Fortbildung

März 2004 wurde aufgrund eines Änderungsantrags der Fraktionen der SPD und FDP (Vorlage 14/2942) dem § 13 POG der Absatz 4 angefügt und damit für die Polizei die Möglichkeit geschaffen, ein befristetes Näherungs- und Kontaktverbot in Fällen häuslicher Gewalt auszusprechen. Dadurch wurde eine Schutzlücke im Gesetz geschlossen und damit der Schutz für Opfer häuslicher Gewalt verbessert. Die Polizei in Rheinland-Pfalz und die mit ihr zusammenarbeitenden Stellen wenden die genannte Vorschrift seit über einem Jahr an und verfügen über entsprechende Erfahrungen.

Wir fragen daher die Landesregierung:

1. Wie viele Maßnahmen nach § 13 Abs. 4 des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (POG) sind seit der Einfügung der Vorschrift in das POG durch Gesetz vom 2. März 2004 erfolgt und in welchem Umfang kamen sie zur Anwendung (bitte aufgegliedert nach Wohnungsverweisungen, Rückkehrverboten, Aufenthaltsverboten, Kontakt- und Annäherungsverboten)?

2. Wie viele Straftaten in engen sozialen Beziehungen wurden im gleichen Zeitraum in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst und wie gliedern sich diese nach PKS-Hauptgruppen auf (bitte mit Angaben zur Tatverdächtigen- und Tatortstruktur)?

3. Die polizeilichen Maßnahmen werden zeitlich befristet. Wie gestalten sich diese Fristen (ein bis drei Tage, drei bis zehn Tage, mehr als zehn Tage)? Erachtet die Landesregierung eine Wegweisungsdauer von zehn Tagen i. d. R. für ausreichend?

4. Werden die polizeilichen Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt in engen sozialen Beziehungen in der Praxis durch den Betroffenen befolgt? Sind der Landesregierung Fälle bekannt, in denen die Rückkehr des Betroffenen beispielsweise durch das Opfer selbst ermöglicht wurde oder in denen der/die Betroffene selbst gegen die polizeiliche Verfügung verstoßen hat?

5. In welchem Umfang wurden gegen die polizeilichen Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt in engen sozialen Beziehungen Rechtsmittel eingelegt (Widersprüche, Klagen)? Wie sind diese Verfahren ausgegangen?

6. In wie vielen Fällen, in Relation zu polizeilichen Maßnahmen nach § 13 Abs. 4 POG, erfolgte eine Antragstellung bei Gericht nach dem Gewaltschutzgesetz (GewSchG)?

7. Wie viele Straftaten nach § 4 GewSchG musste die Polizei seit Einführung der Bestimmung bearbeiten? Wie hoch ist das Verhältnis „Verfügungen der Gerichte nach dem GewSchG" zu „Straftaten nach § 4 GewSchG"?

8. Wie gestaltet sich im Bereich der Gewalt in engen sozialen Beziehungen die Zusammenarbeit der Polizei vor allem mit den Familiengerichten?

9. Wie beurteilt die Polizei die Zusammenarbeit mit den Interventionsstellen?

10. Gibt es aus Sicht der Polizei Sicherheitslücken zwischen dem Platzverweis und der anschließenden Antragstellung nach dem Gewaltschutzgesetz?

11. Wie bewertet die Landesregierung die Arbeit der Ambulanz für Opfer am Institut für Rechtsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz?

12. Wie hoch ist der Anteil der Beratungen durch die Interventionsstellen (im Vergleich zu den polizeilichen Einsätzen zum Schutz vor GesB) im Bereich der Polizeipräsidien Trier, Koblenz, Mainz und Westpfalz? Sind Unterschiede zur Beratungspraxis im Bereich des PP Rheinpfalz erkennbar?

13. Sind der Landesregierung Fälle bekannt, in denen das Opfer eine Weitergabe seiner persönlichen Daten an die Interventionsstelle abgelehnt hat? Wenn ja, wie hoch ist die Zahl dieser Fälle gemessen an der Gesamtzahl der Weitergaben?

14. Wie gestaltet sich in den polizeilichen Zuständigkeitsbereichen, in denen keine Interventionsstellen eingerichtet wurden, die Beratungspraxis?

15. Sollte nach Auffassung der Landesregierung vor dem Hintergrund der vorliegenden polizeilichen Erfahrungen das Netz der Interventionsstellen in Rheinland-Pfalz verstärkt werden?

16. Haben sich die internen Regelungen im Bereich der Polizei bewährt (veränderte Bearbeitungszuständigkeit, Zusammenarbeit der Polizeiinspektionen mit den K 2, „Koordinatoren GesB")?

17. Wurden die Regelungsinhalte und Hinweise im „Leitfaden" im Bereich der Polizei in der Praxis angenommen und konsequent umgesetzt?

