Schweiz

Der Landtag hat mit Beschluss vom 23. Januar 2002 ­ Drucksachen 14/257/511 ­ die Landesregierung aufgefordert, einen schriftlichen Bericht zu der Frage zu erstatten, ob und unter welchen Voraussetzungen die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung durch eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn sich die besondere Gefährlichkeit eines Täters erst während der Vollstreckung der Freiheitsstrafe herausstellt. Dieser Bitte komme ich hiermit nach.

I. Die 73. Konferenz der Justizministerinnen und -minister vom 10. bis 12. Juni 2002 hat sich für die Einführung einer Regelung zur nachträglichen gerichtlichen Anordnung von Sicherungsverwahrung ausgesprochen und die Bundesministerin der Justiz gebeten, die entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen rasch voranzutreiben. Sie nahm dabei Bezug auf einen von ihrem Strafrechtsausschuss vorgelegten Bericht „Schutz der Bevölkerung vor Sexualstraftaten", den die 72. Konferenz der Justizministerinnen und -minister in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht enthält zu dem Thema „nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung" folgende Ausführungen:

1. „Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als isolierte oder vorbehaltene Entscheidung

Die Sicherheit der Bevölkerung vor Sexualstraftätern könnte dadurch erhöht werden, dass die Anordnung von Sicherungsverwahrung auch für den Zeitraum des Vollzuges nach der Verurteilung nur zu einer Freiheitsstrafe ermöglicht wird.

a) Rechtslage

Nach der aktuellen Rechtslage entscheidet das Gericht bei der Verurteilung von zur Tatzeit erwachsenen Personen 1) zu einer Freiheitsstrafe gemäß § 66 StGB ggf. auch darüber, ob gegen die angeklagte Person auch die Sicherungsverwahrung angeordnet wird und ihr deshalb nach Verbüßung der Strafe die Freiheit in Form der Sicherungsverwahrung entzogen bleiben soll. Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung muss (§ 66 Abs. 1 StGB) oder kann (§ 66 Abs. 2 und 3 StGB) erfolgen, wenn neben dem Vorliegen formeller Voraussetzungen die Kriterien des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt sind, also die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge des Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich solchen, durch welche Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Diese Gefährlichkeitsprognose ist im Zeitpunkt der Entscheidung über die Verhängung der Freiheitsstrafe zu treffen.

Wird die Sicherungsverwahrung durch das Gericht im Urteil angeordnet, kann die gemäß § 67c Abs. 1 StGB erforderliche Prüfung vor dem Ende des Vollzuges der Freiheitsstrafe zu der Beurteilung führen, dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht mehr erforderlich ist. Dies hat die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung und damit den Eintritt der Führungsaufsicht zur Folge. zu Drucksache 14/257

Unterrichtung durch die Landesregierung zu dem Beschluss des Landtags vom 23. Januar 2002 zu Drucksache 14/257 (Plenarprotokoll 14/16, S. 956) Schutz der Bevölkerung vor besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftätern

Dem Präsidenten des Landtags mit Schreiben des Chefs der Staatskanzlei vom 22. November 2002 übersandt.

Federführend ist der Minister der Justiz.

1) Vgl. §§ 7, 106 Abs. 2 Satz 1 JGG.

Eine Anpassungsmöglichkeit für den umgekehrten Fall sieht das Gesetz nicht vor. Lagen im Zeitpunkt der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zwar die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung vor, konnte die Gefährlichkeit des Täters im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aber nicht festgestellt werden, ergibt sich diese aber später, insbesondere während des Strafvollzuges, so kann die Anordnung der Sicherungsverwahrung mangels eines Wiederaufnahmegrundes nicht nachgeholt werden. In Betracht kommt nur die Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem weiteren Urteil, wenn sich die Gefährlichkeit des Täters in Form einer entsprechenden Straftat gezeigt hat.

b) Gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Bereich des materiellen Strafrechts Ergibt sich die Gefährlichkeit des Täters nachträglich in anderer Weise als durch eine neue Straftat, die zur Anordnung von Sicherungsverwahrung führen würde, fehlt eine strafrechtliche Reaktionsmöglichkeit. Der gefährliche Täter müsste auch dann aus dem Strafvollzug entlassen werden, wenn die Gefahr seelisch oder körperlich schwerer Schäden für zukünftige Opfer bestünde.

