Ist die stärkere Bewertung mündlicher Leistungen in der Schule sinnvoll?

Seit den 60er-Jahren wird zur Benotung schulischer Leistungen die mündliche Beteiligung am Unterricht stärker berücksichtigt als die schriftlichen Arbeiten.

Die bisher umfangreichste internationale Leistungsüberprüfung von Schülern, die PISA-Studie des Jahres 2001, bewertete keineswegs das mündliche Leistungsvermögen, sondern das schriftliche.

Alle darauf aufbauenden Tests wurden gleichfalls ausschließlich auf schriftlichem Weg durchgeführt.

Wir fragen die Landesregierung:

1. Wird in Ländern außerhalb der Bundesrepublik Deutschland bei der Bewertung schulischer Leistungen gleichfalls nach mündlich und schriftlich unterschieden, und werden gleichfalls die mündlichen Leistungen im Unterricht stärker bewertet als die schriftlichen Arbeiten?

2. Welche neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es gegebenenfalls zur Rolle der mündlichen oder schriftlichen Schulleistungen und ihrer Benotung?

3. Wenn Leistungsüberprüfungen erhebliche Mängel in den schriftlichen Grundlagen der Fächer Mathematik und Deutsch (Lesen, Schreiben) ergeben, ist es dann richtig, die Überbetonung des Mündlichen beizubehalten?

4. Hält es die Landesregierung für gerechtfertigt, Schüler mit einem zurückhaltenden Wesen und guten schriftlichen Leistungsnachweisen aufgrund ihrer weniger auffallenden mündlichen Leistungen in der Benotung deutlich herabzustufen, auch wenn die schriftlichen Arbeiten darauf schließen lassen, dass sie den Stoff voll beherrschen?

5. Hält die Landesregierung es nicht für paradox, dass Schüler, die z. B. im PISA-Test erstklassig abschneiden, in der Zeugnisbenotung hinter solche zurückfallen, die beim PISA-Test schlechter abschneiden, aber durch die Überbewertung der mündlichen Beteiligung besser zensiert werden?

6. Wie steht die Landesregierung zu der Auffassung, dass Schülerinnen und Schüler individuell völlig unterschiedlich sind?

7. Müsste nicht bei denjenigen, die schriftlich gut sind, das Schriftliche stärker gewichtet werden als das Mündliche, bei den mündlich Guten hingegen das Mündliche, anstatt wie bisher alle Schülerinnen und Schüler mit einem einzigen Maßstab zu messen?

8. Wenn die Landesregierung unsere Meinung zu Frage 5 teilt, gedenkt sie, die Richtlinien zur Benotung schulischer Leistungen zu überarbeiten?

Die Beobachtung, Feststellung und Bewertung der Lernergebnisse haben für Schülerinnen und Schüler die pädagogische Funktion der Bestätigung, Ermutigung, Hilfe zur Selbsteinschätzung und Korrektur. Individuelle Lernfortschritte sind dabei zu berücksichtigen. In besonderen Fällen sind die Erziehungsberechtigten über den Leistungsstand und über Lernschwierigkeiten gesondert zu informieren. Die Leistungsbewertung darf sich nicht in punktueller Leistungsmessung erschöpfen, sondern muss den Ablauf eines Lernprozesses einbeziehen. Bei allen Entscheidungen, die für den weiteren Bildungsweg von Bedeutung sein können, müssen neben der Leistungsbewertung auch die Bedingungen beachtet werden, die den Lernerfolg einer Schülerin oder eines Schülers beeinträchtigen können.

Der Leistungsbewertung dienen schriftliche, mündliche und andere fachspezifische Lernkontrollen.

In allen Fächern haben mündliche und fachspezifische Lernkontrollen eine große Bedeutung. Während in Bezug auf die Anzahl der zu zensierenden schriftlichen Lernkontrollen pro Fach und Schuljahrgang in der Grundschule naturgemäß eine offenere Regelung existiert, gelten in den Schuljahrgängen 5 bis 10 der allgemein bildenden Schulen in der Regel folgende Vorgaben:

In einem fünfstündigen Fach sind fünf bis sieben, in einem vierstündigen Fach vier bis sechs und in einem dreistündigen Fach drei bis fünf schriftliche Lernkontrollen je Schuljahr zu schreiben; dabei gibt die mittlere Zahl den Regelfall an. In den übrigen Fächern sind mit Ausnahme des Faches Sport zwei zensierte schriftliche Lernkontrollen im Schuljahr verbindlich. Bei Unterricht, der nur ein Schulhalbjahr erteilt wird, entscheidet die Fachkonferenz, ob eine zensierte schriftliche Lernkontrolle verbindlich ist oder zwei zensierte schriftliche Lernkontrollen verbindlich sind. Die schriftlichen Lernkontrollen sollen in den Schuljahrgängen 5 und 6 in der Regel nicht länger als eine Unterrichtsstunde, in den übrigen Schuljahrgängen in der Regel nicht länger als zwei Unterrichtsstunden, im Fach Deutsch in den Schuljahrgängen 8 bis 10 in der Regel nicht länger als drei Unterrichtsstunden dauern.

