Jugendstrafanstalt

9. Würdigung

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme geht der Ausschuss davon aus, dass es trotz der für die Jugendlichen ungewohnten engmaschigen und strukturierten Tagesabläufe bis zum 20. November 2003 nach außen hin keine erkennbaren Auffälligkeiten gegeben hat, die auf eine geplante Flucht hätten schließen lassen können. Im Gegenteil: Es gab im Vorfeld deutliche Hinweise auf das Greifen konsensorientierter Konfliktlösungsmechanismen bei den vor diesem Ereignis untergebrachten zwei Jugendlichen.

Auch die Situation am Abend des 20. November 2003 hat keine Besonderheiten aufgewiesen, aus der sich Rückschlüsse auf eine konkrete Krisensituation hätten ergeben können. Der Geschehensablauf erinnert zu Beginn vielmehr an vorangegangene Abende, an denen die Jugendlichen auch erst nach mehrfacher Aufforderung die Nachtruhe einhielten. Allerdings wurde die veränderte Gruppendynamik durch die Aufnahme eines dritten Jugendlichen durch die Gruppen- und Heimleitung nicht hinreichend reflektiert und mit entsprechenden Folgen für die Betreuungssituation verknüpft. Von daher ist die Einschätzung der Einrichtungsleitung, der Nachtdienst habe nicht verstärkt werden müssen 633), unzutreffend. Nach Auffassung des Ausschusses hätte die Berufsanfängerin Christina Knoll in der Nacht vom 20. auf den 21. November 2003 nicht allein Dienst in der Gruppe tun dürfen (s. auch o. B. XIV. 6.). Dies gilt umso mehr, als der Eintrag der Christina Knoll im Dienstbuch vom 18. November 2003, in dem sie ihre Kollegen im Hinblick auf ihr pädagogisches Vorgehen um eine Chance bittet und ankündigt, sie werde sich „nicht mehr so schnell erweichen lassen" und „beim nächsten Mal das Verbot durchsetzen", für die Verantwortlichen der Einrichtung Grund zu einer Supervision hätte sein müssen. Bei der Entscheidung der verantwortlichen Gruppen- und Einrichtungsleitung, die Berufsanfängerin Christina Knoll allein den Nachtdienst in der Gruppe tun zu lassen, handelte es sich um eine gravierende und in der Konsequenz tragische Fehleinschätzung.

XV. Aufnahmeverfahren Ferid T.

1. Voraussetzungen und Ausschlussgründe der Leistungsbeschreibung

In der Leistungsbeschreibung ist bestimmt, dass die Einrichtung über die Aufnahme entscheidet. Eine Aufnahme ist nur möglich, wenn der Jugendliche zustimmt. Ausgeschlossen ist die Aufnahme nach der Leistungsbeschreibung in der Regel,

­ wenn mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer langjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen ist,

­ wenn nach der Schwere des Tatvorwurfs eine Betreuung im Rahmen der Jugendhilfe nicht vertretbar ist,

­ bei Überlastung der Gruppe durch gleiche Täterstrukturen,

­ bei psychiatrischen Krankheitsbildern oder akuter Suchterkrankung.

Das Rahmenkonzept sieht eine Pflicht der Jugendhilfe vor, das Erstgespräch spätestens nach 48 Stunden in der Justizvollzugsanstalt zu führen. An dem Erstgespräch ist nach der Rahmenkonzeption auch die Jugendgerichtshilfe zu beteiligen.

2. Verfahrensabläufe und Vorgaben im Jugendheim Mühlkopf

Das Aufnahmeverfahren gestaltete sich für die Untersuchungshaftvermeidungsgruppe im Jugendheim Mühlkopf im Wesentlichen wie folgt:

In Gang gesetzt wurde das Verfahren mit einer Aufnahmeanfrage üblicherweise der Staatsanwaltschaft oder Jugendgerichtshilfe. Nach Schilderung des Sachverhalts durch die anfragende Stelle wurden von dieser die über den Jugendlichen vorhandenen Unterlagen an die Einrichtung übermittelt. Im Anschluss fand innerhalb des Gruppendienstes eine Prüfung der Aufnahmeanfrage statt, zu der jeder einzelne eine Stellungnahme abgab, entweder innerhalb einer Teamsitzung oder im Rahmen eines schriftlichen Umlaufverfahrens, bei dem die über den Jugendlichen vorhandenen Unterlagen beigefügt waren 634). Der in der Folge vereinbarte Termin für ein Erstgespräch diente der Gewinnung eines persönlichen Eindrucks von dem Jugendlichen und zugleich der Vermittlung des der Einrichtung zugrundeliegenden Konzepts. Diesen Termin sollten in der Regel der Gruppenleiter, der Zeuge Vocke und eine weiterer Mitarbeiter oder weitere Mitarbeiterin wahrnehmen 365). Im Anschluss erfolgte eine nochmalige Beratung innerhalb der Mitarbeiter.

