Haushaltsnotlage in Niedersachsen

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 27.05.1992 (BVerfGE 86, 148 ff.) die Grenzen für das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage definiert. Indikatoren hierfür sollen die Verhältnisse der Kreditfinanzierungsquote und der Zinssteuerquote eines Landes zum Durchschnitt aller Länder sein.

Zum damaligen Zeitpunkt stellte das BVerfG fest, dass bei einer Zinssteuerquote von 13,7 % von einer extremen Haushaltsnotlage auszugehen war. Diese Haushaltsnotlage führte zu der Gewährung von Sonderbundesergänzungszuweisungen für die Länder Bremen und Saarland.

Wir fragen die Landesregierung:

1. Wie hoch sind die Kreditfinanzierungs- und die Zinssteuerquoten in Niedersachsen, in den anderen Bundesländern und im Länderdurchschnitt in den Jahren 2005 bis 2009?

2. Befindet sich Niedersachsen nach der Definition des BVerfG vom 27.05.1992 in einer extremen Haushaltsnotlage?

3. Wie wäre die Situation zu beurteilen, wenn Schulden, für deren Rückzahlung das Land einzustehen hat und die durch privatrechtliche Gesellschaften aufgenommen wurden, die vollständig im Eigentum des Landes stehen, in die beiden Indikatoren mit eingerechnet würden?

4. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfassungsrechtlich Anspruch auf besondere Finanzzuweisungen des Bundes hat?

5. In welcher Höhe könnte das Land unter Berücksichtigung der damaligen Regelungen für das Saarland und Bremen zusätzlich Finanzhilfen des Bundes beanspruchen?

6. Ist es für die Frage, ob sich ein Bundesland in einer extremen Haushaltsnotlage befindet, entscheidend, ob Kreditverbindlichkeiten beim Land direkt oder bei einer 100-prozentigen Tochtergesellschaft bestehen?

7. Aus welchen Gründen hat das Land bisher nicht um Sonderbundesergänzungszuweisungen nachgesucht, obwohl der heutige Ministerpräsident dies bereits am 01.11.1995 in einem Entschließungsantrag (Drs. 13/1488) gefordert hat?

Die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte erfordert auf allen Ebenen außerordentliche Anstrengungen, damit in Deutschland insgesamt die Regeln des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die einzelnen verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenzen eingehalten werden können und darüber hinaus insbesondere den Erfordernissen einer nachhaltigen, auch an den Interessen der nächsten Generation ausgerichteten, Finanzpolitik nachgekommen werden kann. Ansatzpunkt hierfür kann nur eine Konsolidierung der Haushalte von Bund, Sozialversicherungen sowie Ländern und Gemeinden insgesamt sein.

Ein Aufschub eigener Konsolidierungsmaßnahmen in der Erwartung von Haushaltsnotlagenhilfen von anderer Seite kann nicht weiterhelfen. Im Sinne der Generationengerechtigkeit und der Wiederherstellung finanzpolitischer Handlungsfähigkeit wirkt nur eine Konsolidierung der Staatsfinanzen insgesamt. Niedersachsen hat deshalb 2003 eindeutig die Weichen in Richtung Ausgabenreduzierung und Defizitabbau gestellt: Die Konsolidierungsmaßnahmen der Landesregierung ließen in 2003 kein Wachstum der Ausgaben zu, 2004 konnten die Ausgaben des Landes um 1,5 % gesenkt werden, der Haushaltsplan 2005 sieht sogar eine weitere Reduzierung der Ausgaben um 3,5 % vor.

Das Defizit des Landeshaushalts konnte nach dem Negativrekord des Jahres 2002 deutlich verringert werden; Niedersachsen konnte sein Defizit von 17,4 % der bereinigten Ausgaben - dem schlechtesten Wert unter den westdeutschen Ländern im Jahr 2002 - im letzten Jahr auf 8,5 % reduzieren. Die Nettokreditaufnahme wird von Jahr zu Jahr stufenweise in 350-Mio.-Euro-Schritten abgesenkt und soll bis 2008 auf 1 100 Mio. Euro reduziert werden. Für 2009 sieht die Finanzplanung einen Wert von 880 Mio. Euro vor; womit ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einem Haushalt ohne Nettokreditaufnahme markiert wäre, den die Landesregierung ausdrücklich anstrebt.

Die Auseinandersatzung damit, ob Niedersachsen die Kriterien erfüllt, die in den 90er Jahren für eine Haushaltsnotlage gegolten haben, leistet erkennbar keinen Beitrag für die Erreichung des Konsolidierungsziels.

