Für ein modernes Strafvollzugsgesetz in Niedersachsen

Bundestag und Bundesrat haben nach einem zähen Diskussionsprozess eine Föderalismusreform beschlossen. Im Zuge der Neugestaltung der Staatsarchitektur wurde die Gesetzeskompetenz für den Strafvollzug gegen den fast einhelligen Rat von Fachleuten und Fachverbänden an die Länder vergeben. Befürchtet werden unter anderem ein „Schäbigkeitswettlauf" und ein Billigvollzug in den verschiedenen Bundesländern. Die bereits vorgelegten Eckpunkte des niedersächsischen Justizministeriums bestätigen diese Befürchtungen, da nahezu ausschließlich Verschärfungen und ein repressiverer Strafvollzug in Niedersachsen angekündigt werden. So sollen unter anderem die Mehrfachzellenbelegung deutlich erleichtert, Vollzugslockerungen eingeschränkt und die Sicherheit als gleichwertiges Vollzugsziel neben der Resozialisierung eingeführt werden. Dabei zeigt sich schon heute, dass der fragwürdige so genannte Chancenvollzug in Niedersachsen eine Überforderung für viele Gefangene bedeutet. Der größte Teil der Inhaftierten bekommt nur noch die Basisbehandlung und wird damit faktisch von einem wirksamen Behandlungsvollzug ausgeschlossen. Damit besteht die Gefahr, dass Straftäter nicht effektiv und erfolgreich behandelt werden und erneut Straftaten begehen. Der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten darf indessen nicht nur während des Strafvollzuges eingehalten werden, sondern muss genauso nach der Haftverbüßung gelten. Insofern besteht ein genuines Interesse von Gesellschaft und Staat an einem wirkungsvollen Behandlungsvollzug, statt einem reinen Verwahrvollzug, der in Niedersachsen droht.

Ein modernes, an wissenschaftliche und empirische Kriterien angelehntes Strafvollzugsgesetz muss daher den Behandlungsvollzug und die Resozialisierung von Straftätern in den Vordergrund stellen, um die Opfer vor weiteren Straftaten zu bewahren und die Täter wirksam, human und nachhaltig zurück in die soziale Gemeinschaft zu integrieren.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, ein Strafvollzugsgesetz mit folgenden Grundsätzen zu erarbeiten:

1. An den bewährten Normen und den grundsätzlichen Prinzipien des Bundesstrafvollzugsgesetzes ist festzuhalten.

2. Das prioritäre Vollzugsziel ist die Resozialisierung des Straftäters mit anschließender Legalbewährung in Freiheit. Als nachrangiges Vollzugsziel wird die Sicherheit der Allgemeinheit vor weiteren Strafen betont.

3. Die Grundlagen des Vollzuges, die Rechte und Pflichten und Grundrechtseinschränkungen des Gefangenen und die Sicherheitsinteressen der Anstalt sind in ein ausgewogenes Verhältnis auf der Basis des geltenden Rechts im neuen Landesrecht zu normieren.

4. Ein wirksamer Behandlungsvollzug nach modernen Erkenntnissen ist festzuschreiben. Resozialisierungsmaßnahmen, Sozialarbeit und therapeutische Maßnahmen sind nicht ausschließlich oder schwerpunktmäßig vom Straftäter und seinem Verhalten abhängig zu machen. Dabei soll die Einsicht der Gefangenen hinsichtlich seiner Verantwortung für die Tat, insbesondere für die beim Opfer verschuldeten Tatfolgen, geweckt und gefördert werden.

5. Die innervollzuglichen Behandlungs-, Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sind auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen weiter auszubauen.

6. Die Arbeitsentlohnung ist nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben umzusetzen und die Integration der Gefangenen in die gesetzlichen Sozialsysteme anzustreben.

7. Der Grundsatz der Einzelzellenunterbringung ist beizubehalten. Im geschlossenen Vollzug ist eine Gemeinschaftsunterbringung nur bei Hilfsbedürftigkeit, bei Gefahr für Leib und Leben oder nur vorübergehend und aus zwingenden Gründen zulässig.

8. Der offene Vollzug, allgemeine Vollzugslockerungen und Hafturlaub sind nach den derzeit geltenden Normen des Strafvollzugsgesetzes zu regeln und nicht weiter einzuschränken.

