), deren Löschung im Februar 1983 die Landesregierung zwei Jahre später bestätigt hatte.

Vielmehr sei die „105-Liste" durch kriminalistische Auswertung manuell erstellt worden. Die Liste wurde mir von einer Abgeordneten des Niedersächsischen Landtages mit der Bitte um datenschutzrechtliche Überprüfung übergeben. Prüfungsgegenstand sollte die durch die Ermittlungstätigkeit zur Aufklärung des Brandanschlages auf das Arbeitsamt Göttingen ausgelöste polizeiliche Datenverarbeitung hinsichtlich der Erstellung und Nutzung von Personenlisten bei der Polizeiinspektion Göttingen und dem LKA sein.

Beim Polizeiamt für Technik und Beschaffung (PATB NI) besteht eine Auflistung sämtlicher SPUDOK-Anwendungen mit Informationen über Einrich tung/Löschung der Datei, Dateiname, Dateinummer, sachbearbeitende Dienststelle und Anzahl der Datensätze zum Zeitpunkt der Löschung. Ausweislich der Auflistung wurde die SPUDOK-Datei Nr. 74 am 4. Februar 1983 physikalisch gelöscht. Ein Reaktivieren der Daten ist technisch nicht möglich. Nach dem dortigen Erinnerungswissen wurde auch eine Kopie der Datei nicht gezogen. Für die Existenz dieser Datei sprechende Anhaltspunkte habe ich ebenso wenig gefunden wie eine der Datei entsprechende Liste in Papierform. Nach intensiven Erörterungen vor Ort besteht für mich kein Grund, an der Darstellung des LKA zu zweifeln, nach der es eine solche Liste nicht gegeben hat und dass ermittelnde Beamte eine solche Liste somit auch nicht für die Erstellung der „105-Liste" benutzt haben.

Ausgangspunkt der „Namenssuche" war - wie eingangs angesprochen - die Annahme, dass einer der Verfasser des Selbstbezichtigungsschreibens selbst von Maßnahmen des Arbeitsamtes Göttingen betroffen war und dass die Diktion des Selbstbezichtigungsschreibens auf die „ältere autonome Szene" hindeutete. Nach meinen Feststellungen erfasst die Liste Daten von 104 Menschen; zwei Datensätze betreffen ein und dieselbe Person. Eine Dokumentation der Arbeitsschritte zum Auffinden der Namen für die Liste gab es nicht, sie ist auch rechtlich nicht geboten. Die nachfolgende Darstellung beruht auf einer nachvollziehbaren Rekonstruktion der Quellen für die Namen auf der Liste. Danach stammen die Datensätze (Namen) aus drei Arten von Unterlagen, nämlich einem anderen strafrechtlichen Ermittlungsvorgang, zwei Sachakten (Staatsschutz) des LKA und einer Kriminalakte. Aus der Kriminalakte rühren ca. 4/5 der Namen auf der „105 Liste". Das übrige 1/5 verteilt sich auf die Quellen Sachakten (Staatsschutz) des LKA und den anderen Ermittlungsvorgang. Die Speicherung der Namen in den genannten Akten habe ich stichprobenartig überprüft. Die Namen auf der „105 Liste" kamen durch eine manuelle Auswertung der genannten Unterlagen zustande. Anhaltspunkte für eine nachträgliche Veränderung der Liste habe ich nicht festgestellt.

Die Polizei verzichtete seinerzeit auf eine Überprüfung der Aktualität der durch die Auswertung erhaltenen Personalien. Dies hätte nach Meinung des LKA weitere personenbezogene Ermittlungen nach sich gezogen, obwohl bereits zu Beginn feststand, dass, wenn überhaupt, nur ein Bruchteil des betroffenen Personenkreises für weitere Ermittlungen in Betracht gekommen wäre; insoweit wäre überflüssigerweise in großem Umfang in Rechte Nichtbetroffener eingegriffen worden.

Grundsätzlich bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen die Auswertung der Akten zur Aufklärung des Brandanschlages auf das Arbeitsamt Göttingen. Die Zusammenstellung der „105-Liste" war jedoch nur rechtmäßig, wenn die darin enthaltenen Daten zulässigerweise in den herangezogenen Unterlagen - dem strafrechtlichen Ermittlungsvorgang, den beiden Sachakten (Staatsschutz) des LKA und der Kriminalakte - gespeichert waren. Das ist bezüglich der Kriminalakte nicht der Fall.

Die Kriminalakte wird zu einem Wiederholungsstraftäter geführt, der der Göttinger autonomen Szene zugerechnet wird. Die Kriminalakte besteht seit 1975 und umfasst zwei volle Leitzordner. Ich habe bei drei Namen (Betroffene) die Rechtmäßigkeit ihrer Erfassung in dieser Kriminalakte überprüft. Nach meinen Feststellungen sind Schriftstücke zur Kriminalakte genommen worden, in denen der Name des Wiederholungsstraftäters genannt wurde. Soweit darin auch Daten der Betroffenen aus der ersten Hälfte der 80er Jahre enthalten waren, sind diese mit übernommen worden. Es kann dahinstehen, ob - wie das LKA meint - eine Speicherung von Daten Dritter schon seit Inkrafttreten des NGefAG (1994) erlaubt ist und insofern die erst mit dem Änderungsgesetz von 1997 gesetzlich neu aufgenommene Befugnis in § 39 Abs. 3 nur eine klarstellende Bedeutung hatte.