Neben den schriftlichen Lernkontrollen stützt sich die Mitarbeit im Unterricht auf mündliche und andere fachspezifische Lernkontrollen. Zur Mitarbeit im Unterricht zählen neben der Beteiligung im Unterricht z. B. die Anfertigung von Stundenprotokollen, Referaten, die Präsentation von Recherchen, die schriftliche Auswertung von naturwissenschaftlichen Experimenten oder Schülerbetriebspraktika oder die Führung der Haushefte. In den Fächern Musik und Kunst kann auch die Anfertigung fachpraktischer Arbeiten an die Stelle einer schriftlichen Lernkontrolle treten.

Nach dem Erlass „Konferenzen und Ausschüsse der öffentlichen Schulen" vom 10.01.2005 berät und entscheidet die Fachkonferenz u. a. über die Gewichtung schriftlicher Lernkontrollen im Vergleich zur Mitarbeit im Unterricht, also zu mündlichen und anderen spezifischen Lernkontrollen.

Diese Gewichtung wird auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien für das jeweilige Fach vorgenommen. In den Fächern, in denen drei und mehr schriftliche Lernkontrollen je Schuljahr geschrieben werden, werden beide Teilbereiche etwa zu gleichen Teilen gewertet, in den Fächern, in denen zwei schriftliche Lernkontrollen je Schuljahr geschrieben werden, wird der Teilbereich „Mitarbeit im Unterricht" etwas stärker gewichtet.

Die Leistungsbewertung in der Schule erfolgt in Ländern außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in vergleichbarer Weise. Dies bestätigen auch niedersächsische Lehrkräfte, die mehrere Jahre als Auslandslehrkräfte entweder an den Deutschen Schulen im Ausland oder an einer ausländischen Schule unterrichtet haben. Dasselbe berichten Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen eines Schüleraustausches oder Auslandsaufenthaltes für längere Zeit am Unterricht an einer ausländischen Schule teilgenommen haben.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich namens der Landesregierung die Fragen im Einzelnen wie folgt:

Zu 1:

Siehe einleitende Bemerkung. Dabei hängt das Gewichtungsverhältnis der beiden Teilbereiche „schriftliche Lernkontrollen" und „Mitarbeit im Unterricht" wie in Deutschland vom jeweiligen Fach ab.

Zu 2: Dem Kultusministerium liegen keine neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Frage vor, die zu einer von der bisherigen Praxis abweichenden Einschätzung gelangen.

Zu 3: Die Fächer Deutsch und Mathematik zählen zu den so genannten Langfächern, die mit einer höheren Wochenstundenzahl unterrichtet werden. Aus diesem Grund werden in den beiden Fächern pro Schuljahr deutlich mehr schriftliche Lernkontrollen geschrieben als in den so genannten Kurzfächern, in der Regel fünf schriftliche Lernkontrollen pro Schuljahr. Von einer Überbetonung des „Mündlichen" in diesen Fächern kann deshalb nicht die Rede sein.

Zu 4: Nein. Die Beurteilung solcher Schülerinnen und Schüler liegt im pflichtgemäßen Ermessen und in der pädagogischen Verantwortung der einzelnen Lehrkraft. Dabei hat diese bei der Bewertung von dem durch die Fachkonferenz festgelegten Gewichtungsverhältnis in dem betreffenden Fach auszugehen.

Zu 5: Der reale Sachverhalt ist ein anderer. Eine Überbewertung der „mündlichen Beteiligung" ist allein deshalb ausgeschlossen, weil sich die Bewertung der Mitarbeit im Unterricht nicht auf die Beteiligung im Unterricht beschränkt.

Zu 6: Mit dem Begriff „individuell" wird zu Recht zum Ausdruck gebracht, dass es bei der Bewertung immer um die einzelne Schülerpersönlichkeit geht.

Zu 7: Nein. Es kommt gerade darauf an, Ergebnisse in beiden Teilbereichen zu erzielen. Eine Fremdsprachenkompetenz ohne Kommunikationskompetenz ist z. B. ebenso wenig vorstellbar wie eine mathematische Kompetenz ohne Kompetenz in der schriftlichen Darstellung mathematischer Verfahren.

Zu 8: Siehe Antwort zu Frage 5.