Wohlfahrt

Zu § 2 (Begriffsbestimmungen): Absatz 1 definiert den Begriff „öffentlichen Stellen". Das Gesetz ist danach anzuwenden im Bereich der Landes- und Kommunalverwaltung sowie der sonstigen der alleinigen Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen.

Ausgenommen sind die Sparkassen, ferner die Gerichte sowie die Staatsanwaltschaften, soweit sie keine Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, also aufgrund spezieller Verfahrensvorschriften, insbesondere der Strafprozessordnung, tätig werden. Auf hier maßgebliche Regelungen des Bundes, beispielsweise die Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV), wird ergänzend hingewiesen.

Zu den Verfahren nach speziellen Verfahrensvorschriften gehören auch die behördlichen Bußgeldverfahren, die deshalb ebenfalls ausgenommen sind. So findet die Zugänglichmachungsverordnung auch in solchen Verfahren Anwendung (§ 1 Abs. 2 ZMV). Ausgenommen sind auch solche Körperschaften, Anstalten und Stiftungen, an deren Aufsicht ein Rechtsträger außerhalb Niedersachsens, beispielsweise ein anderes Bundesland, beteiligt ist. Eine alleinige Aufsicht des Landes ist hier nicht gegeben.

Die Definition der Behinderung im Absatz 2 übernimmt die im Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs und im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz festgelegte Bestimmung. Damit soll den verschiedenen Rechtsmaterien ein einheitlicher Behinderungsbegriff zugrunde gelegt werden. Im Gegensatz zu bisherigen Definitionen wird dabei auf die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Partizipation) und nicht mehr auf vermeintliche oder tatsächliche Defizite abgestellt. Dabei wird eine Beeinträchtigung erst dann als Behinderung angesehen, wenn sie voraussichtlich länger als sechs Monate andauern wird, um Menschen mit nur vorübergehenden Einschränkungen nicht in diesen Personenkreis einzubeziehen.

Absatz 3 definiert den Begriff der Barrierefreiheit entsprechend dem Bundesbehindertengleichstellungsgesetz. Mit dieser Definition soll deutlich werden, dass nicht nur die physischen Barrieren wie Treppen, zu schmale Gänge, Stolperstufen, ungesicherte Baugruben usw. gemeint sind, sondern auch die kommunikativen Schranken erfasst werden, denen beispielsweise Menschen mit Hörbehinderung ausgesetzt sind, wenn Gehörlosen zur Verständigung mit Hörenden Gebärdensprachdolmetscher fehlen, oder mit denen Blinde konfrontiert werden, wenn sie in Sitzungen Schwarzschriftdokumente nicht lesen können und keine Vorlesekräfte zur Verfügung haben. Die Definition löst die Begriffe „behindertengerecht" und „behindertenfreundlich" ab. Es geht um eine allgemeine Gestaltung des Lebensumfeldes für alle Menschen, die möglichst niemanden ausschließt und von allen gleichermaßen genutzt werden kann.

Die in der Vorschrift beispielhaft aufgezählten gestalteten Lebensbereiche sollen deutlich machen, dass vollständige Barrierefreiheit grundsätzlich einen umfassenden Zugang und eine uneingeschränkte Nutzung aller Lebensbereiche voraussetzt. Dabei ist zwar auf eine grundsätzlich selbständige Nutzungsmöglichkeit durch Menschen mit Behinderung ohne fremde Hilfe abzustellen.

Das schließt aber nicht aus, dass Menschen mit Behinderung dennoch wegen ihrer Beeinträchtigung auch bei optimaler Gestaltung der Lebensbereiche auf Hilfe angewiesen sein können. Zur Herstellung der Barrierefreiheit gehört auch die Aufhebung von Verboten für die Mitnahme von Hilfsmitteln wie beispielsweise Blindenhunden in Gebäude, soweit zwingende Gründe dem nicht entgegenstehen.

Auch soll die Gestaltung nicht auf eine spezielle Ausprägung einer Behinderung, sondern auf eine möglichst allgemeine Nutzbarkeit abgestimmt werden. Spezielle Lösungen, die eine Zugänglichkeit nur über Hinter- oder Nebeneingänge, Rampen oder Treppenlifte zulassen oder längere Umwege erfordern, ermöglichen die Nutzung nicht in der allgemein üblichen Weise, stellen besondere Erschwernisse dar und lösen häufig weiteren Hilfebedarf aus. Solche Gestaltungen sind grundsätzlich zu vermeiden.