18. Wie und in welchem Umfang gestaltet sich die polizeiliche Aus- und Fortbildung im Bereich „Gewalt in engen sozialen Beziehungen"?

19. Welche Maßnahmen wurden zur Information der Öffentlichkeit über die neuen Möglichkeiten nach dem POG und über das in den Leitfäden vermittelte polizeiliche Selbstverständnis ergriffen?

20. Ist der Landesregierung bekannt, in wie vielen Fällen eine Antragstellung nach dem Gewaltschutzgesetz direkt über die Interventionsstellen oder unmittelbar bei den Familiengerichten erfolgte im Vergleich zu der Anzahl der Anträge mit vorherigem Kontakt zur Polizei? Wurde die Polizei in allen Fällen informiert?

21. Wie werden seitens der Interventionsstellen/Hilfeeinrichtungen die Zusammenarbeit mit der Polizei sowie die polizeilichen Maßnahmen in diesem Themenbereich insgesamt bewertet?

22. Wie werden seitens der Familiengerichte die Zusammenarbeit mit der Polizei sowie die polizeilichen Maßnahmen in diesem Themenbereich insgesamt bewertet?

Das Ministerium des Innern und für Sport hat die Große Anfrage namens der Landesregierung ­ Zuleitungsschreiben des Chefs der Staatskanzlei vom 29. Juli 2005 ­ wie folgt beantwortet:

Vorbemerkung:

Der Landtag hat in einem fraktionsübergreifenden Beschluss im August 1999 festgestellt, dass männliche Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften nicht länger als Privatangelegenheit der Konfliktparteien betrachtet werden darf, sondern ihre Bekämpfung eine öffentliche Aufgabe ist. Dies erfordere ein konsequentes Zusammenspiel aller gesellschaftlich verantwortlichen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen, und zwar auf der Grundlage eines umfassenden Präventions- und Interventionskonzeptes.

Der Entschließung folgte die Erarbeitung des rheinland-pfälzischen Interventionsprojektes gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen, kurz RIGG genannt. Im Rahmen des interdisziplinär durchgeführten Projekts erarbeiteten acht Fachgruppen für die erkannten Problemstellungen Lösungsansätze, die in der Folge Auswirkungen auf die Arbeit der Polizei, der Justiz, des Gesundheitswesens sowie von nichtstaatlichen Hilfeeinrichtungen und weiteren Institutionen hatte.

So erarbeitete die Fachgruppe „Polizeiliche Intervention" Vorschläge zur Änderung des Polizeirechts, um Schutzlücken bis zum Erlass einer Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz zu schließen. Diese Vorschläge flossen in die Novellierung des § 13 des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes von Rheinland-Pfalz (POG) ein. Seit dem 3. März 2004 kann die Polizei in Fällen von Gewalt in engen sozialen Beziehungen (GesB) dem Täter gegenüber eine zeitlich befristete Wegweisung aus dessen Wohnung verfügen.

Zudem kann die Polizei ein Aufenthaltsverbot für bestimmte Örtlichkeiten sowie ein Kontakt- und Näherungsverbot aussprechen, so dass nunmehr alle rechtlichen Möglichkeiten nach dem Gewaltschutzgesetz (GewSchG) auch auf der Grundlage des POG von der Polizei ergriffen werden können. Abweichend von dem Grundsatz, wonach die Kompetenz zur Gefahrenabwehr grundsätzlich bei den Ordnungsbehörden liegt und die Polizei nur in Eilfällen tätig wird, ist in Fällen von GesB der Polizei die alleinige Zuständigkeit zugewiesen. Dies erspart den Opfern, mit unterschiedlichen Behörden und wiederholt über auch traumatisierende Erfahrungen zu sprechen.

Dank intensiver Auseinandersetzung mit dem Phänomen GesB im Rahmen von RIGG hat sich bei der Polizei ein Paradigmenwechsel vollzogen. Das neue Rollenverständnis basiert auf der Prämisse „Hilfe leisten, schützen und ermitteln, statt nur zu schlichten". GesB ist für die Polizei seit Ende 2002 wie folgt verbindlich definiert: „Gewalt in engen sozialen Beziehungen bedeutet

­ eine Handlung oder zusammenhängende, fortgesetzte und wiederholte Handlungen,

­ in einer ehemaligen oder gegenwärtigen ehelichen oder nicht ehelichen Lebensgemeinschaft,

­ in einer ehemaligen oder gegenwärtigen nicht auf eine Lebensgemeinschaft angelegten sonstigen engen partnerschaftlichen Beziehung,

­ die eine strafrechtlich sanktionierte Verletzung der physischen oder psychischen Integrität der Partnerin oder des Partners, insbesondere von Leib, Leben, körperlicher Unversehrtheit, Freiheit und sexueller Selbstbestimmung, bewirkt oder zu bewirken droht.

