Bis 1991 wurde die Nachtbereitschaft von einer Einzelperson wahrgenommen

Dies hindert nach Ansicht der Sachverständigen jedoch nicht, Berufsanfänger, auch jüngere, einzusetzen; allerdings sollten sensible Phasen, wie etwa die Betreuung zur Nachtzeit, von deren Einsatzgebiet zunächst ausgeschlossen sein.

Die Auswahl des Personals und dessen Einsatz ist den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sauter zufolge Sache des Trägers der Einrichtung. Dieser ist im Rahmen der Betriebserlaubnis verpflichtet und gehalten, entsprechend ausgebildetes und berufserfahrenes Personal zu beschäftigen, was durch gesetzlich bestimmte Meldeverfahren auch geprüft werde.

f) Wissenschaftliche Begleitung

Eine wissenschaftliche Begleitung haftvermeidender Projekte wurde von den Sachverständigen übereinstimmend für sinnvoll erachtet 95), insbesondere auch mit Blick auf den Umstand, dass die wissenschaftliche Evaluation auf diesem Gebiet bislang defizitär ist 96), sowie wegen der Konflikthaftigkeit des Arbeitsfelds 97) und nicht zuletzt um etwaige Feinjustierungen in der Zuweisung der Jugendlichen vornehmen zu können. Zur Qualitätssicherung muss die Evaluation nach Ansicht der Sachverständigen Prof. Dr. von Wolffersdorff und Dr. Wulf auch unmittelbar mit der Öffnung der Einrichtung beginnen 99) .

g) Konzeption der Einrichtung Schloss Stutensee, Heinrich-Wetzlar Haus

In seiner Eigenschaft als Leiter der Jugendeinrichtung Schloss Stutensee stellte der Sachverständige Weiss die dort zugrundeliegende Konzeption im Wesentlichen wie folgt dar:

aa) Konzeptioneller Rahmen

Die seit 1984 in Stutensee eingerichtete Gruppe „Erziehungshilfe statt Untersuchungshaft" arbeitet zwar in einem geschlossenen Kontext, das Konzept ist jedoch auf Öffnung ausgerichtet 100). Geschlossen bedeutet vor diesem Hintergrund insbesondere das Vorhandensein fluchtsichernder Maßnahmen, die eine Entweichung erschweren sollen. Verwirklicht wird die Entweichungssicherheit dabei durch personelle Präsenz, pädagogische Einflussnahme und einen durchstrukturierten Tagesablauf 101). Zusätzlich sind auch Elemente baulicher Sicherungen in Form vergitterter Fenster und eines Schleusensystems vorhanden, die fluchthemmend wirken sollen.

Die Einrichtung verfügt über insgesamt zwölf Plätze mit zwölf pädagogischen Betreuern und weiteren zwei Nachtdienstmitarbeitern 102).

bb) Personalsicherheit

Unter dem Aspekt der Sicherheit des Betreuungspersonals wird in der Einrichtung jedes Einlassen auf körperliche Konfrontation mit den Jugendlichen abgelehnt. Bei drohenden Eskalationen besteht das Ziel nicht in einer Verhinderung der Entweichung103).

In der Nacht ist ein nicht-pädagogischer Nachtdienstmitarbeiter eingesetzt, der den „wachen" Nachtdienst übernimmt, und zusätzlich eine pädagogische Fachkraft, die ab 24.00 Uhr mit der „schlafenden" Nachtbereitschaft betraut ist, die von einem gesonderten Bereitschaftszimmer aus wahrgenommen wird. Zwischen den beiden Personen besteht Verbindung über ein Funkgerät mit so genannter „Totmannstellung", das bei einem Umfallen Alarm auslöst 104). Über dieses Funkgerät zieht der Nachtdienst die Nachtbereitschaft zur Deeskalation in Konfliktsituationen hinzu.

Bis 1991 wurde die Nachtbereitschaft von einer Einzelperson wahrgenommen. Im Jahr 1991 kam es während der Nachtzeit zu einem Vorfall, bei dem eine Mitarbeiterin erheblich verletzt wurde, obgleich nahezu die gesamte Gruppe aus disziplinarischen Gründen eingeschlossen war. Dies war Grund und Anlass, die Besetzung in der Nachtzeit wie dargestellt zu ändern und in Form eines Nachtdienstes und einer Nachtbereitschaft zu organisieren 105). Die Entscheidung über die Einrichtung einer Doppelbesetzung zur Nachtzeit hatte der Träger eigenverantwortlich getroffen 106). Die Jugendlichen sind angewiesen, in der Nacht ihre Zimmer abzuschließen 108). In den Zimmern befindet sich eine Notklingel, die jederzeitiges Bemerkbarmachen für die Jugendlichen ermöglichen soll 109) .

cc) Qualifikation des Personals, Personalauswahl und Einsatz personeller Neuzugänge

Das in der Einrichtung eingesetzte Personal besteht aus Sozialarbeitern und Sozialpädagogen sowie einem Arbeitserzieher 110).

