Errichtung einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit

Auf der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 17./18. Juni 2004 in Bremerhaven haben diese den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Errichtung einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeit" zur Kenntnis genommen und sich für die Schaffung einer bundesrechtlichen Länderöffnungsklausel ausgesprochen, die es den Ländern ermöglichen soll, Fachgerichtsbarkeiten zusammenzulegen. Dabei geht es im Kern um die Möglichkeit, die Gerichte der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit durch Gesetz zu einheitlichen, unabhängigen Gerichten zusammenzuführen. In diesem Zusammenhang halten die Justizministerinnen und Justizminister auch eine Änderung des Grundgesetzes in Art. 95 und Art. 101 für geboten.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Wie beurteilt die Landesregierung die Aussichten, die gebotene Änderung des Grundgesetzes in Art. 95 und 101 herbeizuführen, um eine bundesrechtliche Länderöffnungsklausel erlassen zu können?

2. Wie beurteilt die Landesregierung die Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten im Hinblick auf die damit verbundenen Zielerwartungen, nämlich die Flexibilisierung des Einsatzes von Lebenszeitrichtern, Personalkosteneinsparungen, Sachkostenersparnis und Angleichung an europäische Gerichtsstrukturen im Hinblick auf Rheinland-Pfalz?

3. Welche Überlegungen hat die Landesregierung dazu angestellt, dass die Beteiligungsrechte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der neuen Gerichtsbarkeit, sofern Rheinland-Pfalz von einer möglichen Länderöffnungsklausel Gebrauch machen sollte, gewahrt bleiben?

4. Welche Überlegungen hat die Landesregierung dazu angestellt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der betroffenen Gerichtsbarkeiten, insbesondere die Präsidialräte, die Richterräte und Personalräte, frühzeitig und umfassend in die weiteren Reformüberlegungen eingebunden werden?

Das Ministerium der Justiz hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 6. Juli 2004 wie folgt beantwortet:

Zu Frage 1: Die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister hat sich mit breiter Mehrheit für die Schaffung einer bundesrechtlichen Länderöffnungsklausel ausgesprochen, die es den Ländern ermöglichen soll, Fachgerichtsbarkeiten zusammenzulegen.

Betroffen sind Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit. Zur Umsetzung soll das Grundgesetz geändert werden. Lediglich drei Justizminister haben sich enthalten.

Einige Justizminister haben angekündigt, eine entsprechende Gesetzesinitiative für eine eventuelle Einbringung in den Bundesrat vorzubereiten. Im Rahmen des sich daraus ergebenden Gesetzgebungsverfahrens wird die Landesregierung eine Bewertung des Gesetzentwurfs vornehmen und ihre Haltung festlegen.

Zu Frage 2: Bei der Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten werden Synergieeffekte in folgenden Bereichen diskutiert:

­ Leitungsebene (Gerichtspräsidenten, Geschäftsleiter)

­ Unterstützungsbereich (Wachtmeisterei, Poststelle, Telefonzentrale, Rechtsantragsstelle, Informationstheke, Bücherei)

­ Raumbedarf (Sitzungssäle)

­ Einsatz der richterlichen Arbeitskraft.

Die zu erwartenden Auswirkungen hängen davon ab, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt von einer Öffnungsklausel Gebrauch gemacht wird.

Nach dem von Baden-Württemberg vorgelegten Entwurf eines Zusammenführungsgesetzes können in der ersten Instanz die Verwaltungsgerichte und die Sozialgerichte zu Fachgerichten zusammengelegt werden. Auf der Ebene der Obergerichte soll zusätzlich noch die Einbeziehung des erstinstanzlich tätigen Finanzgerichts ermöglicht werden.

Auf der Leitungsebene sind auf einer längeren Zeitschiene Einsparungen zu erwarten. Nach einer Zusammenlegung hätten die Fachgerichte und auch das Oberfachgericht nur jeweils einen Präsidenten, einen Vizepräsidenten und einen Geschäftsleiter. Einsparungen sind dabei aber erst nach einigen Jahren zu erzielen. Sie sind konkret vom Zeitpunkt der Maßnahme abhängig. Denn die derzeitigen Stelleninhaber genießen Bestandsschutz. Sie müssen weiterhin in der bisherigen Besoldungsstufe besoldet werden. Erst wenn sie auf anderen Stellen der gleichen oder einer höheren Besoldungsstufe eingesetzt werden können oder in den Ruhestand versetzt werden, wird sich die Zusammenlegung in der Leitungsebene wirtschaftlich bemerkbar machen.

Unterhalb der Leitungsebene können sich im Bereich der jeweiligen Gerichtsverwaltungen noch weitere Synergieeffekte ergeben.