Erkenntnissen, die sich erst während der Zeit des Strafvollzuges ergeben, kann große praktische Bedeutung zukommen. Diese beziehen sich insbesondere auf

­ die Begehung neuer Straftaten;

­ die fehlende Einsicht in das Unrecht der Tat oder das Bagatellisieren der Tat, die Projizierung des eigenen Fehlverhaltens auf andere oder ein fehlendes Schuldbewusstsein;

­ die fehlende Einsicht des Täters in eine Störung, die nur scheinbare Therapiebereitschaft und fehlende Therapieerfolge;

­ dickfelliges Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer, eine deutliche Verantwortungslosigkeit und deliktfördernde Ansichten sowie

­ eine falsche Selbsteinschätzung betreffend Risikosituationen. 2) Jedenfalls dann, wenn sich zum Zeitpunkt der Begutachtung und Entscheidung des erkennenden Gerichts nach Ausschöpfung sämtlicher Erkenntnisquellen weder die Gefährlichkeit noch ihr Fehlen feststellen lässt, können nachträgliche ergänzende Erkenntnisse noch zur Bejahung der Gefährlichkeit führen. 3)

c) Möglichkeiten einer strafrechtlichen Lösung:

(1) Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als isolierte Entscheidung

Nach diesem Ansatz soll ermöglicht werden, Sicherungsverwahrung nachträglich zu verhängen, wenn sich nach der rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erst im Strafvollzug ergibt, dass die verurteilte Person die Voraussetzungen der spezifischen Gefährlichkeit im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt und die formellen Voraussetzungen für die Anordnung vorliegen.

Das Konzept einer isolierten Nachtragsentscheidung lag zuerst den Gesetzesinitiativen des Freistaates Bayern aus den Jahren 1997, 2000 und 2001 zugrunde (Bundesratsdrucksachen 699/97, 144/00 und 176/01). Diese Gesetzesinitiativen haben zwar nicht zur Einbringung eines Gesetzentwurfs in den Deutschen Bundestag geführt. Auf den bayerischen Gesetzesantrag (Bundesratsdrucksache 176/01) hat der Bundesrat aber am 13. Juli 2001 unter dem Gesichtspunkt Mehr Schutz von Kindern vor Sexualverbrechern eine Entschließung gefasst (Bundesratsdrucksache 176/01 ­ Beschluss). Der Bundesrat begrüßte darin den Beschluss der 72. Konferenz der Justizministerinnen und -minister, wonach geprüft werden soll, ob und unter welchen Voraussetzungen die spätere Verhängung einer Sicherungsverwahrung durch eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung verfassungsrechtlich zulässig und geboten ist, wenn die besondere Gefährlichkeit eines Täters sich erst nach Aburteilung während der Strafvollstreckung herausstellt. Der Bundesrat bat die Bundesregierung, bis zum Frühjahr 2002 diese sowie weitere Überlegungen der Länder zur Verbesserung des Schutzes von Kindern vor Sexualstraftätern in die Vorbereitung erforderlicher gesetzgeberischer Maßnahmen einzubeziehen.

Dem Konzept einer isolierten Nachtragsentscheidung folgt auch der Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten, den die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag vorgelegt hat (Bundestagsdrucksache 14/6709 vom 19. Juli 2001).

2) Wegen weiterer für relevant erachteter Faktoren ist u. a. zu verweisen auf das Gutachten zur nachträglichen Sicherungsverwahrung von Prof. Dr. Thomas Würtenberger für das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg, dort Seite 48, und auf Volker Dittmann: „Was kann die Kriminalprognose heute leisten?", Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie, Separatdruck aus dem Band 18 ­ Gemeingefährliche Straftäter ­ Verlag Rüegger, Chur/Zürich (2000), Bl. 74 ff.

3) In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass konventionelle Prognosen eine Zuverlässigkeit von nur etwa 70 % haben sollen und mit neuerer Methodik unter optimalen Bedingungen eine Richtigkeit von etwa 90 % erreichbar sein soll; so Dittmann, a. a. O., S. 78.

Ferner war dieser Ansatz Inhalt der Gesetzesanträge von Baden-Württemberg und Thüringen (Bundesratsdrucksache 48/02, 304/02). Darüber hinaus sahen diese Gesetzesanträge vor, dass Sicherungsverwahrung unabhängig von den Voraussetzungen des § 66 StGB nachträglich ohne einen entsprechenden Vorbehalt im Urteil angeordnet werden kann, wenn sich während des Vollzuges einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens vier Jahren wegen einer oder mehrerer Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 239 a, 239 b, 250 oder 251 StGB ­ auch in Verbindung mit § 252 oder § 255 StGB ­ ergibt, dass der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut solche Taten begehen wird, durch die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

Die Bundesregierung hat gegen einen solchen Lösungsansatz den Einwand der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes erhoben. Die isolierte Anordnung der Sicherungsverwahrung stelle eine Maßnahme der Gefahrenabwehr dar und unterfalle damit der Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 70 GG), während eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes unter dem Gesichtspunkt Strafrecht oder gerichtliches Verfahren äußerst fraglich sei.