Im Zweifelsfall ist von Gewalt in engen sozialen Beziehungen auszugehen."

Unter Zugrundelegung dieser Definition von GesB und eigens für die Erfassung solcher Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erlassenen Richtlinien und Erfassungsmodalitäten verfügt die Polizei über die Möglichkeit, das Hellfeld dieses Krimina litätsbereichs sicherer als zuvor abzubilden. „Wer schlägt, muss gehen", ist die Maxime, nach der die Polizei gegen GesB vorgeht. Die Täter werden stärker in die Verantwortung genommen, die Rechte der Opfer gestärkt bei gleichzeitiger Verbesserung der Hilfeangebote für Opfer.

GesB hat vielschichtige Ursachen und kann daher auch nur über einen interdisziplinären Ansatz gelöst werden. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Einrichtung von Interventionsstellen. Sie haben als Teil der Interventionskette, zu der auch die Justiz, Notrufe, Frauenhäuser und andere staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen gehören, eine ganz entscheidende Bedeutung.

Das RIGG hat aber nicht nur die Opferseite im Blick gehabt, sondern sich auch mit den Tätern auseinander gesetzt. So wurde ein Konzept erarbeitet, das die Einrichtung eines Projektes zur Täterarbeit vorsieht. Unter Federführung des Ministeriums des Innern und für Sport ist dieser Gedanke aufgegriffen und umgesetzt worden. Das auf drei Jahre angelegte Projekt ist an einen freien Träger vergeben und wird in Mainz durchgeführt.

Mit dem Interventionsprojekt und den in diesem Zusammenhang vorgenommen Änderungen des POG hat das Land ein klares Signal ausgesandt: GesB ist keine Privatsache! Die Landesregierung betrachtet es als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, die Opfer wirksam zu schützen und die Täter nachhaltig zur Verantwortung zu ziehen. Dieser Aufgabe wird sie auch in Zukunft mit allen ihr hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln konsequent nachkommen.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Große Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

1. Wie viele Maßnahmen nach § 13 Abs. 4 des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes (POG) sind seit der Einfügung der Vorschrift in das POG durch Gesetz vom 2. März 2004 erfolgt und in welchem Umfang kamen sie zur Anwendung (bitte aufgegliedert nach Wohnungsverweisungen, Rückkehrverboten, Aufenthaltsverboten, Kontakt- und Annäherungsverboten)?

Die Polizei hat im Zusammenhang mit GesB im Zeitraum vom 1. April 2004 bis zum 30. Juni 2005 insgesamt 1 965 zeitlich befristete Verfügungen nach § 13 POG erteilt. Eine differenzierte Auflistung der Maßnahmen, die nach Wohnungsverweisungen und Rückkehrverboten (§ 13 Abs. 2 POG) sowie Kontakt- und Näherungsverboten (§ 13 Abs. 4 POG) unterscheidet, liegt nicht vor.

Eine Nacherhebung dieser Daten wäre nur durch manuelle Auswertung aller Einzelvorgänge möglich, von der die Landesregierung wegen des damit verbundenen Personal- und Zeitaufwandes abgesehen hat.

2. Wie viele Straftaten in engen sozialen Beziehungen wurden im gleichen Zeitraum in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst und wie gliedern sich diese nach PKS-Hauptgruppen auf (bitte mit Angaben zur Tatverdächtigen- und Tatortstruktur)?

Die Polizei hat GesB zuzuordnende Straftaten auf der Grundlage der oben beschriebenen Definition erstmals im Jahre 2003 in der PKS erfasst. Diese Daten werden in quartalsmäßig erstellten Tabellen ausgewiesen. Sie beinhalten Angaben zu versuchten oder vollendeten Straftaten, der Aufklärungsquote, den ermittelten Tatverdächtigen und den Opfern. Eine Aufgliederung der Tatorte nach Einwohnerzahlen (Tatortbereiche) erfolgt hierbei jedoch nicht.

Eine Analyse der GesB, beginnend mit dem 3. März 2004, ist aufgrund der quartalsmäßigen Generierung der PKS-Tabellen nicht möglich. Deshalb, und um möglichst valide Aussagen treffen zu können, wurden die Daten für das gesamte Jahr 2004 erhoben und denen des Vorjahres gegenübergestellt.

Die Tabelle in Anlage 1 weist die erfassten Fälle von GesB für die Jahre 2003 und 2004 sowohl in ihrer Gesamtheit als auch aufgeschlüsselt nach Straftatenobergruppen aus und stellt sie in Relation zum Straftatenaufkommen insgesamt.