Strukturwandel

Landtag des Saarlandes - 12. Wahlperiode - 79 sozialer Ausgrenzung, darf unterstellt werden, dass sich auch hinter entschuldigtem Fehlen in erheblichem Umfang Schulpflichtverletzungen verbergen. Maßstab muss deshalb hier der regelmäßige Schulbesuch sein, denn er ist eine entscheidende Voraussetzung für den Schulerfolg.

Nach dem Auslaufen der Hauptschule im Saarland muss man hier sicher nicht mit einer derartigen Konzentration von Schulversäumnissen auf eine Schulart rechnen. Aber es gibt auch im Saarland sehr wohl Schulen, an denen die Schulversäumnisse ein bemerkenswertes Ausmaß erreichen: So ergab eine Auszählung der in die Schulzeugnisse eingetragenen Schulversäumnisse in den 8. Klassenstufen von vier Schulen der Sekundarstufe I im Saarland durchschnittliche Schulversäumnisse pro Klasse, die weit über dem liegen, was man als legitim akzeptieren kann. In einer der beteiligten Schulen ergaben sich bei insgesamt etwas über 200 Schülern in der 8. Klassenstufe durchschnittlich über 20 Fehltage pro Schüler, in zwei dieser Klassen wurde gar ein Durchschnitt von deutlich über 30 Fehltagen pro Schüler erreicht. In dieser Schule haben insgesamt mehr als zehn Prozent der Schüler der 8. Klassenstufe mehr als die Hälfte des Unterrichts versäumt. Aber auch in anderen der in die kleine Untersuchung einbezogenen Schulen zeigten sich in einigen Klassen durchschnittliche Schulversäumnisse von deutlich über zehn Fehltagen pro Schulhalbjahr.

Nun bezieht sich diese kleine Untersuchung auf die 8. Klassenstufe, in der sich Schulversäumnisse erfahrungsgemäß häufen ­ jedenfalls außerhalb des Gymnasiums ­ und auch die Auswahl der Schulen ist sicher alles andere als repräsentativ. Aber allein die Tatsache, dass es mindestens eine solche Schule im Saarland gibt, sollte zum Anlass genommen werden, Schulversäumnisse, ihre Erfassung und ihre Reduzierung, zu einem wichtigen Gegenstand saarländischer Bildungspolitik zu erheben. Denn die Vermeidung von Schulversäumnissen ist zweifellos ein wesentliches Element jedes bildungspolitischen Konzepts zur Vermeidung und Reduzierung schulischen Scheiterns, also insbesondere zur Senkung des im Saarland zu hohen Anteils Jugendlicher, die die Schulen ohne Abschluss verlassen.

Schulversäumnisse sind deshalb keine Bagatelle, sondern immer ein Hinweis auf erhöhte Risiken schulischen Scheiterns und damit zugleich auch erhöhte Risiken sozialer Ausgrenzung. Eine Bildungspolitik, die sich gegenüber den schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen in sozialer Verantwortung sieht, kann deshalb die Zuständigkeit für die Einhaltung der Schulpflicht nicht einfach "den Eltern bzw. den Personen, denen an Stelle der Eltern die Erziehung der Schulpflichtigen ganz oder teilweise obliegt, sowie den Ausbildungsbetrieben" überantworten, wie es die saarländische Landesregierung in der Beantwortung einer Landtagsanfrage zum Thema getan hat (vgl. Landtags-Drucksache 12/234 vom 27.9.2000). Bildungspolitik in sozialer Verantwortung muss in jedem Fall auch bedeuten, dass die Schule ihre eigenen Möglichkeiten zur Verbesserung des Schulbesuchsverhaltens sowohl durch die Schaffung geeigneter pädagogischer Angebote wie auch durch geeignete Formen der Kontrolle wahrnimmt und ausschöpft.

Dazu gibt es im Saarland durchaus Ansätze und Beispiele. So sind zweifellos die Formen intensivierter Arbeitswelterfahrung und Berufsorientierung, wie sie in einigen Gesamtschulen und erweiterten Realschulen in unterschiedlichen Modellen und Projekten praktiziert werden, geeignet, das Schulbesuchsverhalten solcher Schülerinnen und Schüler zu verbessern, deren Schullaufbahn bisher durch ein Übermaß schulischen Scheiterns gekennzeichnet war.

Vielen von ihnen werden durch solche Angebote realistische Perspektiven für ein Gelingen der Einmündung in das Beschäftigungssystem und neue Möglichkeiten und Anreize für erfolgreiches Lernen in der Schule eröffnet.