Vollzugslockerungen sind vom Verhalten des Gefangenen abhängig zu machen und nach den Grundsätzen der Vollzugsziele und der Verhältnismäßigkeit in das Ermessen der Anstaltsleitung zu stellen.

9. Besuchsregelungen und die Förderung von Sozialkontakten sind auf der Grundlage des geltenden Rechtes beizubehalten und zu fördern und nicht aufgrund von Arbeitsverpflichtungen der Gefangenen zu erschweren.

10. Die Eigenbeteiligung der Gefangenen an den Vollzugskosten und Maßnahmen sind nicht dergestalt zu erhöhen, dass damit eine Opferentschädigung, die Entschuldung und damit die gesellschaftliche Wiedereingliederung des Straftäters erschwert werden. Grundlage für die Heranziehung der Gefangenen zu den allgemeinen Vollzugskosten ist das Vollzugsziel.

11. Besondere Sicherungsmaßnahmen, Einzelhaft und Fesselungen sind nach geltendem Recht in das Landesgesetz zu überführen.

12. Die geltenden Regeln des Datenschutzes werden nicht aufgeweicht.

13. Durch eine verzahnte und integrierte vollzugliche und nachvollzugliche Betreuung von Straftätern sind Reibungsverluste und Kommunikationsdefizite aller an der Resozialisierung beteiligten Gruppen abzubauen.

14. PPP-Modelle sind ausschließlich für die bauliche Erstellung von Vollzugsanstalten zu erwägen, aber die genuinen vollzuglichen Aufgaben insbesondere mit verfassungsrechtlicher Eingriffsrelevanz in staatlicher Verantwortung zu belassen.

15. Regelmäßige Evaluationen sind festzuschreiben und der Gesetzgeber ist zu verpflichten, das Gesetz nach fachlichen und empirischen Erkenntnissen und Grundsätzen fortzuentwickeln.

Die Landesregierung wird zudem aufgefordert, sich mit den übrigen Bundesländern auf einen gemeinsamen Entwurf für die Länder abzustimmen, damit sich die Vollzugsrealität in den Ländern nicht unverhältnismäßig unterscheidet und Gefangene in den verschiedenen Ländern die gleichen Chancen für eine erfolgreiche Resozialisierung haben.

Begründung:

Das neue niedersächsische Strafvollzugsgesetz soll an den Grundsätzen des derzeit geltenden Strafvollzugsgesetzes von 1977 festhalten. Übereinstimmend werden dem Bundesgesetz gute Noten ausgestellt. (Arloth: 2001; Kaiser/Schöch: 2003) So kommt auch die niedersächsische Landesregierung in ihrem Eckpunktepapier für ein Landesstrafvollzugsgesetz zu dem Urteil, dass sich der Strafvollzug in Deutschland durch das Bundesgesetz positiv entwickelt hat. Um so unverständlicher bleibt daher nach wie vor die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf Landesebene.

Dem Bundesstrafvollzugsgesetz ging eine lange und intensive Diskussion voraus, bis es schließlich konsensual im Bundestag verabschiedet wurde. Es gab weder vor der Föderalismusreform noch während der ersten Beratungen für eine neue Staatsarchitektur jemals Forderungen und Argumente für eine Verlagerung des Strafvollzuges auf Landesebene. Allein sachfremde Erwägungen haben zu diesem Ergebnis geführt. Damit sich die vollzugspolitischen Bedingungen nicht unsachgemäß und unverhältnismäßig verändern, ist daher an den guten Grundsätzen des Bundesstrafvollzugsgesetzes festzuhalten, so wie es von der Fachwelt und Wissenschaft fast einhellig gefor dert wird und in den Fachberatungen des Bundestages zum Thema Strafvollzug geäußert wurde.

Während es zum bestehenden Strafvollzugsgesetz bereits eine umfangreiche Rechtsprechung und damit auch Kommentierung gibt und somit weitgehend Rechtssicherheit im Vollzugsrecht und damit in den Anstalten Planungssicherheit herrscht, würde ein neues Strafvollzugsgesetz eine neue Auslegung durch die Gerichte erfordern und die bereits stark strapazierte niedersächsische Justiz erneut belasten.

