Maßnahmen zur Rückfallvermeidung haftentlassener Sexualstraftäter

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

1. in Niedersachsen eine psychotherapeutische Ambulanz für Sexualstraftäter (z. B. nach dem Stuttgarter Modell) einzurichten;

2. über den Stand der Forschung, der Weiterentwicklung von Behandlungsprogrammen und der Therapeutenqualifizierung zu berichten und ggf. im Verbund mit anderen Bundesländern weitere Initiativen zu ergreifen;

3. die Bewährungshilfe qualitativ und personell in die Lage zu versetzen, rechtzeitig und intensiv bei der Entlassung von Sexualstraftätern mitzuwirken. Für diese Probanden soll in jedem Landgerichtsbezirk mindestens eine Bewährungshelferin oder ein Bewährungshelfer besonders spezialisiert werden. Die Führungsaufsicht soll einbezogen werden;

4. zu prüfen, ob der Bewährungshilfe die Aufgabe der regionalen Vernetzung aller an der Betreuung von entlassenen Sexualstraftätern mitwirkenden Dienste, der Polizei, der Opferhilfe, des Präventionsrates und je nach örtlichen Gegebenheiten noch anderer Einrichtungen übertragen werden kann.

Zur Stärkung der Sicherheit der Allgemeinheit und des Schutzes der Bevölkerung vor gefährlichen Sexualstraftätern hat die Landesregierung eine Vielzahl von Maßnahmen eingeleitet, die verhindern sollen, dass Sexualstraftäter nach ihrer Entlassung aus dem Maßregel- und Strafvollzug erneut rückfällig werden. Dabei greift sie die Erkenntnis wissenschaftlicher Untersuchungen auf, dass durch eine qualifizierte ambulante Nachsorge das Rückfallrisiko entlassener Sexualstraftäter erheblich minimiert werden kann. Auf diese Weise leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Verhütung von Sexualstraftaten und zum Schutz potenzieller Opfer vor gefährlichen Straftätern.

Zu 1:

Das MS hat in Abstimmung mit dem MJ eine Konzeption zur Einrichtung einer forensischen Spezialambulanz für aus dem Maßregel- und Strafvollzug entlassene Sexualstraftäter entwickelt. Die Konzeption lehnt sich inhaltlich an die psychotherapeutische Ambulanz für Straftäter des Vereins Bewährungshilfe e. V. in Stuttgart an (so genanntes Stuttgarter Modell). Ursprünglich war beabsichtigt, noch in diesem Jahr beim Niedersächsischen Landeskrankenhaus Moringen einen Modellversuch zur ambulanten Nachsorge für Sexualstraftäter in der Region Hannover zu etablieren, der wissenschaftlich begleitet wird, um empirische Daten zu erlangen. Angesichts der Haushaltslage, die in sämtlichen Bereichen drastische Sparmaßnahmen erfordert, sieht sich die Landesregierung jedoch nicht in der Lage, mit dem Modellversuch bereits in diesem Jahr zu beginnen. Sie ist aber bestrebt, ihn so schnell wie möglich zu realisieren.

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Zu 2: Vor dem Hintergrund der gewachsenen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und zahlreicher gesetzlicher Änderungen im Bereich der Sexualstraftaten ist die Anzahl kriminologischer Forschungen zu den Themen Sexualdelinquenz und Rückfallprävention angestiegen. Gleichwohl liegen entsprechende Untersuchungen im deutschsprachigen Raum nur in geringer Anzahl vor. Zu nennen sind insbesondere die von der Kriminologischen Zentralstelle e. V. im Auftrag des Bundes und der Länder durchgeführten Untersuchungen.

Diese haben ergeben, dass im Jahre 2001 bei den Straftaten der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung annähernd 100 % der Angeklagten zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, deren Vollstreckung bei Vergewaltigungstaten zu 30 % und bei Straftaten der sexuellen Nötigung zu 65 % zur Bewährung ausgesetzt wurden. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern wurden bei etwa einem Viertel der Täter eine Geldstrafe und bei den verbleibenden drei Vierteln eine Freiheitsstrafe verhängt, deren Vollstreckung wiederum zu 65 % zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Bis zu den Studien der Kriminologischen Zentralstelle e. V. hat es nur wenige Untersuchungen zur Rückfallquote von Sexualstraftätern gegeben. Deren Ergebnisse können wegen der heterogenen Tätergruppe und der fehlenden Differenzierung nach Zeiträumen und Tätergruppen nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden. Nach heutigen Erkenntnissen kann von einer Rückfallquote von 20 % bis 40 % ausgegangen werden. Diese Zahl ist zwar niedriger als bei anderen Delikten. Es ist jedoch bekannt, dass Sexualdelinquenten durchaus auch noch nach mehr als zehn Jahren straffreier Lebensführung erneut einschlägig rückfällig werden können.