In vielen Fällen aber wird allein ein verändertes Angebot der Schule nicht ausreichen, um diejenigen in die Schule zurückzuholen, die sich bereits weitgehend von ihr verabschiedet haben ­ oder deren Beziehung zur Schule so weit zerrüttet ist, dass sie für sich keinen Weg mehr sehen, dorthin zurückzukehren. Für diese Fälle bedarf es ganz sicher der Kooperation von Schule mit Partnern im sozialräumlichen Umfeld der Schule, in erster Linie also neben den Eltern der Jugendhilfe und ihren unterschiedlichen Diensten und Angeboten. Solche Ansätze werden vor allem in Niedersachsen im Rahmen eines landesweiten Präventionsprogramms auch zur Vermeidung und Reduzierung von Schulversäumnissen verfolgt. Auch in Bremen und Berlin sind entsprechende Initiativen in Vorbereitung. Im Saarland haben das Landesjugendamt und das Landesinstitut für Pädagogik und Medien im November vergangenen Jahres eine ähnliche Initiative für ein städtisches Quartier in Neunkirchen vorzubereiten begonnen.

Exkurs: Hochschulische Bildungsbeteiligung und ihre Einflussfaktoren

An den Hochschulen des Saarlandes waren im Wintersemester 2001/2002 20.150 Studierende eingeschrieben. Davon entfielen auf die Universität 16.270, die Hochschule für Technik und Wirtschaft 2.661, die Hochschule für Musik und Theater 325, die Hochschule für Bildende Künste 255 und die Katholische Hochschule für Soziale Arbeit 250. Die Abiturientenquote liegt momentan bei rund 22% (im Bundesdurchschnitt bei etwa 28%). 46% der Studienberechtigten aus dem Saarland studieren auch an saarländischen Hochschulen.

Auf der Grundlage einer saarlandspezifischen Auswertung des Datensatzes der im Jahr 2000 durchgeführten 16. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (vgl. Schnitzer/Isserstedt/Middendorf 2001) ergibt sich ­ ähnlich wie bei der Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler im allgemeinbildenden Schulsystem ­ eine deutlich von der sozialen und Bildungsherkunft der Eltern bestimmte hochschulische Beteiligung im Saarland (vgl. ausführlich AK-Bericht 2002, S.59­70). Nach den Kategorien Bildungsnähe und Bildungsferne stammen die saarländischen Studierenden überdurchschnittlich häufig aus den bildungsfernen Gruppen. Bei den Frauen ist dieser Anteil geringer. Man kann schlussfolgern, dass junge Frauen aus bildungsfernen Gruppen vergleichsweise geringere Chancen haben, an saarländischen Hochschulen zu lernen. Wir teilen die Ansicht der Arbeitskammer, dass sich in den Beteiligungsformen auf Grund von sozialer, beruflicher und bildungsmäßiger Herkunft der Studierenden im Saarland immer noch stark die durch die Monostruktur der Altindustrien ausgeprägten Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber höherer Bildung niederschlagen. Die Strukturschwäche des Landes spiegelt sich in ihrer Studierendenschaft.

Bildungsaufstieg über hochschulische qualifizierte Bildung ist erst in Ansätzen erkennbar. „Da eine rückläufige Teilhabe junger Menschen aus den schwächeren sozialen Staatsgruppen an hochschulischer Bildung den notwendigen Strukturwandel im Saarland gefährden würde, sollten von öffentlicher Seite alle Anstrengungen unternommen werden, gerade die Jugendlichen aus bildungsferneren Herkunftsfamilien ­ und hier verstärkt die jungen Frauen

­ an die saarländischen Hochschulen zu bringen" (AK-Bericht 2002, S.69ff.). Die Studienwahlentscheidung bei diesen Gruppen bedarf besonderer Förderung. Unsere Gespräche sowohl mit Fachberaterinnen und Fachberatern der Arbeitsverwaltung als auch mit Studienberatern der Universität bestätigen, dass noch viele mentale Barrieren vorhanden sind.

Untersuchungen darüber - wie überhaupt über die Gründe für die relativ geringe Zahl von Abiturientinnen und Abiturienten - fehlen. Und auch über die Motive der beachtlichen Zahl von Hochschulberechtigten, die nicht hier studieren und abwandern, ist nichts bekannt. Die rückläufigen Studierendenzahlen sind auch im Zusammenhang mit den seit Jahren krisenhaften Umstrukturierungen im Universitätsbereich zu sehen (vgl. R. Daugs 2001). Denn in diesem sog. Modernisierungsprozess wurde eine Reihe von bis dahin stark nachgefragten Studiengängen abgeschafft: Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Politikwissenschaft, Physische Geographie, Anthropogeographie, Biogeographie sowie einige Lehramtsstudiengänge wie Sozialkunde oder Biologie fielen dem Rotstift zum Opfer. Erwähnenswert ist außerdem die Entscheidung des Landes zu Beginn der 80er Jahre, die GrundschullehrerInnenausbildung außer Landes zu geben. Gleichzeitig erfolgt eine Reduzierung oder kein weiterer Ausbau von bestimmten Fachgebieten vor allem im Bereich der Philosophischen Fakultäten.

Es sieht sogar so aus, als würden unter den Sparmaßnahmen die einstmals renommierten auf Frankreich und frankophone Kulturbereiche orientierte Forschungen und Lehren leiden müssen. Für Abiturientinnen und Abiturienten verbleibt also nur ein eingeschränktes Spektrum an Studiengängen. In diesem Punkt berücksichtigen die Hochschulen eindeutig nicht die Belange des Saarlandes und die Interessen von vielen Studierwilligen. Wenn dann noch öffentlich von Seiten der Hochschulleitung gegen die Ansicht einer „Landeskinder ­ Universität" polemisiert wird, darf man sich nicht wundern, wenn diese abwandern.