In letzter Zeit hat sich die kriminal- und vollzugspolitische Diskussion stark verändert. Über Kriminalität und Vollzugspolitik wird fast ausschließlich noch aus sicherheitspolitischer Perspektive berichtet und diskutiert. Straftaten und Haftausbrüche werden zum Teil medial stark skandalisiert und verzerrt, sodass einerseits die Furcht vor Verbrechen zunimmt, obwohl in vielen Kriminalitätsbereichen das Straftatenaufkommen sinkt, und andererseits der Gesetzgeber dadurch in einen immer stärkeren Druck gerät, auch gegen fachliche Expertise repressive Normen zu erlassen. Justizministerinnen und -minister der Länder stehen vor allem bei den seltenen Gefangenausbrüchen stark unter Druck und lassen sich bei ihrer Gesetzgebung davon leiten. Kurzatmige Normsetzung, die sich an Stimmungen und Ängsten orientiert, ist aber vor allem in der sensiblen Vollzugsmaterie gefährlich und kontraproduktiv. Ein wirksamer Behandlungsvollzug, der die Straftäter positiv nachhaltig verändert, kostet Geld und ist nicht zum Nulltarif zu haben. Vor allem aber kann ein behandlungsorientierter und aufgeklärter Strafvollzug nicht vollkommen risikolos sein und darf die Verantwortung sowohl inner- als auch außervollzuglich nicht ausschließlich auf die Inhaftierten abwälzen.

Vollzugslockerungen, die für das erneute Erlernen von Freiheit unabdingbar notwendig sind, dürfen daher nicht immer stärker eingeschränkt werden, so wie es in den Eckpunkten für ein niedersächsisches Vollzugsgesetz geplant wird. Die Landesregierung verlagert damit die genuine staatliche Verantwortung für einen erfolgreichen Vollzug immer stärker auf die Inhaftierten und die Anstalten und stiehlt sich selbst aus der Verantwortung. Gegen die grundsätzliche Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Gefangenen ist nichts einzuwenden, solange die Zielgruppe damit nicht überfordert wird. Der so genannte Chancenvollzug in Niedersachsen ist indessen genau das ­ er überfordert viele Strafgefangene und sorgt so für Frustration und Demotivation und verhindert damit einen positiven Lebenswandel der Inhaftierten. Die Folgen haben Straftäter und Gesellschaft gleichermaßen auszubaden.

Vollzugsgrundsätze und Prinzipien, die sich in der Behandlung am ausschließlich selbstverantwortlichen Menschenbild orientieren, sind bei der Behandlung von Strafgefangenen weder sinnvoll noch zielführend. Zeigen doch die Lebensbiographien der Straftäter, dass sie mit den Anforderungen an ein selbstverantwortliches Leben vorerst gescheitert sind und daher erst zu einem straffreien Leben in Verantwortung gebracht werden müssen. „Gerade weil die Sozialisation fehlgelaufen und gescheitert ist, sind besondere Behandlungsmaßnahmen erforderlich, die in den allgemeinen Lebensverhältnissen nur selten anzutreffen sind." (Kaiser/Schöch: Strafvollzug, 2003) Vollzugspolitische Überforderungen der Gefangenen und eine immer stärkere Akzentuierung der Repression bergen indessen die Gefahr des erneuten Scheiterns von Häftlingen. Ein positives, selbstbewusstes und eigenständiges Leben in sozialer Verantwortung wird damit nicht erreicht. Die unzutreffende und polemische Kritik im niedersächsischen Eckpunktepapier hinsichtlich einer früheren übertriebenen „Fürsorgeorientierung" im Strafvollzug lässt erahnen, wohin die vollzugliche Reise in Niedersachsen gehen soll: Weniger Sozialpädagogik und Behandlung und mehr Verwahrung, kaschiert unter dem fragwürdigen Dogma der Eigenverantwortung. Opferempathie, Verantwortung und Selbstständigkeit müssen aber gelernt werden - für viele Straftäter und ihre Behandler ist dies ein anspruchsvolles und langwieriges Unterfangen. Dabei steht außer Frage, dass ein Strafvollzugsgesetz nicht nur Ansprüche und Rechte der Strafgefangenen akzentuiert, sondern auch umfangreiche Pflichten der Häftlinge begründet. Behandlungsverweigerung, Desinteresse und Motivationsdefizite der Gefangenen müssen daher durch Fördern und Fordern überwunden werden und müssen bei hartnäckiger Behandlungsverweigerung auch disziplinarrechtlich geahndet werden.