Zu § 3 (Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern):

Die Vorschrift folgt der Strategie des Gender Mainstreaming, mit der eine frühzeitige Ausrichtung von Entscheidungsprozessen auf geschlechtsspezifische Bedürfnisse erreicht werden soll. Sie berücksichtigt ferner, dass Frauen mit Behinderung sowohl der benachteiligten Gruppe der Frauen als auch der benachteiligten Gruppe der Menschen mit Behinderung angehören und die zugunsten beider Gruppen bestehenden Schutzmechanismen grundsätzlich nur ein Kriterium alternativ abdecken, aber nicht deren Kumulation.

Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der Sozialverband Deutschland e. V. Landesverband Niedersachsen, der Sozialverband VdK Niedersachsen Bremen e. V., der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) Landesverband der Schwerhörigen und Ertaubten Niedersachsen e. V., die Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Behinderter e. V., der Landesbehindertenrat, die Konföderation evangelischer Kirchen Niedersachsen und das Katholische Büro Niedersachsen haben hinsichtlich der Beseitigung von Benachteiligungen eine verbindliche Regelung gefordert.

Dem ist durch eine neue Formulierung Rechnung getragen worden.

Zu § 4 (Gebärdensprache und andere Kommunikationshilfen): Absatz 1 erkennt die Deutsche Gebärdensprache als selbständige Sprache an. In Umsetzung des Artikels 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes und des Artikels 3 Abs. 3 der Niedersächsischen Verfassung soll klargestellt werden, dass die Deutsche Gebärdensprache als eine der deutschen Lautsprache ebenbürtige Form der Verständigung zu respektieren ist. Absatz 2 erkennt lautsprachbegleitende Gebärden als Kommunikationsform der deutschen Sprache an.

Absatz 3 bestimmt, dass allen Untergruppen der Menschen mit Hörbehinderung (Gehörlosen, Ertaubten und Schwerhörigen) sowie auch Menschen mit Sprachbehinderung das Recht zusteht, nach Maßgabe der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften die Deutsche Gebärdensprache, lautsprachbegleitende Gebärden oder andere geeignete Kommunikationsformen zu verwenden. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass der betroffene Personenkreis die Amtssprache nicht erlernen oder nicht (mehr) uneingeschränkt verwenden kann und ihm deshalb andere Kommunikationsmöglichkeiten mit Trägern öffentlicher Gewalt zur Verfügung gestellt werden sollen. Zur Gruppe der Menschen mit Hörbehinderung zählen auch taubblinde Menschen. Spezielle Kommunikationsformen sind ebenfalls von Absatz 3 erfasst. Hierzu gehören insbesondere das Lormen, Fingerspelling und geführte Gebärden. Zu den Personen mit Sprachbehinderung gehören beispielsweise auch Menschen, die wegen einer autistischen Störung in ihrer Kommunikation beeinträchtigt sind.

Zu § 5 (Benachteiligungsverbot): Absatz 1 Satz 1 konkretisiert die Zielsetzung des § 1.

Mit Satz 2 wird ausdrücklich festgelegt, dass zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung spezifische Maßnahmen beibehalten oder eingeführt werden können, mit denen Benachteiligungen u. a. wegen der Behinderung ausgeglichen werden.

Absatz 2 konkretisiert das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot des Artikels 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes und des Artikels 3 Abs. 3 der Niedersächsischen Verfassung durch eine Definition des Begriffs der Benachteiligung. Eine unterschiedliche Behandlung von Menschen mit und Menschen ohne Behinderung ist danach verboten, soweit hierfür nicht ein hinreichender Grund vorliegt. Dies bedeutet, dass die nachteiligen Auswirkungen unerlässlich sein müssen, um behinderungsbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Entsprechend der Konzeption des verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbotes wird hierdurch nur eine solche unterschiedliche Behandlung verboten, die einen Menschen mit Behinderung in der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt, d. h. seine rechtliche oder tatsächliche Position verschlechtert. Es ist nicht erforderlich, dass die unterschiedliche Behandlung gerade „wegen der Behinderung" erfolgte. Dieses zusätzliche Tatbestandmerkmal hätte Konsequenzen für die Beweissituation: Die diskriminierte Klägerin oder der diskriminierte Kläger müsste nach den Allgemeinen Beweislastregelungen eigentlich den vollen Beweis führen, dass die oder der Diskriminierende sie oder ihn gerade „wegen der Behinderung" schlechter behandelt hat. Ein solcher Beweis der Motivation der oder des Diskriminierenden, also der Beweis einer inneren Tatsache, ist allerdings regelmäßig schwierig zu führen.

Im Rahmen der Verbandsanhörung haben der Sozialverband Deutschland e. V. Landesverband Niedersachsen, der Sozialverband VdK Niedersachsen Bremen e. V. und der Landesbehindertenrat eine Beweislastumkehr gefordert. Dieser Forderung ist aus rechtssystematischen Gründen sowie den zum Absatz 2 dargelegten Erläuterungen nicht gefolgt worden.