Dem wird entgegengehalten, die Regelungskompetenz des Bundes umfasse alle Maßnahmen, die sich noch als Reaktion auf eine Straftat darstellten. Es sei aus kompetenzrechtlicher Sicht ohne Belang, wann und in welchem Verfahren über eine derartige Rechtsfolge entschieden werde.

Gegen das Konzept einer isolierten Nachtragsentscheidung hat die Arbeitsgruppe mehrheitlich gleichwohl Bedenken. Sie ist insbesondere der Auffassung, dass die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die formelle und materielle Rechtskraft des Urteils durchbreche. Es erfolge eine teilweise Wiederaufnahme des Verfahrens ohne gesetzlichen Wiederaufnahmegrund.

Demgegenüber betont ein Teil der Arbeitsgruppe, dass der Freiheitsanspruch des Verurteilten dort zurücktreten müsse, wo es mit Blick auf die Art der von ihm drohenden Straftaten sowie deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit angesichts des staatlichen Schutzauftrags für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheine, ihn in die Freiheit zu entlassen. Es sei dem Gesetzgeber unbenommen, aufgrund neuer Erkenntnisse die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu ermöglichen. Das Verbot der Doppelbestrafung stehe der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht entgegen, da Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht unter Art. 103 Abs. 3 GG fielen.

(2) Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgrund eines entsprechenden Vorbehalts in dem eine Freiheitsstrafe festsetzenden Urteil (2.1) Materielle Konzeption der Vorbehaltslösung

Aufgrund der Ergebnisse der bisherigen Gesetzgebungsverfahren ist davon auszugehen, dass die Regelung einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung zurzeit nur im Rahmen der Vorbehaltslösung mehrheitsfähig ist.

Diese Lösung zielt darauf ab, es dem erkennenden Gericht zu ermöglichen, die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung für einen späteren Zeitpunkt vorzubehalten, wenn nur nicht hinreichend sicher ist, ob der Täter im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB gefährlich ist, die sonstigen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB also gegeben sind.

Diesem Modell folgen aktuelle Gesetzentwürfe des Bundesrates (Bundesratsdrucksache 281/02) sowie der Bundesregierung (Bundesratsdrucksache 219/02). Der Entwurf der Bundesregierung erstreckt sich nur auf Verurteilungen wegen einer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Straftat, und es werden nur die Täter erfasst, durch die potentiellen Opfern eine schwere seelische oder körperliche Schädigung droht.

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind sich darin einig, dass die Einführung einer Vorbehaltslösung nur eine Ergänzung der aktuellen Rechtslage und keine Abmilderung der bisherigen Kriterien für die Anordnung der Sicherungsverwahrung bedeuten darf. Vorrangig soll also auch zukünftig konsequent zu prüfen sein, ob die Sicherungsverwahrung vom Tatgericht sofort anzuordnen ist. Nur für den Fall keines hinreichend eindeutigen Prüfungsergebnisses trotz Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten soll eine Vorbehaltsentscheidung zu treffen sein.

Der überwiegende Teil der Arbeitsgruppe hält eine Vorbehaltslösung für angemessen. Dabei sollen die wesentlichen Feststellungen zur Anwendbarkeit des § 66 StGB bereits in der Tatsacheninstanz getroffen werden, nämlich betreffend die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung und insoweit, dass die Gefährlichkeit im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB weder positiv noch negativ festgestellt werden kann. Positiv kann die Gefährlichkeit des Täters nur festgestellt werden, wenn es wahrscheinlich ist, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. 4) Ist die Gefährlichkeit des Täters weniger als hinreichend sicher, soll dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt werden, die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung einer weiteren gerichtlichen Entscheidung vorzubehalten. Später wäre dann abschließend zu prüfen, ob die Gefährlichkeit nunmehr zu bejahen oder zu verneinen ist. Es wird dabei davon ausgegangen, dass keine Notwendigkeit besteht, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auch für den Fall zu ermöglichen, dass die formellen Voraussetzungen

4) BGHSt 25, 59, 61.