„Gefährderanschreiben" juristisch gescheitert
Am 22.09.2005 bestätigte der 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ein Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 27.01.2004, in dem das Versenden so genannter Gefährderanschreiben im Jahr 2001 als rechtswidrig angesehen wird. Vorausgegangen war, dass am 07.12.2001, im Vorfeld des EU-Gipfels im belgischen Laeken, die damalige PI Göttingen an insgesamt 13 Personen „Gefährderanschreiben" verschickt hatte. In diesen Schreiben wurde den Empfänger/innen „nahe gelegt", sich nicht an den Protesten in Belgien zu beteiligen. Ganz offen wies die Göttinger Polizei in dem Schreiben auf mögliche Konsequenzen hin, nämlich die „Gefahr präventiver Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr (bis hin zur Zurückweisung an der deutschbelgischen Grenze) oder strafprozessualer Maßnahmen aus Anlass der Begehung von Straftaten im Rahmen der demonstrativen Aktionen".
Das Verwaltungsgericht Göttingen, bestätigt durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, hat nunmehr festgestellt, dass zumindest das Schreiben an den Kläger rechtswidrig war, weil damit gezielt und unmittelbar in die durch Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 Abs. 1 GG garantierte Willensentschließungs- und Verhaltensfreiheit eingegriffen wurde, da die notwendigen Voraussetzungen für ein Eingreifen im Sinne des Nds. SOG bzw. NGefAG nicht vorlagen.
Ich frage die Landesregierung:
1. Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus den Entscheidungen des VG Göttingen und des OVG Lüneburg zu rechtswidrigen „Gefährderanschreiben"?
2. Haben niedersächsische Polizeibehörden seit Dezember 2001 weitere „Gefährderanschreiben" versandt? Wenn ja, wie viele und in welchen Zusammenhängen bzw. zu welchen Anlässen?
3. Werden von den niedersächsischen Polizeibehörden auch „Gefährderanschreiben" in Zusammenhang mit Castortransporten versandt? Wenn ja, auf welcher rechtlichen Grundlage?
4. Aus welchen Gründen hält die Landesregierung die Versendung von „Gefährderanschreiben" aus polizeitaktischer oder sicherheitspolitischer Sicht für sinnvoll?
Mit Urteil vom 27.01.2004 hatte das Verwaltungsgericht Göttingen in einem Einzelfall entschieden, dass das an den Kläger mit Datum vom 07.12.2001 gerichtete „Gefährderanschreiben" der Polizeiinspektion Göttingen rechtswidrig ist. Die Berufung der Polizeidirektion Göttingen hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht Lüneburg mit Urteil vom 22.09.2004 zurückgewiesen und damit das erstinstanzliche Urteil bestätigt.
Das Gericht hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, dass im Fall des Klägers die Voraussetzungen für ein „Gefährderanschreiben" auf der Grundlage des § 11 NGefAG (jetzt Nds. SOG) nicht gegeben waren, da zum Zeitpunkt der Adressierung des „Gefährderanschreibens" an den Kläger letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine von diesem ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorgelegen hätten.
