Welche Straftatbestände bilden den Schwerpunkt der Verurteilungen getrennt nach Jugendlichen und

Antwort auf eine Große Anfrage

- Drucksache 15/1721 Wortlaut der Großen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 15.02.

Stand der Jugendkriminalität und der Sanktionspraxis in Niedersachsen

Nach einer Phase des Anstiegs der Jugendkriminalität Mitte der 90er-Jahre haben sich die registrierten Fälle von Jugendkriminalität in den letzten Jahren wieder reduziert. Jugendkriminalität ist nach sozialwissenschaftlicher und kriminologischer Forschung in den meisten Fällen episodenhaft und eng mit den Problemen in der Adoleszenzphase verknüpft. Die überwiegende Mehrheit der Kriminologen, Juristen und Sozialwissenschaftler lehnt eine Verschärfung des Jugendstrafrechts ab, weil die gegenwärtige Gesetzeslage adäquate Reaktionen hinreichend ermöglicht. Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) hat sich in Deutschland bewährt. Der deutsche Juristentag und die Jugendstrafrechtsreform-Kommission der Deutschen Vereinigung für Jugendhilfe und Jugendgerichtshilfe (DVJJ) haben sich im Jahr 2002 ausgiebig mit dem Phänomen Jugendkriminalität und der Sanktionspraxis beschäftigt und halten das gegenwärtige Recht für angemessen und zielführend. Doch trotz dieser einschlägigen Expertenmeinungen fordert die Landesregierung durch Bundesratsinitiativen eine Verschärfung des geltenden Rechts.

Wir fragen die Landesregierung:

I. Stand der Jugendkriminalität in Niedersachsen

1. Wie hat sich in Niedersachsen in den letzten zehn Jahren die Kriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden, getrennt nach Jahren sowie bezogen auf 100 000 der altersentsprechenden Bevölkerung, entwickelt

a) anhand der Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik,

b) anhand der Zahlen der Verurteiltenstatistik (aufgeteilt nach Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln [insbesondere Jugendarrest], Jugendstrafe mit/ohne Bewährung und Freispruch),

c) anhand der Zahlen der staatsanwaltlichen Erledigungsstatistik,

d) anhand von Zahlen der Strafvollzugsstatistik?

2. Welche Straftatbestände bilden den Schwerpunkt der Verurteilungen, getrennt nach Jugendlichen und Heranwachsenden?

a) In welchen Deliktsbereichen sind im vergangenen Jahrzehnt gravierende Zu- Abnahmen zu verzeichnen?

b) Welche Ursachen sind hier ausschlaggebend?

3. In welchem Umfang ist in den letzten zehn Jahren bei Strafverfahren gegen Heranwachsende gemäß § 105 JGG Jugendstrafrecht angewandt worden?

II. Konzept der Landesregierung

4. Warum fordert die Landesregierung durch verschiedene Bundesratsinitiativen beständig eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, obwohl es dafür in der Wissenschaft und Forschung, wie z. B. dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, und in den Fachverbänden (Deutscher Juristentag, Deutsche Vereinigung für Jugendhilfe und Jugendgerichtshilfe, Deutscher Anwaltsverein) keine Unterstützung gibt?

5. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse bzw. empirischen Forschungsergebnisse begründen die Forderung nach Strafverschärfung wie die geforderte Erhöhung der Höchststrafe, den Warnschussarrest oder die Umgehung des Regel-Ausnahme-Verhältnis gemäß § 105 JGG?

6. Wie bewertet die Landesregierung die Tatsache, dass nach Erkenntnissen der Kriminologie und Strafrechtswissenschaft kein Zusammenhang zwischen Kriminalitätsaufkommen und der strafrechtlichen Sanktionspraxis existiert und somit Strafverschärfung kein Beitrag zur Kriminalitätseindämmung ist?

7. Wie häufig wurde in den letzten zehn Jahren in Urteilen niedersächsischer Jugendgerichte das Höchstmaß des Strafrahmens von zehn Jahren Jugendstrafe ausgeschöpft?

8. Sind der Landesregierung niedersächsische Staatsanwälte und Richter bekannt, die das Höchstmaß des Strafrahmens als zu niedrig bewerten? In welcher Relation steht diese Zahl zu denjenigen, die das bestehende Recht für ausreichend und angemessen befinden?

9. Wie hoch sind die Erlassquoten der zu einer Jugendstrafe mit Bewährung verurteilten Probanden anhand der Bewährungshilfestatistik sowohl vor als auch nach (Teil-)Vollzug?

10. Wie hoch ist die Rückfallquote (getrennt nach Wiederinhaftierung/Wiederverurteilung) nach Vollverbüßung der Jugendstrafe?

11. Wie sehen die Rückfallquoten nach verbüßtem Jugendarrest aus?

12. Welche wissenschaftlichen Befunde liegen der Landesregierung vor, die die Einführung eines so genannten Warnschussarrestes rechtfertigen?

13. Gibt es empirische Untersuchungen, die belegen oder nahe legen, dass durch den Vollzug des Arrestes eine Schockwirkung erreicht wird, die über die Dauer des Arrestvollzuges hinausgeht und eine dauerhafte Abschreckungswirkung erzielt?