Deren Votum überbrachte in der Regel der Zeuge Vocke dem Zeugen Teufel, der auch über Verlauf und Ergebnis des Erstgesprächs informiert wurde 636). Die Entscheidung über die Aufnahme oder deren Ablehnung fiel in die Kompetenz des Zeugen Teufel 637). Vorgabe für die Beurteilung der Aufnahmeeignung eines Jugendlichen war ­ neben anderen Kriterien ­ insbesondere das Vorliegen glaubhafter Bereitschaft zur Mitarbeit in dem Projekt und die Einbeziehung der Frage einer Gewaltbereitschaft 638).

633) 11. Sitzung, Protokoll S. 40.

634) 11. Sitzung, Protokoll S. 15.

635) 9. Sitzung, Protokoll S. 81.

636) 11. Sitzung, Protokoll S. 36.

637) 9. Sitzung, Protokoll S. 81.

638) 8. Sitzung, Protokoll S. 30.

Drucksache 14/4120 Landtag Rheinland-Pfalz - 14. Wahlperiode

3. Gang des Aufnahmeverfahrens von Ferid T.

a) Aufnahmeanfrage der Staatsanwaltschaft Koblenz

Der Jugendliche Ferid T. war im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Koblenz mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Aus diesem Anlass hatte die zuständige Polizeiinspektion Remagen bei der Staatsanwaltschaft Koblenz angeregt, Haftbefehl zu beantragen.

Die innerhalb der Staatsanwaltschaft Koblenz zuständige Dezernentin war die Zeugin Frau Henneberger. Nach Prüfung der gegen den Jugendlichen erhobenen Vorwürfe hielt sie die gesetzlichen Voraussetzungen für eine untersuchungshaftvermeidende Heimunterbringung für gegeben. Aspekte wie Straferwartung, Gewaltbereitschaft oder Fluchtgefahr hatten für die Zeugin Frau Henneberger dabei keine Rolle gespielt, weil sie unter rechtlichen Aspekten davon ausging, dass diese der Untersuchungshaftvermeidung nicht entgegenstehen 639) .

Zur Klärung der Frage, ob statt eines Haftbefehls unmittelbar ein Unterbringungsbefehl beantragt werden kann, trat sie am 8. Oktober 2003 mit dem Jugendheim Mühlkopf in Kontakt, um dort die Aufnahmebereitschaft zu eruieren640). Eine unmittelbare Aufnahme hatte das Jugendheim indes abgelehnt und die Entscheidung von der Gewinnung eines persönlichen Eindrucks abhängig gemacht 641). Zu diesem Zweck war im weiteren Verlauf verabredet worden, dass der Jugendliche, gegen den Haftbefehl erlassen wurde, am 13. Oktober 2003 in der Jugendstrafanstalt Wittlich aufgesucht wird.

Ebenfalls am 8. Oktober 2003 wurde die Jugendgerichtshilfe der Kreisverwaltung Ahrweiler über die in Betracht gezogene Heimunterbringung informiert 642).

Für den dort mit der Angelegenheit befassten Sachbearbeiter der Jugendgerichtshilfe, den Zeugen Podehl, hatte es sich seinerzeit um die erste Anfrage für eine Unterbringung in der Einrichtung im Jugendheim Mühlkopf gehandelt 643). Der Zeuge Podehl hielt sich zunächst allerdings für unzuständig und leitete die ihm in dieser Angelegenheit von der Staatsanwaltschaft Koblenz vorgelegten Unterlagen in Kopie an das aus seiner Sicht zuständige Jugendamt Köln weiter 644).

Die Unklarheiten in der Zuordnung der Zuständigkeit der Jugendgerichtshilfe hatten daraus resultiert, dass der tatsächliche Aufenthalts- beziehungsweise Wohnort des Jugendlichen, der sich wechselweise in Köln und Sinzig aufhielt, zunächst nicht zweifelsfrei zu ermitteln war. Überdies hatte das Ausländeramt Köln dem Jugendlichen die Abschiebung angedroht, wobei die Abschiebung ­ wie eine Nachfrage der Zeugin Frau Henneberger ergab ­ jedenfalls nicht zeitnah anstand645). Die Frage der örtlichen Zuständigkeit der Jugendgerichtshilfe blieb zunächst bis zum 9. Oktober 2003 noch ungeklärt und wurde sodann dahin gehend beantwortet, dass die Jugendgerichtshilfe der Kreisverwaltung Ahrweiler zuständig ist646).

b) Aufnahmegespräch in der Jugendstrafanstalt Wittlich

aa) 10. Oktober 2003

Die Zeugen Vocke und Schady hatten den inhaftierten Jugendlichen bereits am 10. Oktober 2003 in der Jugendstrafanstalt Wittlich aufgesucht und waren dabei übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, dass er sich für das Projekt eignen würde.