Zu bewerten ist hier die Zulässigkeit einer Zuspeicherung von Daten Dritter in einer Kriminalakte aus der ersten Hälfte der 80er Jahre, für die allenfalls der Übergangsbonus fruchtbar gemacht werden kann. Die Inanspruchnahme dieses Übergangsbonus setzt jedoch voraus, dass ohne die Zuspeicherung der Daten in der Kriminalakte die Funktionsfähigkeit der polizeilichen Arbeit nicht gewährleistet gewesen wäre.

Dies ist zumindest zweifelhaft, braucht hier aber nicht abschließend entschieden zu werden, denn zumindest die Speicherungsdauer der noch heute in den Akten enthaltenen Daten der Betroffenen ist rechtswidrig. Die in Rede stehenden Daten sind für keinen der in den §§ 38 und 39 NGefAG genannten Verwendungszwecke erforderlich. Die Speicherung von Daten Dritter in einer Kriminalakte erfolgt - auch nach Auffassung des Niedersächsischen Innenministeriums - zu dem Zweck, Informationen vorzuhalten, die einen Erkenntniswert für die Vorsorge zur Verfolgung von Straftaten oder die Verhütung einer künftigen Straftat derjenigen Person haben, zu der die Kriminalakte geführt wird. Diese Bedeutung haben die Zuspeicherungen von Daten Dritter hier nicht. Sie beinhalten Aussagen über nicht strafbewehrte Handlungen. Sie zeigen lediglich, dass die Betroffenen ebenso wie der Wiederholungsstraftäter an einer nicht verbotenen Demonstration teilgenommen haben. Eine darüber hinausgehende Verbindung mit dem Wiederholungsstraftäter dokumentieren sie nicht. Aus dieser - inzwischen mehr als 15 Jahre zurückliegenden - Tatsache lassen sich heute keinerlei Erkenntnisse über das künftige Verhalten des Wiederholungsstraftäters herleiten, die für eine Gefahrenvorsorge von Belang sein könnten. Die fortdauernde Speicherung dieser Daten ist deshalb nicht erforderlich. Nach § 39 a NGefAG sind personenbezogene Daten zu löschen, die zu einem der in den §§ 38 und 39 NGefAG genannten Zwecke nicht mehr erforderlich sind. Diese Vorschrift ist durch das Änderungsgesetz vom 28. November 1997 in das NGefAG eingefügt worden, um ein in sich geschlossenes System der Datenverarbeitungsvorschriften zu erreichen. Zuvor musste hinsichtlich der Frage der Löschung auf § 17 NDSG zurückgegriffen werden, soweit nicht an anderer Stelle die Löschung in speziellen Bestimmungen ausdrücklich angeordnet wurde. Materiell unterscheidet sich die Regelung im § 39 a NGefAG von der zuvor geltenden Rechtslage dadurch, dass die Löschungsverpflichtung nunmehr bereits dann eintritt, wenn die weitere Datenspeicherung zu einem der in den §§ 38 und 39 NGefAG genannten (konkreten) Verwendungszwecke nicht mehr erforderlich ist. Vor der Einfügung des § 39 a in das Gesetz trat die Löschungsverpflichtung gem. §§ 48 und 17 Abs. 2. Nr. 2 NDSG hingegen erst ein, wenn die weitere Datenspeicherung zur Aufgabenerfüllung der Daten verarbeitenden Stelle nicht mehr erforderlich war.

Die Vorschrift des § 38 Abs. 1 S. 4 NGefAG kann nicht zu einer anderen Bewertung führen. Hiernach dürfen neben den zur Zweckerreichung erforderlichen Daten ausnahmsweise auch solche Daten gespeichert werden, die zwar zur Zweckerreichung nicht benötigt werden, deren an sich gebotene Abtrennung aber aus tatsächlichen Gründen entweder nicht oder nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand möglich ist. Die Regelung bezieht sich nur auf den Vorgang der (Erst-)Speicherung von personenbezogenen Daten, nicht aber auf das weitere Vorhalten gespeicherter Daten. Damit sind z. B. auf Foto- oder Filmaufnahmen miterfasste Daten über unvermeidbar mitbetroffene Dritte angesprochen, die aus technischen Gründen nicht oder nur mit einem unvertretbaren Aufwand abgetrennt werden könnten (vgl. Böhrenz/Franke, NGefAG, 5. Aufl., § 38, Erl. 6). Die hier in Rede stehende Frage, wie lange bereits gespeicherte Daten aufbewahrt werden dürfen bzw. wann sie gelöscht werden müssen, beurteilt sich nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift hingegen nicht nach § 38 Abs. 1 S. 4 NGefAG, sondern nach § 39 a des Gesetzes. Im Falle einer von vornherein unzulässigen Speicherung würde sich die Löschungsverpflichtung aus § 48 NGefAG i. V. m. § 17 Abs. 2 Nr. 1 NDSG ergeben.