14. Impliziert das Konzept des Warnschussarrestes eine psychologisch-pädagogische Betreuung in den Arrestanstalten?

15. Wie soll der Warnschussarrest die nach Meinung der Landesregierung zu erwartende, abschreckende Wirkung erzielen, wenn die Vollstreckung des Arrestes erst Monate nach Rechtskraft des Urteils erfolgt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Justiz beständig Personal abbauen muss?

16. Wie viele Plätze stehen aktuell in den niedersächsischen Jugendarrestanstalten zur Verfügung? Bitte getrennt nach Plätzen für weibliche und männliche Jugendliche und Heranwachsende.

17. In welchem Ausmaß müssten bei Einführung des Warnschussarrestes die Jugendarrestanstalten in Niedersachsen voraussichtlich ausgebaut werden, und mit welchen Kosten wäre dieser Ausbau verbunden?

18. Ist statt des in seiner Wirkung bzw. Sinnhaftigkeit sehr umstrittenen Warnschussarrestes nicht ein weiterer Ausbau der neuen ambulanten sozialpädagogischen Maßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes erstrebenswert, da hier neben den guten Erfolgen der Grundsatz „ambulant vor stationär" beachtet wird?

19. Will die Landesregierung das Angebot der ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetzes in Niedersachsen flächendeckend aufrechterhalten und entsprechend fördern?

20. Will sie bei den ambulanten Maßnahmen eine Qualitätskontrolle und Verbesserung durch eine Landesbehörde gewährleisten?

21. Wird sie das Angebot für den Täter-Opfer-Ausgleich für Jugendliche aufrechterhalten?

22. Wird sie das Konzept geschlossene Heimunterbringung für strafunmündige „Intensivtäter" aufrecht erhalten, nachdem weder die finanziellen Mittel noch ein adäquater Träger dafür aufgebracht bzw. gefunden werden konnten?

III. Präventionsmaßnahmen bzw. Konzepte

Warum schließt die Landesregierung das Oldenburger Fortbildungszentrum für regionale Lehrerfortbildung, in dem Mediatoren für Konfliktschlichtung in Schulen ausgebildet werden, die laut örtlichem Präventionsrat gut arbeiten?

24. Welche kriminalpräventiven Konzepte hat die Landesregierung als Antwort auf Jugendund Heranwachsendenkriminalität erarbeitet (aufgegliedert nach den beteiligten Ministerien), und wo liegen die Schwerpunkte?

25. Wie bilanziert sie den im Jahr 2003 verabschiedeten Schulerlass zur verstärkten Zusammenarbeit von Schule und Polizei? Ist die Gewalt an Schulen messbar zurückgegangen, oder hat sich durch die Anzeigeverpflichtung allein die statistisch erfasste Kriminalität erhöht?

26. Wie sind die mit Jugend- und Heranwachsendenkriminalität beteiligten Institutionen an dem Präventionskonzept mit befasst?

27. Welche kriminalpräventiven Konzepte bietet die Landesregierung für jugendliche Zuwanderer und Spätaussiedler an? Wie groß ist der hierfür bereitgestellte finanzielle Rahmen, bezogen auf die letzten fünf Jahre und zukünftig für das Jahr 2005?

28. Welche kriminalpräventiven Konzepte gibt es in diesem Zusammenhang im Bereich der Drogenprävention? Wie groß ist der hierfür bereitgestellte finanzielle Rahmen, bezogen auf die letzten fünf Jahre und zukünftig für das Jahr 2005?

Antwort der Landesregierung Niedersächsisches Justizministerium Hannover, den 06.05.

- 4210 I - S 3. 259 In den letzten zehn Jahren ist die polizeilich registrierte Kriminalität Jugendlicher und Heranwachsender in Niedersachsen insgesamt gestiegen. Auch der prozentuale Anteil der Tatverdächtigen unter 21 Jahren an dem allgemeinen Kriminalitätsaufkommen ist im Vergleich zu ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung unverhältnismäßig hoch und machte im Jahr 2004 29,7 % aus.

Erfreulich ist aber der Rückgang der Zahlen der Kriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden in den letzten beiden Jahren. Die Fallzahlen der Jugendlichen und Heranwachsenden in Niedersachsen sanken von 82 167 im Jahr 2002 auf 78 650 im Jahr 2003 um mehr als 4% und im Jahr 2004 auf 77 46 um weitere 2%.

Die effektive Bekämpfung der Jugendkriminalität ist ein zentrales Anliegen der Landesregierung.

Die Landesregierung fordert in diesem Zusammenhang keine generelle Verschärfung des Jugendstrafrechts. Das geltende Jugendstrafrecht hat sich in seiner Grundstruktur und in seinen Leitprinzipien bewährt, ist aber dennoch in Teilbereichen verbesserungsbedürftig. Dabei ist nicht Härte das Ziel, sondern Konsequenz und Effektivität.

Zur Einwirkung auf die Täter und zum Schutz potentieller Opfer muss die Justiz in Jugendstrafverfahren die im Einzelfall erzieherisch notwendige Reaktion besonders zeitnah treffen und deutlich Grenzen setzen. Angesichts des Erziehungszieles des Jugendgerichtsgesetzes ist es unerlässlich, dass den Gerichten und Staatsanwaltschaften eine möglichst breite Palette an Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung steht, um weitere Straftaten und damit insbesondere kriminelle Karrieren von Jugendlichen verhindern zu können.