Über die Einstellung entscheidet die Einrichtung selbständig und eigenverantwortlich 111). Als Kriterium zur Feststellung der Eignung einer Person sind Fragen des Alters oder der Berufserfahrung jedenfalls nicht von ausschlaggebender Bedeutung, sondern vor allem der Eindruck von der Persönlichkeit des Betreffenden 112). Neu hinzutretendes Personal muss seinen Dienst mindestens vier Wochen gemeinsam mit anderen Kollegen verrichten, ohne dabei jedoch für die Abläufe eigene Verantwortung zu tragen 113). Der erste Einsatz im Nachtdienst, der nach vier bis sechs Wochen erfolgt 114), ist in der Art organisiert, dass der zweite, sich im Spätdienst befindende Mitarbeiter zunächst auch bis nach 24:00 Uhr in der Gruppe verbleibt, sodass bis zur Hauptruhezeit insgesamt drei Personen anwesend sind 115).

Darüber hinaus wird das Betreuungspersonal durch intensive Mitarbeiterteamsitzungen geschult 116).

dd) Aufnahmeverfahren Aufnahmeanfragen können von jeder in Betracht kommenden Stelle an die Einrichtung übermittelt werden. Sodann wird der sich regelmäßig in Untersuchungshaft befindliche Jugendliche von Einrichtungsmitarbeitern aufgesucht, um ein Aufnahmegespräch durchzuführen. Wird dabei der Eindruck gewonnen, der Jugendliche sei für eine Heimunterbringung auch unter Berücksichtigung der im Heim bestehenden Gruppenkonstellation geeignet, erfolgt nach der jugendrichterlichen Entscheidung die Aufnahme. Die Kompetenz zur Entscheidung, welcher Jugendliche im Einzelfall aufgenommen wird, liegt im Verantwortungsbereich der Einrichtung, was mit justizieller Seite im Vorhinein abgestimmt wurde 117). Auch eine erhebliche Fluchttendenz des Jugendlichen führt in der Regel nicht zur Ablehnung seiner Aufnahme, vorausgesetzt, der Jugendliche wird auch sonst für geeignet gehalten 118). Auch die Straftaten, deren Begehung der Jugendliche verdächtig ist, stellen nicht das allein entscheidende Kriterium im Rahmen der Aufnahmeentscheidung dar 119).

ee) Wissenschaftliche Begleitung, Erfolgsquote, Tagessatz

In der Einrichtung fand von 1984 bis 1985 eine wissenschaftliche Begleitung statt, die auch Fragen der Konflikt- und Stressbewältigung zum Gegenstand hatte 120).

Die Einrichtung Schloss Stutensee stellt für etwa 90 Prozent der aufgenommenen Jugendlichen eine Alternative zum Jugendstrafvollzug dar 121). Für 65 Prozent der im Jahr 2003 untergebrachten Jugendlichen wird der Verlauf der Maßnahme als positiv bewertet 122) .

Der mit dem Justizministerium Baden-Württemberg ausgehandelte Tagessatz liegt für die Einrichtung bei rund 210 Euro 123). Entwicklung des Projekts „Heimunterbringung statt Untersuchungshaft" in Rheinland-Pfalz

1. Die Entwicklung von 1988 bis zur Koalitionsvereinbarung 1996 bis 2001

Um die Zielsetzung des Jugendgerichtsgesetzes, nämlich bei jugendlichen Tatverdächtigen möglichst selten Untersuchungshaft zu verhängen, besser zur Geltung zu bringen, hatten das Ministerium für Soziales und Familie sowie das Ministerium der Justiz am 14. März 1988 die Übereinkunft „Heimerziehung statt Untersuchungshaft" getroffen. Für die Entscheidung der Frage, welches Heim im Einzelfall als geeignet anzusehen ist, sind nach der Übereinkunft insbesondere zwei Aspekte von Bedeutung: Einerseits die besonderen Möglichkeiten der Erziehung und Ausbildung, die die jeweilige Einrichtung für den Jugendlichen bietet, und andererseits die nach Lage des Falls erforderlichen Sicherungen und Vorkehrungen, die ein Entweichen des Jugendlichen unwahrscheinlich machen oder verhindern 124).