Im Vorfeld des Termins hatte insbesondere bei dem Zeugen Schady noch Skepsis bestanden, vor allem im Hinblick auf die dem Jugendlichen zur Last gelegten Taten, soweit sie aus den seinerzeit vorliegenden Unterlagen hervorgingen647). Neben den auf Veranlassung der Zeugin Henneberger zugeleiteten staatsanwaltschaftlichen Unterlagen hatte die Einrichtung auch weitere Schreiben von in Betracht kommenden Stellen in Köln beigezogen 648). Der Zeuge Langhans hatte in seiner Vernehmung angegeben, die zu dieser Zeit in der Einrichtung beschäftigten Mitarbeiter hätten im Vorfeld aufgrund der Aktenlage einvernehmlich gegen eine Aufnahme votiert 649) .

639) 9. Sitzung, Protokoll S. 39.

640) 6. Sitzung, Protokoll S. 130; 9. Sitzung, Protokoll S. 41. Seiner Aussage zufolge hatten die Unterlagen keine Hinweise enthalten, die für die Annahme einer erheblichen Gewaltbereitschaft hätten sprechen können oder die Merkmale einer schweren Tat erfüllt hätten. Ob sich eine Gewaltbereitschaft zum Ausschlusskriterium verdichten kann, hängt für den Zeugen auch von der Bereitschaft des Jugendlichen ab, sein aggressives Verhalten aufzugeben 651).

Nachdem Ausschlussgründe für den Zeugen Vocke nicht erkennbar waren und auch der Zeuge Schady einen positiven Eindruck von dem Jugendlichen gewonnen hatte, wurde der Staatsanwaltschaft Koblenz im Anschluss an das Gespräch Aufnahmebereitschaft mitgeteilt 652).

bb) 13. Oktober 2003

Am 13. Oktober 2003 musste der Jugendliche nochmals in der Jugendstrafanstalt aufgesucht werden, weil als Folge unklarer Zuständigkeiten kein Vertreter der Jugendgerichtshilfe zum vorangegangenen Termin erschienen war. In der Rahmenkonzeption ist für das Aufnahmeverfahren jedoch bestimmt, dass an dem Erstgespräch die zuständige Jugendgerichtshilfe zu beteiligen ist.

Zur Nachholung fanden sich der Zeuge Podehl sowie ­ von Seiten des Jugendheims ­ die Zeugen Schady und Frau Vatter in Begleitung von Christina Knoll in der Jugendstrafanstalt Wittlich ein 653). Nachdem die Zeugen Vocke und Schady die Aufnahme bereits im ersten Termin am 10. Oktober 2003 befürwortet hatten, ging es am 13. Oktober 2003 an sich nur noch um die Überführung des Jugendlichen in die Einrichtung nach Rodalben 654).

(1) Verlauf und Ergebnis des Gesprächs am 13. Oktober 2003

Das in einem Besucherzimmer der Jugendstrafanstalt stattfindende Gespräch hatte der Zeuge Podehl mit dem Jugendlichen zunächst allein und in Abwesenheit des Zeugen Schady, der Zeugin Frau Vatter und von Christina Knoll geführt, die kurze Zeit später eintrafen 655). Die Zeugin Frau Vatter hatte in ihrem vorherigen Tätigkeitsfeld schon an einigen Aufnahmegesprächen teilgenommen, nicht jedoch im Rahmen einer Untersuchungshaftvermeidung 656).

(a) Der weitere Verlauf des mit dem Jugendlichen geführten Gesprächs stellte sich nach Aussage der Zeugin Frau Vatter wie folgt dar:

Der Zeuge Podehl habe dem Jugendlichen mitgeteilt, dass er mit einem Kollegen, der die Familie kenne, in Kontakt getreten sei. Dieser hätte ihn darauf hingewiesen, dass er ­ der Jugendliche ­ im Sommer davon gesprochen habe, sich vorstellen zu können, irgendwann wieder bei seinem Vater in Holland zu wohnen. Auf Frage des Zeugen Podehl habe der Jugendliche dies als zutreffend bejaht. Sie ­ die Zeugin Frau Vatter ­ habe den Jugendlichen daraufhin gefragt, ob er sich dies immer noch vorstellen könne, was er ebenfalls bejaht habe 657).

Vor diesem Hintergrund habe der Zeuge Schady noch während des Gesprächs, was dann kurzfristig unterbrochen wurde, Veranlassung gesehen, die zuständige Staatsanwältin über diese Mitteilung des Jugendlichen in Kenntnis zu setzen. Gemeinsam mit dem Zeugen Podehl begab er sich in ein anderes, mit Telefon ausgestattetes Zimmer, von dem er die Zeugin Frau Henneberger anrief 658).

Im Anschluss an das Telefonat mit der Zeugin Frau Henneberger kamen die Zeugen Schady und Podehl wieder zurück in das Besucherzimmer, aus dem der Jugendliche inzwischen herausgeführt worden war 659). Die Zeugin Frau Vatter, die bei dem Telefonat wie auch Christina Knoll nicht zugegen war, bekundete, der Zeuge Schady habe nach seiner Rückkehr Folgendes mitgeteilt:

Die Zeugin Frau Henneberger habe vor dem Hintergrund der ihr mitgeteilten Einschätzung hinsichtlich des Bestehens einer Fluchtgefahr die Garantie eingefordert, dass der Jugendliche zur Hauptverhandlung erscheinen werde.