Rechtfertigt die derzeitige Überbelegung in den niedersächsischen Justizvollzugsanstalten die Abschaffung des Rechts auf Einzelhaftplätze?

Einer Pressemitteilung des Justizministeriums vom 26. August 2003 ist zu entnehmen, dass die Landesregierung wegen der starken Belegung der niedersächsischen Gefängnisse eine Bundesratsinitiative vorbereitet, mit der der gesetzliche Anspruch auf Einzelhaftplätze „gelockert" werden soll. Die Justizministerin lässt sich mit den folgenden Worten zitieren: „Ich sehe keinen wirklich überzeugenden Grund, warum gerade Strafgefangene einen Anspruch auf Einzelunterbringung haben sollen, während alte Menschen in Pflegeheimen oftmals zu zweit in einem Zimmer untergebracht sind". Abgesehen davon, dass eine Justizministerin den Unterschied zwischen Strafhaft und Pflegeheim kennen müsste, suggeriert diese Äußerung, dass in Niedersachsen alle Strafgefangenen in Einzelzellen untergebracht seien.

Das am 1. Januar 1977 in Kraft getretene Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz) besagt im § 18, dass Gefangene im geschlossenen Vollzug während der Ruhezeiten allein in ihren Hafträumen untergebracht werden. Eine gemeinsame Unterbringung von zwei Gefangenen in einem Haftraum ist jedoch nicht allgemein ausgeschlossen: § 201 Nr. 3 S. 1 des Strafvollzugsgesetzes enthält Übergangsregelungen, die eine gemeinsame Unterbringung in vor 1977 errichteten Anstalten zulässt, solange die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern.

Ich frage die Landesregierung:

1. Welche niedersächsischen Vollzugsanstalten bzw. Teilanstalten an Außenstandorten wurden vor 1977 errichtet?

2. Über wie viele Haftplätze und Hafträume verfügen die einzelnen Anstalten bzw. Teilanstalten?

3. Wie viele dieser Hafträume (aufgeteilt nach den einzelnen Anstalten) sind als Einzelhaftplätze konzipiert?

4. Wie viele dieser Hafträume werden zurzeit tatsächlich als Einzelhaftplätze genutzt (aufgeteilt nach einzelnen Anstalten)?

5. Wie groß (in Quadratmetern) sind diese Hafträume jeweils?

6. Welche niedersächsischen Vollzugsanstalten bzw. Teilanstalten an Außenstandorten wurden nach 1977 errichtet?

7. Über wie viele Haftplätze und Hafträume verfügen die einzelnen Anstalten bzw. Teilanstalten?

8. Wie viele dieser Hafträume (aufgeteilt nach einzelnen Anstalten) sind als Einzelhaftplätze konzipiert?

9. Wie viele dieser Hafträume werden zurzeit tatsächlich als Einzelhaftplätze genutzt?

10. Wie groß (in Quadratmetern) sind diese Hafträume jeweils?

11. Wie viele Haftplätze in welchen Anstalten können zurzeit wegen Baumaßnahmen nicht belegt werden?

12. Wie viele davon sind Einzelhaftplätze?

13. Wann werden welche Baumaßnahmen abgeschlossen und die Plätze wieder belegbar sein?

14. In wie vielen niedersächsischen Pflegeheimen sind mehrere alte Menschen in einem Zimmer untergebracht, das nur der durchschnittlichen Größe einer Einzelzelle entspricht?

15. Wie viele Einzelzellen in Niedersachsen entsprechen der durchschnittlichen Größe eines doppelt belegten Raumes in einem Altenpflegeheim?

16. Hält es die Landesregierung für vorstellbar, in Zeiten zunehmender Pflegebedürftigkeit auf den Neubau von Pflegeheimen zu verzichten und stattdessen mehrere alte Menschen in Zimmern unterzubringen, die der durchschnittlichen Größe einer Einzelzelle im Niedersächsischen Justizvollzug entsprechen? Wenn nein, warum nicht?

17. Sind für die Landesregierung neben der Formulierung des § 18 des Strafvollzugsgesetzes noch weitere Gründe erkennbar, die für eine Einzelunterbringung von Strafgefangenen sprechen?

Die niedersächsischen Justizvollzugsanstalten, insbesondere jene des geschlossenen Männervollzuges, sind seit Anfang der 90er-Jahre überbelegt. Die Landesregierung bringt trotz der dramatischen Haushaltslage des Landes den Bau der beiden neuen Justizvollzugsanstalten in Sehnde und Rosdorf zum Abschluss.

§ 18 Abs. 1 Satz 1 StVollzG legt fest, dass Gefangene während der Ruhezeit allein in ihren Hafträumen untergebracht werden müssen. Der gesetzliche Anspruch kann auch heute, 26 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, noch nicht erfüllt werden. Ein Großteil der Gefangenen wird auch zur Ruhezeit gemeinschaftlich untergebracht. Indessen machen Gefangene zunehmend ihren Anspruch auf Einzelunterbringung gerichtlich geltend. Die Zahlung von Schmerzensgeld belastet die öffentlichen Haushalte zusätzlich, ohne dass diese Aufwendungen zur Erreichung des Vollzugszieles beitragen.