Zu § 6 (Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr):

Die Vorschrift füllt den in § 2 Abs. 3 definierten Begriff der Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr aus und ist insoweit lex specialis.

Nach Absatz 1 sind die in § 2 Abs. 1 genannten Stellen zum barrierefreien Bauen verpflichtet. Dies gilt für alle Neubauten und für Um- und Erweiterungsbaumaßnahmen, soweit es sich um große Vorhaben handelt; Bauunterhaltungsmaßnahmen sind nicht erfasst. Zu beachten ist die Differenzierung zwischen Neubauten und Um- und Erweiterungsbaumaßnahmen. Bei Neubauten sind die baulichen und kostenmäßigen Mehrbelastungen zur Herstellung der Barrierefreiheit unabhängig von der Größe der baulichen Anlage zumutbar, sodass auch kleinere Neubauten barrierefrei zu gestalten sind. Im Gegensatz hierzu ist die nachträgliche Herstellung von Barrierefreiheit unter Umständen nur mit einem erheblichen Mehraufwand möglich, sodass hier die Größe der geplanten Baumaßnahmen eine Rolle spielt. Dies ist mit Rücksicht auf die Finanzlage des Landes als einzig sachgerecht anzusehen.

Nach den Vorschriften der öffentlichen Bauverwaltung ist ein Neubau oder eine Um- oder Erweiterungsbaumaßnahme „groß", wenn die baulichen Maßnahmen Kosten von über 1 Mio. Euro auslösen. Zur barrierefreien Gestaltung sollen die allgemein anerkannten Regeln der Technik berücksichtigt werden, z. B. entsprechende DIN-Normen zur Barrierefreiheit.

Die Ausgestaltung des Absatzes als Sollvorschrift unterstreicht, dass im Regelfall die allgemein anerkannten Regeln der Technik anzuwenden sind, in besonderen Situationen aber Abweichungen zulässig sind, etwa wenn die Herstellung der Barrierefreiheit nur durch einen unzumutbaren hohen Aufwand (siehe Satz 3) möglich wäre. Dabei ist der Begriff der Unzumutbarkeit unter Abwägung aller relevanten Umstände restriktiv auszulegen.

Durch die Sollvorschrift ist auch klargestellt, dass Sonderbereiche - z. B. ein Übungsgelände der Polizei - oder spezielle Naturerlebnis-Angebote (wie naturbelassene Trekkingpfade mit Aussichtspunkten) nicht barrierefrei ausgestaltet werden müssen, weil Art und Nutzung dieser Anlage dies per se nicht zulassen oder derartige Maßnahmen hinsichtlich der Art der Anlage, der Nutzung der Anlage oder der Kosteneffizienz zu einem unverhältnismäßigen Aufwand führen. Satz 2 lässt

- klarstellend - auch Abweichungen zu, wenn beispielsweise beim konkreten Bauvorhaben durch eine von den Regeln der Technik abweichende Gestaltung das Ziel der Barrierefreiheit in gleicher Weise oder besser erreicht werden kann.

Die Anforderungen aus Satz 1 fallen nicht unter den Begriff des öffentlichen Baurechts im Sinne der Niedersächsischen Bauordnung. Die landesrechtlichen Vorschriften über die Prüfung und Überwachung von Bauvorhaben der in § 2 Abs. 1 genannten Stellen werden nicht berührt. Absatz 1 Sätze 1 bis 3 stellen keine Erweiterung der Vorschriften der Niedersächsischen Bauordnung dar.

Sinn und Zweck der Normen der Niedersächsischen Bauordnung ist vor allem, dass unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtung der öffentlichen Hand zur Gefahrenabwehr die Bauaufsichtsbehörden eine Überprüfung der (Mindest-)Anforderungen gewährleisten, die an bauliche Anlagen zu stellen sind. Dem gegenüber dienen die in Absatz 1 Satz 1 in Bezug genommenen anerkannten Regeln der Technik nicht der Gefahrenabwehr, sondern stellen vor allem Gestaltungsregelungen wie insbesondere die DIN zur Barrierefreiheit dar. Gesichtspunkte der Gefahrenabwehr stehen insoweit nicht im Vordergrund. Dies berührt jedoch in keiner Weise die in Absatz 1 Satz 1 ausgesprochene Verpflichtung bei den dort genannten Bauvorhaben.

Absatz 2 verweist für sonstige bauliche und andere Anlagen usw. auf andere Vorschriften, die Anforderungen an die Barrierefreiheit stellen.