Gleichwohl hat das OVG Lüneburg mit seiner Entscheidung ausdrücklich die generelle Zulässigkeit von „Gefährderanschreiben" als Maßnahme der Polizei bestätigt. In seinem Urteil hat das OVG ausgeführt, dass soweit nach Erkenntnissen der Polizei im Zuge geplanter Demonstrationen die Gefahr gewalttätiger Ausschreitungen gegeben ist, ein „Gefährderanschreiben" an eine Person ergehen kann, wenn eine konkrete Prognose ergibt, dass von dieser Person die Gefahr von entsprechenden Rechtsverstößen ausgeht; dies gilt auch, wenn bei einer Demonstration im Ausland begründeter Anlass zur Befürchtung besteht, dass solche Personen aus dem Bundesgebiet anreisen werden. Konkret führt das Gericht aus, dass eine Gefahrenprognose dann ein „Gefährderanschreiben" rechtfertigt, wenn die Person bereits wegen der Begehung von mindestens einer auf den Anlass des „Gefährderanschreibens" bezogenen Gewalttat rechtskräftig verurteilt wurde und beweiskräftige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die/der Verurteilte sich erneut an der Begehung gleich gelagerter Delikte beteiligen wird. Die Rechtmäßigkeit wird ebenfalls bejaht, wenn gegen eine Person in zeitlicher Nähe zu der polizeilichen Maßnahme und wegen einer Gewalttat, die im sachlichen Zusammenhang mit dem geplanten „Gefährderanschreiben" steht, staatsanwaltschaftlich ermittelt wurde, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Sanktion gekommen ist. In diesem Fall muss jedoch eine durch Tatsachen belegte Prognose vorliegen, nach der die Person mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine anlassbezogene Straftat begehen wird.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1:
Die Entscheidung des OVG Lüneburg ist den Polizeibehörden wegen der konkret vom Gericht beschriebenen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines „Gefährderanschreibens" zur Beachtung bei zukünftigen Maßnahmen zugeleitet worden.
Zu 2: „Gefährderanschreiben" werden durch die niedersächsischen Polizeibehörden nicht durchgehend statistisch erfasst, so dass eine abschließende Bezifferung der Fälle nicht möglich ist. Zur Beantwortung der Anfrage habe ich die niedersächsischen Polizeibehörden um Bericht gebeten. Danach wurden seit 2001 insgesamt 131 „Gefährderanschreiben" versandt bzw. persönlich übergeben (Stand: 24.11.2005).
In 20 Fällen wurden „Gefährderanschreiben" an Angehörige der „Graffitiszene", die für eine persönliche Ansprache nicht erreicht werden konnten, versandt. In insgesamt 108 Fällen bildeten internationale Sportereignisse (Fußball-EM-2004 in Portugal, Confederations-Cup 2005 in Deutschland) den polizeilichen Anlass zum Versand bzw. zur Übergabe von „Gefährderanschreiben".
Im Zusammenhang mit dem „G-8-Gipfel" in Evian/Frankreich im Jahr 2003 hat die niedersächsische Polizei in drei Fällen von dem Instrument des „Gefährderanschreibens" Gebrauch gemacht.
Zu 3: Im Zusammenhang mit CASTOR-Transporten wurden von niedersächsischen Polizeibehörden keine „Gefährderanschreiben" versandt.
Zu 4: Das Instrument des „Gefährderanschreibens" ist eine geeignete Präventivmaßnahme zur Verhütung von Straftaten, insbesondere um im Zusammenhang mit internationalen Großveranstaltungen gewalttätigen Ausschreitungen durch beispielsweise gewaltbereiten Hooligans oder anderen Störern entgegen zu wirken. Bei Vorliegen einer entsprechenden Gefahrenprognose wird potenziellen Gewalttätern auf diese Weise deutlich gemacht, dass sie aufgrund einer in der Vergangenheit zur Last gelegten Verhaltensauffälligkeit der Polizei bekannt sind. Zudem wird in der Regel auf die möglichen Gefahren und Folgen einer möglichen Teilnahme an Versammlungen oder Veranstaltungen allgemein hingewiesen. Insbesondere der Verhütung staatenübergreifender Straftaten kann so bereits im Inland, in diesem Fall von Niedersachsen aus, vorgesorgt werden.
Durch diese Art der Prävention trägt die niedersächsische Polizei mit dazu bei, die Pflichten der Bundesrepublik gegenüber anderen Staaten zu verwirklichen. Im Rahmen der rechtlichen und taktischen Möglichkeiten wird hierdurch verhindert, dass beispielsweise militante Globalisierungsgegnerinnen und -gegner sowie gewaltbereite Hooligans unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit oder der Teilnahme an Sportereignissen erhebliche Straftaten im Ausland begehen können.