Mit der geplanten Bundesratsinitiative will die Landesregierung das verfassungsrechtlich Gebotene (die menschenwürdige Unterbringung) dem im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Staates tatsächlich Möglichen (Gemeinschaftsunterbringung in ausreichend großen Hafträumen unter bestimmten Umständen) anpassen. Die Einzelunterbringung soll hierbei Regelfall bleiben.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Zu 1: Vollständig oder in Teilen vor 1977 errichtet oder als Vollzugseinrichtung in Betrieb genommen wurden die folgenden Anstalten und auswärtigen Abteilungen (in alphabetischer Reihenfolge der jeweiligen Hauptanstalt, auswärtige Abteilungen sind kursiv gedruckt): Braunschweig, Gifhorn, Helmstedt, Peine, Bückeburg, Bad Gandersheim, Alfeld, Hannover, Hildesheim, Lingen, Groß-Hesepe, Osnabrück, Lingen-Damaschke, Meppen, Aurich, Emden, Meppen Baumschuleweg, (Oldenburg) Delmenhorst, Nordenham, Oldenburg Gerichtsstraße, Wilhelmshaven, (Rosdorf) Göttingen, Duderstadt, Einbeck, Holzminden, Salinenmoor, (Uelzen) Cuxhaven, Lüneburg, Stade, Vechta, Vechta Freigänger, Achim, Verden, JVA für Frauen in Vechta, Vechta Falkenrott, Wolfenbüttel, Königslutter und Goslar.

Zu 2, 3, 4 und 5:

Die Zahl der Haftplätze und Hafträume der vollständig oder in Teilen vor 1977 errichteten Anstalten und auswärtigen Abteilungen, die Zahl der als Einzelhaftplätze ausgewiesenen Hafträume und ihre

Größe in Quadratmetern sowie die tatsächliche Unterbringung der Gefangenen (einzeln oder gemeinsam) ergeben sich aus der anliegenden Tabelle 1. Darin ist die Aufteilung nach Einzel- und gemeinsamer Unterbringung am 30.09.2003, allerdings auf Anstalts- oder Abteilungsebene und nicht für jeden einzelnen Haftraum, angegeben. Die im Jahr 1977 oder danach errichteten oder kernsanierten Hafträume sind gesondert kenntlich gemacht.

Zu 6: Vollständig im Jahr 1977 oder danach errichtet oder kernsaniert oder als Vollzugseinrichtung in Betrieb genommen wurden die folgenden Anstalten oder auswärtigen Abteilungen (in alphabetischer Reihenfolge der jeweiligen Hauptanstalt, auswärtige Abteilungen sind kursiv gedruckt): Burgdorf (übernommen 1985), Celle, (Rosdorf) Göttingen-Leineberg (übernommen 1982), Hameln, Hameln Freigänger, (Hannover) Bildungsstätte, Hannover Freigänger (übernommen 1996), Langenhagen (übernommen 2000), (Lingen) Osnabrück Schinkelstraße (übernommen 1985), Oldenburg und Uelzen, Lüneburg Brockwinkler-Weg (übernommen 1983).

Zu 7, 8, 9 und 10:

Die Haftplätze und Hafträume der vollständig im Jahr 1977 oder danach errichteten Anstalten und auswärtigen Abteilungen, die Zahl der als Einzelhaftplätze ausgewiesenen Hafträume und ihre Größe in Quadratmetern sowie die tatsächliche Unterbringung der Gefangenen (einzeln oder gemeinsam) ergeben sich aus der anliegenden Tabelle 2. Darin ist die Aufteilung nach Einzel- und gemeinsamer Unterbringung am 30.09.2003, allerdings auf Anstalts- oder Abteilungsebene und nicht für jeden einzelnen Haftraum, angegeben.

Zu 11, 12 und 13:

Zurzeit können 115 Haftplätze in der JVA Celle wegen Baumaßnahmen nicht belegt werden. Alle diese Plätze sind Einzelhaftplätze, sie werden voraussichtlich ab Mai 2004 wieder belegbar sein.

Zu 14: Die durchschnittliche Größe einer Einzelzelle beträgt 7,97 m².

In keinem niedersächsischen Pflegeheim sind mehrere alte Menschen in einem Zimmer dieser Größe untergebracht, weil dies den Vorschriften des Heimgesetzes und den entsprechenden Ausführungsvorschriften widerspräche, die für doppelt belegte Schlafräume eine Mindestgröße von 18 m² vorsehen.

Zu 15: Keine, weil bis auf drei alle 3 178 Einzelhafträume kleiner sind als die vorgeschriebene Mindestgröße von 18 m² eines doppelt belegten Schlafraumes in einem Pflegeheim.

Zu 16: Nein. Weder der Neubau von Pflegeheimen noch die Unterbringung von alten Menschen sind Aufgaben des Landes. Über den Neubau von Pflegeeinrichtungen entscheiden die Investoren nach unternehmerischen Gesichtspunkten. Das Land hat jedoch mit § 6 des Niedersächsischen Pflegegesetzes die rechtlichen Grundlagen zur Sicherstellung eines ausreichenden Angebotes an Pflegeeinrichtungen geschaffen. Danach sind die Landkreise und kreisfreien Städte verpflichtet, eine den örtlichen Anforderungen entsprechende notwendige pflegerische Versorgungsstruktur sicherzustellen.

Die Wahl eines Heimes und der dortigen Wohnbedingungen unterliegt grundsätzlich dem freien Willen der stationär pflege- oder hilfebedürftigen alten Menschen. Dieser findet seinen rechtsfähigen Ausdruck im Heimvertrag zwischen dem pflegebedürftigen Menschen und dem Heimträger.

Die Wohn- und Lebensbedingungen im Heim stehen zudem unter dem besonderen Schutz des Staates. Hierzu trifft das Heimgesetz des Bundes die entsprechenden ordnungsrechtlichen Regelungen und legt durch Ausführungsvorschriften Mindeststandards fest. Diese sehen z. B. in der Heimmindestbauverordnung für einen Wohnplatz für eine Person eine Wohnfläche von mindestens 12 m², für zwei Personen von mindestens 18 m² vor. Diese Regelungen werden von der Landesregierung im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit der älteren Menschen auch ausdrücklich begrüßt.