Schule ohne „Sitzenbleiben" möglich machen ­ individuelle Förderung verbessern

Die aktuellen internationalen und nationalen Leistungsvergleichsstudien haben die Versäumnisse des deutschen Bildungssystems eindeutig offen gelegt.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche Leistung und Qualität sowie für den chancengerechten Zugang zu Bildung: neben eklatanten Leistungsschwächen besteht das größte Problem des deutschen Bildungswesens in einem engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg. D. h. nach den PISA-Studien haben Kinder aus unteren Einkommensschichten und Schülerinnen und Schüler ausländischer Herkunft viel schlechtere Bildungschancen ­ ein fatales Signal in einer Zeit steigender gesellschaftlicher und auch wirtschaftlicher Ansprüche an die Bildung künftiger Arbeitskräfte.

Die seit Jahren unverändert hohe Zahl von Schul- und Berufsschulabbrechern belasten Staat und Gesellschaft in sozialer und ökonomischer Hinsicht. Nach neuesten Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) „zielten" im Jahr 2004 knapp 3,7 Milliarden Euro oder 7 Prozent des Schul- und Berufsschulbudgets „ins Leere", weil die Jugendlichen die Ziele des Bildungssystems nicht erreichten.

Danach verursacht insbesondere das „Sitzenbleiben" im deutschen Schulsystem Kosten von ca. 1,2 Milliarden Euro jährlich. Im Unterschied zu vielen ausländischen Schulsystemen wird in deutschen Schulen bei auftretenden Leistungsproblemen mit dem Verfahren des „Sitzenbleibens" reagiert. In der Bildungsforschung, so auch nach der jüngsten PISA-Studie und laut IW, werden die pädagogischen Wirkungen von Nichtversetzungen überwiegend negativ eingeschätzt, wonach eine Klassenwiederholung zu keiner dauerhaften Leistungsverbesserung und zu keinem zusätzlichen Lerneffekt führt. Eine Nichtversetzung wird von den meisten Schülerinnen und Schülern als massiver Misserfolg erlebt, der zudem mit dem erzwungenen Wechsel der Lerngruppe verbunden ist. „Sitzenbleiber" gehören oftmals schon nach zwei Jahren wieder zu den leistungsschwächsten Schülerinnen und Schülern ihrer Klasse. Die europäische Studie des Informationsnetzes EURYDICE resümiert deshalb, dass die Wiederholung in der Mehrzahl der Fälle für die Entwicklung des Kindes nachteilig ist.

Zudem ist in Deutschland die Zahl der Klassenwiederholer deutlich höher als in anderen vergleichbaren Industriestaaten. Die Schülerinnen und Schüler skandinavischer Länder beispielsweise weisen im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Leistungen auf, das „Sitzenbleiben" ist dort nur in Ausnahmefällen eine Option.

Im Saarland mussten gemäß Angaben des Statistischen Bundesamtes sowie des Statistischen Landesamtes im vergangenen Schuljahr 2004/2005 3577 Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholen ­ wegen Nichtversetzung, zum geringen Teil auch freiwillig. Im Bundesländervergleich der höchsten „Sitzenbleiber"-Quoten belegt das Saarland mit 3,2 Prozent den unrühmlichen 5. Platz ­ und liegt damit deutlich schlechter als der Bundesdurchschnitt mit 2,8 Prozent.

Darüber hinaus gehören nach IW-Angaben und laut PISA-Studie im Saarland 21,6 Prozent der 15-Jährigen zu Risikoschülerinnen und -schülern, bei denen davon auszugehen ist, dass sie u. a. aufgrund mangelnder Lesekompetenz erhebliche Schwierigkeiten haben, die Schule erfolgreich zu beenden und den Übergang ins Berufsleben zu meistern ­ hinzu kommen knapp 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die eine Schule ohne Abschluss verlassen.

Nach Berechnungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) belaufen sich die Kosten der Wiederholer an den Erweiterten Realschulen und Gymnasien auf rund 11 Millionen Euro ­ Mittel, die sehr viel effektiver für die gezielte Förderung von Kindern mit Schulschwierigkeiten und die Schaffung neuer Lehrerstellen eingesetzt werden können.

Lernrückstände müssen rechtzeitig diagnostiziert und Hilfsmaßnahmen frühzeitig eingeleitet werden, um mehr Leistung durch Fördern statt Aussortieren zu erreichen und damit die „Sitzenbleiber"-Quote im Saarland spürbar abzusenken ­ ein Anspruch, der mittlerweile auch seitens der Kultusministerkonferenz im Einvernehmen mit Wirtschaftsministerkonferenz und Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft formuliert wird.

Vor diesem Hintergrund fordert der Landtag die Landesregierung auf, besondere Rahmenbedingungen und Fördermaßnahmen zu schaffen, mit dem Ziel:

· Modellversuche „Schulen ohne Sitzenbleiben", insbesondere für Gymnasien und Erweiterte Realschulen, auszuschreiben.

· für „Schulen ohne Sitzenbleiben" ein in der Gesamt- und Schulkonferenz abgestimmtes Konzept zur Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler zu erstellen, z. B. in Form von verpflichtendem Förderunterricht am Nachmittag und zusätzlichem Unterricht, ggf. auch in den Ferien.

Vgl. Leistungsfähigkeit des Bildungssystems verbessern: gemeinsame Erklärung von Wirtschaftsministerkonferenz (WMK), Kultusministerkonferenz (KMK), Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK), Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Berlin, 28.11.2002.

Vgl. Fachtagung der Kultusministerkonferenz „Fördern und Fordern ­ Herausforderung für Schulen und Lehrkräfte". Arbeitsforum 5: Fördern und Fordern als Teil von Schulprogramm, Standardsetzung und Schulentwicklung. Ergebnisse und Forderungen... Bonn, 03.09.2004.

· den teilnehmenden Schulen Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer zur Verbesserung der frühzeitigen Diagnosekompetenzen und den Eltern dazu Beratungsangebote anzubieten.

· den konstruktiven und produktiven Umgang mit Heterogenität und der Individualisierung von Lernprozessen in allen Phasen der Lehrerausbildung verbindlich zu machen.

· die Ressourcen, die durch den Verzicht auf das „Sitzenbleiben" eingespart werden, den Schulen unmittelbar als zusätzliche Personalkapazitäten für notwendige Förderangebote zur Verfügung zu stellen.

· „Schulen ohne Sitzenbleiben" in Verbindung mit Ganztagsschulen durchzuführen, da das erweiterte Zeitbudget mehr Möglichkeiten und bessere Voraussetzungen zur Aufarbeitung vorhandener Defizite bietet.

· die Modellversuche wissenschaftlich zu begleiten und qualitativ auszuwerten.