Neuere Studien zur Rückfälligkeit von Sexualdelinquenten haben verschiedene Risikomerkmale identifiziert. Danach scheinen solche Täter stärker rückfallgefährdet zu sein, die bereits in jungen Jahren mit einem Sexualdelikt auffällig geworden und/oder wegen eines Sexualdeliktes vorbestraft sind, eine sexuelle Präferenz für Kinder aufweisen, vor allem bei einer Neigung für Jungen, eine „antisoziale Persönlichkeitsstörung" aufweisen oder als so genannte „Psychopaths" klassifiziert wurden (etwa Personen mit besonderer Gefühlskälte und Gewissenlosigkeit), das Delikt an ihnen fremden Personen begangen haben, kriminogene Denkstile besitzen und eine Therapie abgebrochen haben. Ob im Einzelfall tatsächlich ein erhöhtes Rückfallrisiko zu prognostizieren ist, bedarf jedoch einer sorgfältigen, individuellen und differenzierten Diagnose des Straftäters.

In Niedersachsen sind bereits mehrere Evaluationen insbesondere über die Wirksamkeit sozialtherapeutischer Behandlungen durch Professor Dr. Specht von der Universität Göttingen durchgeführt worden. Weitere Untersuchungen werden derzeit in Abstimmung mit anderen Bundesländern von der Projektgruppe „Forschung im Justizvollzug" vorbereitet.

Ältere Studien kommen zu dem Schluss, dass sozialtherapeutische Behandlungen die Rückfallquote um ca. 10 % senken. Dabei ist unter einer sozialtherapeutischen Behandlung eine Vielzahl an Maßnahmen zu verstehen, wie etwa individuelle Psychotherapie, Stärkung von Schlüsselqualifikationen (Sozialkompetenz), Verbesserung des Aus- und Fortbildungsstandes und Einbeziehung des sozialen Umfeldes.

Zur Therapie von Sexualstraftätern werden im internationalen Schrifttum verschiedene Ansätze verfolgt. Dabei werden ein theoretisch fundiertes und klar strukturiertes, auf die Problematik des Klienten abgestimmtes Behandlungsprogramm, die Berücksichtigung der Kompetenzen des Täters bei der Planung von Maßnahmen, die Stärkung vorhandener „gesunder" Anteile und die Vermeidung - soweit veränderbar - von Risikofaktoren hervorgehoben.

Im Strafvollzug sind vor kurzem zwei Gruppenprogramme zur Behandlung von Sexualstraftätern vorgestellt worden, welche die vorgenannten Aspekte aufgreifen: Das „Sex Offender Treatment Programm" und das in Niedersachsen geschaffene „Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter".

Beide Programme basieren auf erkenntnis- und verhaltensbezogenen Prinzipien, die sich als günstig in der Behandlung von Sexualstraftätern erwiesen haben. In Niedersachsen sind in einzelnen Justizvollzugsanstalten und forensischen Abteilungen der Landeskrankenhäuser Trainerinnen und Trainer und Therapeutinnen und Therapeuten ausgebildet worden. Dort ist bereits mit einzelnen Programmen begonnen worden.

Im Bereich des Ausbildungs- und Qualifizierungsstandes der Therapeutinnen und Therapeuten besteht noch Handlungsbedarf. Deshalb hat der Deutsche Ärztetag 2003 die Einführung eines Schwerpunktes Forensische Psychiatrie beschlossen, der auf der Facharztweiterbildung aufbaut.

Die Ärztekammern sind beauftragt, entsprechende Weiterbildungscurricula zu entwickeln, zu deren Inhalten auch die Behandlung von Sexualstraftätern gehören soll.