Die Übereinkunft war das Ergebnis intensiv geführter Abstimmungsprozesse zwischen den Ressorts der beiden an ihr beteiligten Ministerien. Auf Fachebene war die Übereinkunft durch den Zeugen Gilles, seinerzeit Sachbearbeiter im Ministerium für Soziales und Familie, und dem Zeugen Ringel als dem damals für Jugendstrafrecht zuständigen Referenten im Ministerium der Justiz vorbereitet worden.

Als streitig hatte sich zwischen den Ressorts insbesondere die Frage herausgestellt, welche konzeptionellen Anforderungen an ein geeignetes Heim zu stellen sind, um die Zielsetzung des Jugendgerichtsgesetzes zu realisieren. In dem sich abzeichnenden Konfliktfeld standen sich der von der Jugendhilfe formulierte Anspruch auf pädagogisch gestaltbare Erziehung und die auf Entweichungshemmung und Geschlossenheit fixierten Interessen der Justizseite gegenüber 125).

Die praktische Umsetzung des in der Übereinkunft formulierten Konzepts scheiterte.

Auf der Grundlage der Übereinkunft fanden zwei Heime mit geschlossenen Gruppen und 16 offen konzipierte Heime Aufnahme in den Katalog für die Umsetzung des vereinbarten Konzepts 126). Die Gerichte der Jugendgerichtsbarkeit hatten die Jugendlichen weit überwiegend in den beiden geschlossene Gruppen ­ dem Jugendhilfezentrum Bernardshof in Mayen und dem Jugendheim Mühlkopf in Rodalben ­ untergebracht; die übrigen Heime konnten demgegenüber kaum Akzeptanz für sich beanspruchen, da die dort vorhandenen offenen Unterbringungsbedingungen angesichts fehlender Entweichungssicherheit auf Ablehnung bei den Gerichten stießen 127). Die zur Untersuchungshaftvermeidung angeordneten Unterbringungen waren selbst nach der Übereinkunft weiter rückläufig 128).

In der Folgezeit fanden dauernde Gespräche der Ressorts auch mit den Einrichtungsträgern statt, um die sich in weitgehend ausbleibender Heimunterbringung darstellende Praxis zu korrigieren 129). Ungeachtet dessen schienen die in der fachpolitischen Diskussion vorhandenen Auffassungsunterschiede unüberwindlich und festgefahren 130).

Nach Aussage des Zeugen Dr. Böhm, Abteilungsleiter im Ministerium der Justiz, verschärfte sich die Problemlage im Jahr 1991, nachdem die Heimleitungen dazu übergegangen waren, einen zeitlichen Vorlauf von vier bis sechs Wochen zur Aufnahme der straffälligen Jugendlichen einzufordern 131). In der Konsequenz stellte sich nach Aussage des Zeugen Dr. Böhm eine Situation ein, in der die Justiz auf kein rheinland-pfälzisches Heim mehr zurückgreifen konnte, das zur Aufnahme tatverdächtiger Jugendlicher bereit und geeignet war 132). Die sich daran anknüpfende Überlegung der betroffenen Ressorts, für die Justiz eine gewisse Anzahl von baulich entweichungssicheren Heimplätzen in Einrichtungen der Jugendhilfe vorzuhalten und über Tagessätze oder Vorhaltepauschalen zu finanzieren, scheiterte im Ergebnis an den Widerständen der Heimleitungen133). Tatsächlich sind nach Aussage der Zeugin Frau Schmitz, Leiterin des Jugendhilfezentrums Don Bosco Helenenberg, Jugendliche dort auch von der rheinland-pfälzischen Justiz untergebracht worden 134).

Die Diskussion um Heimunterbringung statt Untersuchungshaft erfuhr neue Dynamik durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das als Position die Ablehnung geschlossener Heimunterbringung bestimmte 135). Als Reaktion darauf gaben

124) 4. Sitzung, Protokoll S. 2 (Ziffer 2.2 der Übereinkunft vom 14. März 1988). 125) 4. Sitzung, Protokoll S. 10, 20.

126) 4. Sitzung, Protokoll S. 10.

127) 4. Sitzung, Protokoll S. 11, 12, 22.

128) 4. Sitzung, Protokoll S. 25.

129) 4. Sitzung, Protokoll S. 15, 18.

130) 4. Sitzung, Protokoll S. 25.

131) 4. Sitzung. Protokoll S. 62.

132) 4. Sitzung, Protokoll S. 63.

133) 4. Sitzung, Protokoll S. 63.

134) 4. Sitzung, Protokoll S. 87.

135) 4. Sitzung, Protokoll S. 25.