Das Erlernen von Empathie für die Opfer bedarf der intensiven Auseinandersetzung mit der Tat und kann nur von qualifiziertem Personal geleistet werden. Die Viktimisierungsforschung zeigt, dass die Opfer von Straftaten in erster Linie Einsicht und Lernprozesse vom Straftäter erwarten und weniger an einer möglichst harten Sanktion interessiert sind.

Durch die Absicht der Landesregierung, die Sicherheit der Bevölkerung als gleichwertiges Ziel neben der Resozialisierung festzuschreiben, werden die schon bestehenden Zielkonflikte in den Anstalten weiter erhöht und die Resozialisierung erschwert. Gerade Ermessensentscheidungen der Anstaltsleiter sind von den Zielbestimmungen des Strafvollzugsgesetzes abhängig - eine Gleichwertigkeit von Resozialisierung und Sicherheit würde die Anstaltsleitung damit in ständige Entscheidungskonflikte bringen, ob der Behandlung oder der Sicherheit Vorrang eingeräumt werden soll. Vor allem vor dem Hintergrund der Bedeutung von Vollzugslockerungen ist daher von dieser Rechtsänderung abzusehen. Die herrschende Meinung der Strafrechtswissenschaft hat entsprechende Bestrebungen daher überwiegend abgelehnt.

Die Unterbringung der Gefangenen in Einzelzellen ist ein großer vollzuglicher Fortschritt und kein überflüssiges Privileg, da damit die gefährliche Subkultur in den Anstalten vermieden werden kann.

Eine Aufweichung des Prinzips der Einzelzellenunterbringung würde die Sicherheit in den Anstalten gefährden und die Resozialisierung erschweren. Anstaltsleiter und Vollzugspraktiker warnen eindringlich vor der Mehrfachzellenbelegung.

Die Entlassungsvorbereitung ist durch ein niedersächsisches Vollzugsgesetz deutlich zu verbessern. Nach wie vor gibt es hohe Reibungsverluste und Kommunikationsdefizite der verschiedenen an der Entlassung beteiligten Akteure. Eine gute Entlassungsvorbereitung ist ein wichtiger Schritt für eine Rückfallvermeidung, da insbesondere die erste Zeit nach der Haft von Unsicherheit und Labilität gekennzeichnet ist.

Die gegenwärtig noch geltenden Datenschutzbestimmungen sind in ein neues niedersächsisches Vollzugsgesetz zu übernehmen. Längere Speicherungsfristen von innervollzuglich erhobenen Daten nach der Entlassung signalisieren Misstrauen in die Resozialisierungsfähigkeit der Straftäter und sind kontraproduktiv für das Vollzugsziel. Der Geist eines aufgeklärten Vollzugsgesetzes darf nicht den Verdacht eines wahrscheinlichen Rückfalles atmen.

Positiv ist in dem Eckpunktepapier des Justizministeriums das Ziel eines weiteren Ausbaus der innervollzuglichen Beschäftigung zu bewerten. Sinnvolle Qualifizierung, Beschäftigung und Arbeit sind ein wichtiger Grundpfeiler für eine gelingende Resozialisierung. Gleichzeitig mit einem verbesserten Arbeitsangebot in den Anstalten darf aber die außervollzugliche Beschäftigung nicht permanent erschwert werden. Auch die für die Wiedereingliederung so wichtigen Familienkontakte dürfen durch Arbeitseinsätze nicht unnötig erschwert werden.

Neben dem verfassungsrechtlich verbürgten Grundrecht auf einen resozialisierungsorientierten Behandlungsvollzug, der sich aus der Fundamentalnorm der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip speist, hat auch der Steuerzahler bzw. die Rechtsgemeinschaft einen Anspruch auf einen wirksamen Behandlungsvollzug. Der Gesellschaft wird gegenwärtig durch den Vollzug ein schlechter staatlicher Dienst erwiesen, da die Rückfallquoten nach wie vor hoch sind. Ein einschneidendes Sanktionsprinzip wie die Freiheitsentziehung muss daher zukünftig höhere Erfolgsquoten aufweisen als bisher. Dem muss ein niedersächsisches Strafvollzugsgesetz durch einen aufgeklärten, an wissenschaftlichen und empirischen Grundsätzen ausgerichteten Strafvollzug Rechnung tragen.