In seiner Entscheidung vom 27. Mai 1992 geht das Bundesverfassungsgericht zunächst davon aus, dass eine Haushaltsnotlage eines Landes anhand von Indikatoren festgestellt werden kann, zu denen insbesondere die Zinssteuerquote und die Kreditfinanzierungsquote gehören. Welche Indikatoren und ggf. in welcher Kombination sie heranzuziehen sind, lässt das Gericht offen; es entscheidet vielmehr mit Bezug auf die ihm konkret vorliegenden Zahlen für das Saarland und Bremen, dass eine Haushaltsnotlage anzunehmen ist, wenn die Kreditfinanzierungsquote mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Länder liegt sowie die Zinssteuerquote weit über dem Durchschnitt der Länder liegt. Dabei betrugen die Kreditfinanzierungsquoten 1986 für das Saarland (einschließlich Kommunen) 11,3 % und für Bremen 19,3 % gegenüber der länderdurchschnittlichen Kreditfinanzierungsquote von 5,3 %. Die Zinssteuerquoten betrugen für das Saarland (einschließlich Kommunen) 20,6 % und für Bremen 26,3 % gegenüber der länderdurchschnittlichen Zinssteuerquote von 12 %. Der im zweiten Absatz der Kleinen Anfrage genannte Wert der Zinssteuerquote für Schleswig-Holstein (ohne Kommunen; Jahr 1990) in Höhe von 13,7 % wird vom Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle und nur als Messgröße für die notwendige Sanierungshilfe genannt.

Eine Zinssteuerquote von 13,7 % im Jahr 1990 hätte das Gericht nach seinen Ausführungen nicht als Indiz für eine Haushaltsnotlage gewertet, weil diese nicht „weit" über dem Durchschnitt aller Länder von 11, 2 % lag.

Im Weiteren unterscheidet das Bundesverfassungsgericht danach, ob einer Haushaltsnotlage eines Landes durch Bundesergänzungszuweisungen abgeholfen werden kann, die sich im Rahmen der normalen, durch die Befähigung zur Selbsthilfe bestimmten Funktion dieses Instrumentes halten, oder ob die Haushaltsnotlage ein extremes Ausmaß erreicht. Nur unter der Bedingung einer extremen Haushaltsnotlage verpflichtet die bündische Solidarität Bund und Länder zu besonderen Hilfsanstrengungen und sind Sonder-Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Haushaltssanierung im Ausnahmefall zulässig. Eine solche extreme Haushaltsnotlage ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Unterstützung fordert, die keine Hilfe zur Selbsthilfe der betroffenen Länder mehr darstellt, sondern einer Sanierung durch den Bund gleichkommt. Dass die für Saarland und Bremen festgestellte Haushaltsnotlage ein extremes Ausmaß erreichte, begründet das Bundesverfassungsgericht in einem Gesamturteil u. a. mit der Entwicklung der Investitions- und Zinsausgaben, der langjährigen deutlichen Überschreitung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Nettokreditaufnahme und der Höhe der geschätzten Mittel, die erforderlich waren, um die beiden Länder wieder an die Indikatorenwerte anderer Länder anzunähern.

Als Folge der extremen Haushaltsnotlage des Saarlandes und Bremens spricht das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung des Bundes und der Länder aus, den beiden Ländern mit konzeptionell aufeinander abgestimmten Maßnahmen beizustehen. Es formuliert keinen unmittelbaren Anspruch auf bestimmte Zuweisungen, sondern einen Auftrag an den Bundesgesetzgeber, die erforderlichen Instrumente und Bedingungen der bündischen Nothilfe zu bestimmen.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1: Für den Vergleich der Indikatoren zur Feststellung einer Haushaltsnotlage sind Landes- und kommunale Ebene zusammenzufassen. Hierfür liegen einheitlich erfasste Werte für alle Länder aus der Kassenstatistik für das Jahr 2004 vor.

Kreditfinanzierungsquote (Nettokreditaufnahme [zuzüglich Rest Sanierungs-Bundesergänzungszuweisungen] in Prozent der bereinigten Ausgaben) Zinssteuerquote (Zinsausgaben in Prozent der Steuereinnahmen nach Länderfinanzausgleich und Bundesergänzungszuweisungen [ausgenommen Rest Sanierungs-Bundesergänzungszuweisungen])

Für den Planungszeitraum 2005 bis 2009 liegen belastbare zusammengefasste Daten nicht vor.

Eine Finanzplanungsstatistik der Gemeinden gibt es nicht mehr. Kreditfinanzierungsquoten und Zinsteuerquoten der Länder ohne Gemeindeebene- sind soweit bereits Finanzplanungen der Länder veröffentlicht wurden, verfügbar. Sie haben allerdings wegen der unterschiedlichen Kommunalisierungsgrade in den Ländern und unterschiedlicher Planungsstände nur eine sehr eingeschränkte Aussagekraft. Für westdeutsche Flächenländer liegen bisher folgende Zahlen aus den jeweiligen Finanzplanungen vor: Kreditfinanzierungsquote (Länder) (Nettokreditaufnahme in Prozent der bereinigten Ausgaben)