In Niedersachsen gibt es bereits folgende Fort- und Weiterbildungsangebote:

­ mehrtägige, modulare Kurse und Seminare bzw. Fachtagungen zur Diagnostik und Therapie von Sexualstraftätern und zur Qualifizierung von forensischen Gutachterinnen und Gutachtern durch die Psychiatrie-Akademie Königslutter,

­ zweijährige berufsbegleitende Weiterbildung in Sexualmedizin und -therapie ohne forensischen Schwerpunkt durch das Sexualwissenschaftliche Forschungs- und Ausbildungsinstitut Niedersachsen und die Medizinische Hochschule Hannover,

­ Fachweiterbildungen bzw. -fortbildungen in forensischer Pflege u. a. auch mit dem Schwerpunkt des pflegerischen Umganges mit Sexualstraftätern im täglichen Setting für den stationären Maßregelvollzug durch die Weiterbildungsstätten der Niedersächsischen Landeskrankenhäuser.

Ein umfassendes Netzwerk von qualifizierten und zur Behandlung von Sexualstraftätern bereiten Therapeutinnen und Therapeuten in Niedersachsen ist derzeit noch nicht gebildet worden. Erste Ansätze eines solchen Netzwerkes haben sich jedoch aufgrund der curricularen Weiterbildung des Sexualwissenschaftlichen Forschungs- und Ausbildungsinstituts Niedersachsen gebildet. Auch besteht noch kein gezieltes und geplantes Fallmanagement für Sexualstraftäter, die aus dem Maßregelvollzug entlassen werden. Anders verhält es sich bei Sexualstraftätern, die aus dem Strafvollzug entlassen werden. Für sie organisieren die sozialtherapeutischen Einrichtungen des Strafvollzuges den Übergang aus der Therapie zur Behandlung nach der Entlassung. Die Bildung von Netzwerken und die Entwicklung eines Fallmanagements sollen auch eine Aufgabe der beabsichtigten, in diesem Jahr jedoch noch nicht realisierbaren forensischen Spezialambulanz sein.

Zu 3: Die Landesregierung beabsichtigt, insgesamt 26 Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfer aus sämtlichen elf Landgerichtsbezirken die Teilnahme an einer - bundesweit einmaligen - berufsbegleitenden Qualifizierungsmaßnahme zu ermöglichen, welche die Besonderheiten in der Betreuungsarbeit von Sexualstraftätern zum Gegenstand haben wird.

Mindestens zwei Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfer aus jedem Landgerichtsbezirk, aus den großen Landgerichtsbezirken Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Osnabrück sogar drei, sollen ab August 2003 an der insgesamt 18-monatigen Fortbildung, die mit einem Kolloquium und einer Zertifizierung enden wird, teilnehmen. Die Qualifizierungsmaßnahme, deren Kosten das MJ trägt, wird von zwei erfahrenen Diplom-Psychologen geleitet, die bereits in Niedersachsen - und in anderen Ländern - erfolgreich Fortbildungsveranstaltungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht durchgeführt haben. Für die Bediensteten der Führungsaufsichtsstellen sollen ergänzend Fortbildungen zur Aufsicht und Kontrolle sowie der Betreuung von Sexualstraftätern durchgeführt werden.

Am 21.05.2003 hat in den Räumen des Landgerichts Hannover eine Informationsveranstaltung vor etwa 50 interessierten Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern stattgefunden, bei der die beiden Diplom-Psychologen die geplante Qualifizierungsmaßnahme vorgestellt haben. Die Qualifizierungsreihe ist mittlerweile ausgeschrieben worden. Die Oberlandesgerichte sind gebeten worden, interessierte Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfer zu benennen. Die ersten Module sollen im August und November 2003 stattfinden.

Zu 4: Es hat bereits eine Fachtagung zur Vernetzung ambulanter Therapieangebote für Sexualstraftäter stattgefunden, an der Bedienstete der Bewährungshilfe, der Führungsaufsicht, des Strafvollzuges und Angehörige freier Träger teilgenommen haben. Darüber hinaus prüft die Landesregierung, in welchem Umfang es nach Abschluss der Qualifizierungsmaßnahme möglich sein wird, neben der geplanten forensischen Spezialambulanz auch Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern die Aufgabe der regionalen Vernetzung mit anderen Stellen und Einrichtungen sowie freien Trägern, die sich der Kontrolle und Betreuung von Sexualstraftätern widmen, zu übertragen.