Zahlreiche Aufgaben, wie zum Beispiel die Personalverwaltung, die EDV-Betreuung oder die Beschaffung werden sich zusammenfassen lassen und gebündelt weniger Arbeitskraftanteile als die Summe der bislang eingesetzten erfordern.

Auch im Unterstützungsbereich, also in der Wachtmeisterei, der Poststelle, der Telefonzentrale, der Rechtsantragsstelle, der Informationstheke sowie der Bücherei sind Synergieeffekte eines Zusammenschlusses vorstellbar. Denn regelmäßig sind die genannten unterstützenden Leistungen in größeren Einheiten wirtschaftlicher einsetzbar. Allerdings lassen sich diese Vorteile weitgehend erst realisieren, wenn die Fachgerichte jeweils ein gemeinsames Gebäude nutzen. Da in Rheinland-Pfalz die meisten Fachgerichte ein Gebäude mit einem anderen Gericht oder einer Staatsanwaltschaft teilen, wird eine Zusammenlegung in diesem Bereich zu keinen wesentlichen weiteren Synergieeffekten führen.

Entsprechendes gilt auch für den Raumbedarf. Durch eine gemeinsame und damit effizientere Nutzung beispielsweise von Sitzungssälen lassen sich Synergieeffekte erzielen. Auch dieser Vorteil wird aber schon heute weitgehend realisiert.

Beim Einsatz der richterlichen Arbeitskraft sind deutliche Vorteile zu erwarten. Die öffentlich-rechtlichen Fachgerichte in Rheinland-Pfalz sind insbesondere im Vergleich zur ordentlichen Gerichtsbarkeit vergleichsweise kleine Einheiten. Hier wirken sich Belastungsschwankungen sehr stark aus. Wegen des schlanken Personalkörpers ist ein Ausgleich über eine Fluktuation nur sehr eingeschränkt möglich. Die Zusammenfassung zu größeren Einheiten eröffnet deutlich bessere Abfederungsmöglichkeiten.

Ein gemeinsames Präsidium in einem zusammengelegten Fachgericht hätte die Möglichkeit, Belastungsschwankungen sehr zeitnah auszugleichen.

Im europäischen Umfeld hat das deutsche Modell mit seinen fünf Gerichtsbarkeiten eine Sonderstellung. Mehreren Ländern, wie etwa Belgien, England, Wales, Nordirland und Spanien genügt eine Einheitsgerichtsbarkeit. Vorherrschend sind jedoch Modelle mit zwei Gerichtsbarkeiten. Dies ist regelmäßig eine ordentliche und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie etwa in Finnland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Niederlande, Österreich und Schweden.

Jede Reduzierung der Zahl der deutschen Gerichtsbarkeiten wäre also ein Schritt zur Angleichung der gerichtlichen Strukturen in einem zusammenwachsenden Europa.

Zu Frage 3: Der Entwurf eines Zusammenführungsgesetzes enthält Übergangsvorschriften, die eine gleichmäßige Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der bisherigen Gerichtsbarkeiten in der neuen Gerichtsbarkeit sicherstellen soll. So ist für das erste Präsidium der neuen Fachgerichte und des Oberfachgerichts vorgesehen, dass sich dieses zu gleichen Teilen aus in den bisherigen Gerichtsbarkeiten tätigen Richterinnen und Richtern zusammensetzen soll.

Entsprechendes gilt für den erstmals zu bildenden neuen Personalrat.

Im Personalvertretungsrecht ist vorgesehen, dass Übergangspersonalvertretungen zu bilden sind. Dabei sind die näheren Regelungen dem Landesrecht vorbehalten. Auch hier wird für den ersten Personalrat eine gleichmäßige Zusammensetzung aus allen bisherigen Gerichtsbarkeiten sicherzustellen sein.

Zu Frage 4: Da die Reform eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzt, sollten konkrete Schritte zur Umsetzung der Reform mit den hiervon betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erst besprochen werden, wenn sich absehen lässt, dass die Reform auch tatsächlich kommt.

Unabhängig davon ist nachvollziehbar, dass bereits die derzeitige Reformdiskussion die hiervon möglicherweise betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stark bewegt. In den regelmäßig mit den Vorsitzenden der richterlichen Personal- und Berufsvertretungen geführten Gesprächen war in den vergangenen Monaten die Frage einer Zusammenlegung von Gerichtsbarkeiten der Gesprächsschwerpunkt. Die betroffenen Richterinnen und Richter sind daher über ihre Personal- und Berufsvertretungen über den derzeitigen Stand der Reformdiskussion informiert.