Die Arbeitskammer des Saarlandes stellt fest, dass die Hochschulen den Bedarf an Hochqualifizierten in den nächsten Jahren nicht werden decken können. Die Frage wäre zu erörtern, ob hier bestimmte, mit dem Saarland, seiner Arbeitsplatzstruktur, seiner Wirtschaft und seinem Standort verbundene Gründe ausschlaggebend sind. Auf einen Faktor sei kurz aufmerksam gemacht. Die vorherrschende Wissenschafts- und Hochschulpolitik verfolgt eine Konzeption, die mit dem Schlagwort Excellence umschrieben werden kann. Sie lässt sich von der Entwicklungsdynamik in den zentralen Gebieten Wissenschaft, Wirtschaft und Technik leiten. Die einzelnen Wissenschaftsstandorte müssen sich konsequenterweise durch entsprechende Leistungsprofile in den dynamischen Gebieten von anderen Standorten abheben. Dadurch werden Konkurrenzmechanismen in die Hochschulen eingebracht, die im besten Falle leistungsfördernd wirken, im Normalfall, was auch die mangelnde finanzielle Kapazität einer Hochschule oder eines Landes wie das Saarland mit einschließt, zu innerhochschulischen Konkurrenzvorgängen führen, die in jedem Fall Gewinner und Verlierer zur Folge haben. Eine amerikanische Studie hat diese Excellence-Konzeption als „technokratische Ideologie" bezeichnet. „Die Sprache der Excellence wurde eingesetzt, um das Konzept der Leistungsgesellschaft auf einer höheren, den moralischen Diskurs mehr miteinbeziehenden Ebene umzugestalten und auf diese Weise ihre eigentlichen elitären Realitäten zu verschleiern" (Fischer/Mandell 1994, S.137). Verlierer sind in diesem Prozess alle nicht-marktfähigen Teilbereiche der Universität. Die „marktfähigen" sollen nach Äußerungen des Wissenschafts- und Technologieberaters der Landesregierung, Prof. A.-W. Scheer, teilprivatisiert werden (vgl. AK-Bericht 2002, S.152).

Hier scheint die Excellence-Konzeption sehr einseitig ausgelegt zu werden. Eine zumindest offenere Auslegung ließe sich aus den Ergebnissen des „Wissens- und Bildungsdelphi" von 1996/1998 (vgl. BMBF 1998) ableiten: Bei diesen Expertenbefragungen wurden die „Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft" ausgelotet. Als besonders dynamische Zukunftsgebiete schnitten die Naturwissenschaften und die Technik verständlicherweise gut ab. Soweit gaben sie gleichsam eine Anleitung für die Umsetzung im Saarland. Die in den Delphistudien aber ebenfalls als außerordentlich wichtig erachtete Dimension des Orientierungswissens oder der Allgemeinbildung erkennt man bei der hiesigen Umsetzung nicht.

Laut Delphi müsste sie institutionell verankert werden. So ordnet die Studie das Wissensgebiet „Gesellschaftliche Ordnung" (ein Gebiet mit hoher Dynamik) den Teilgebieten: Geistigkulturelle Orientierung und Organisation des Zusammenlebens zu. Diese Teilgebiete seien unbedingt notwendig, um die dynamischen Prozesse in den zentralen Bereichen Arbeitswelt, Infrastruktur, Wissen und Information, Kunst und Medien sowie Gesellschaftlicher Wandel verstehen und erklären zu können.

Die meisten der an der Universität des Saarlandes abgeschafften Fächer wären für diese „Allgemeinbildung" mit ihrer Orientierungsfunktion zuständig. Interesse und Nachfrage von Seiten der Studierenden wären vorhanden. Stattdessen wird eine verengte Bedarfsstrategie verfolgt, die die Ausbildungs- und Qualifizierungsforschung als überholt abgelegt hat. Danach werden Vorgaben gemacht, die von den Hochschulen zu erfüllen sind. Beispielsweise sagte der Wirtschaftsminister des Saarlandes, Hanspeter Georgi anlässlich einer Tagung des Wirtschaftsforums Saar, unter der Berufung auf den Unternehmer und Wirtschaftsinformatik ­ Professor Scheer, dass im Saarland allein 1.500 Fachkräfte im IT-Bereich fehlten.

Und er fügte hinzu „aber die Hochschulen können nicht liefern" (SZ vom 23. Juli 2002). Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, oder auf das Saarland bezogen die Frage, welchen Beitrag können, sollen und müssen Hochschulen für das Land erbringen, sollte nicht einseitig zu Gunsten der Wirtschaft beantwortet werden. Daneben wären die Belange von großen Teilen der Bevölkerung, der Schulen, der Lehrerschaft, der Gewerkschaften, der jüngeren Generationen zu berücksichtigen.