Vergabe von Einwegspritzen an Gefangene zur AIDS-Prophylaxe

„Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über Vergabe von Einwegspritzen an Gefangene zur AIDS-Prophylaxe ­ wird in folgender Fassung angenommen.

1. Nach befürwortendem Gutachten über einen Schweizer Versuch wird der Senat gebeten, an Gefangene ­ ohne Maßregelvollzug ­ in einem vierjährigen Modellversuch zur Aids- und Hepatitisprophylaxe sterile Einwegspritzen abzugeben.

2. Über die Ergebnisse ist dem Abgeordnetenhaus halbjährlich, wegen der Bedeutung des Zeitfaktors erstmalig zum 1. Februar 1997 zu berichten."

Hierzu wird berichtet:

1. Ausgangssituation:

Die Situation in den Berliner Justizvollzugsanstalten ist durch die große Zahl inhaftierter Drogenabhängiger und durch das dadurch bedingte Vorhandensein von Drogen geprägt und belastet. Von den in Berlin lebenden 7 000 bis 8 000 intravenös Drogenabhängigen sind durchschnittlich 600 bis 700 inhaftiert, damit befinden sich annähernd 10 % der Berliner Drogenabhängigen regelmäßig in Haft.

Die langjährige Beobachtung von Vollzugsverläufen führt zu dem Schluß, dass mindestens ein Drittel der intravenös drogenabhängigen Gefangenen auch während des Vollzuges weiter regelmäßig konsumieren dürfte. Weiter zeigt die Vollzugserfahrung, daß mindestens ein Drittel aller Gefangenen drogengefährdet ist, also zu den Gelegenheitskonsumenten zu rechnen ist.

Der Drogenkonsum in den Vollzugsanstalten aller Länder ist eine Realität; selbst durch rigide Kontrollen kann er nicht gänzlich unterbunden werden.

2. Präventionskonzepte im Berliner Justizvollzug

Der Berliner Justizvollzug bemüht sich in einer ersten Präventionsstufe um rasche und umfassende Information der Insassen.

Zu den Themen Drogenmißbrauch und HIV-Infektion wurden Videos produziert, die allen Neuinhaftierten im Rahmen von Gruppenveranstaltungen angeboten werden und eine Grundlage für anschließende Informations- und Beratungsgespräche bilden.

Zusätzlich erhalten die Gefangenen ausführliches schriftliches Informationsmaterial über die Risiken eines Drogengebrauchs in der Haft und über Hilfsmöglichkeiten durch interne Angebote im Vollzug sowie durch externe ­ im Vollzug ebenfalls angebotene ­ Aids- und Drogenberatung.

In einer zweiten Präventionsstufe wird sämtlichen Gefangenen des Berliner Justizvollzuges auf freiwilliger Grundlage vom medizinischen Dienst die kostenlose Untersuchung auf HIV-Antikörper angeboten. Diese Untersuchung wird in der Regel allen drogenabhängigen Gefangenen empfohlen, die einem besonderen Infektionsrisiko unterliegen und die in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht werden, dass von mehreren Drogenabhängigen gemeinschaftlich benutzte Spritzen die Hauptquelle von HIV- und Hepatitis-Infektionen sind. Ziel dieser Aufklärungsarbeit ist die Eindämmung des needle-sharings unter intravenös Drogenabhängigen und damit eine Reduzierung der regelmäßig damit verbundenen Ansteckungsgefahr. In einer 3. Stufe wird der Ansteckungsgefahr gezielt dadurch entgegengewirkt, daß die Gefangenen Gelegenheiten zur Desinfektion ihrer Spritzen erhalten. In der JVA Tegel ist dieses Angebot inzwischen in einem Modellversuch umgesetzt worden. Alle Inhaftierten, die als Neuzugänge in die Justizvollzugsanstalt Tegel eingeliefert werden, bekommen als sog. Hausapotheke ein Erste-Hilfe-Set, in welchem sich u. a. Desinfektionsmittel befinden sowie Informationsmaterial, wie diese Mittel auch zum Desinfizieren von Spritzen und Injektionsutensilien verwendet werden können. Dieses Modellprojekt hat sich als sinnvoll gezeigt. Entsprechende Angebote in anderen Justizvollzugsanstalten haben indessen bei den Gefangenen nur eine geringe Resonanz gefunden.

3. Modellvorhaben Spritzenvergabe:

Um der Ansteckungsgefahr noch besser als bisher entgegenzuwirken, muss die gemeinschaftliche Benutzung von Spritzen künftig so sicher wie möglich vermieden werden. Außerhalb der Haft sind aus dieser Erkenntnis die legislatorischen und praktischen Konsequenzen gezogen. Das BtmG ist 1992 dahin geändert worden, dass die Abgabe kostenloser Spritzen an Süchtige nicht mehr als „Verschaffen oder als Gewähren einer Gelegenheit zum unbefugten Gebrauch von Betäubungsmitteln" im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 10 BtmG angesehen wird. Seither sind in den deutschen Großstädten, die drogenbelastet sind, Angebote zum kostenlosen Tausch von Spritzen geschaffen worden, die auch angenommen sind und genutzt werden. Die Infektion mit HIV und Hepatitis durch Benutzung unsteriler Spritzen ist seither in diesem Bereich deutlich zurückgegangen. In den Vollzugsanstalten muss diese Entwicklung nachvollzogen werden: Gesicherte Nachweise darüber, wieviel Abhängige sich durch needle-sharing in Haft mit HIV infizieren, bestehen nicht. Dafür müßten alle Inhaftierten fortlaufenden Aids-Tests unterzogen werden. Jedoch gibt u. a. die vom Institut für Medizinische Statistik und Informationsverarbeitung der Freien Universität Berlin und vom Institut für Tropenmedizin Berlin durchgeführte Studie „Infektionskrankheiten bei intravenös injizierenden Drogenabhängigen" bedenkenswerte Hinweise: Die Tatsache, in der Haft mit fremden Bestecken Drogen injiziert zu haben, erwies sich in der untersuchten Gruppe als stärkster Indikator für eine HIVInfektion.

Die Senatsverwaltung für Justiz erkennt ihre Verantwortung, die sich aus diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt. Sie plant daher seit längerem, neben der im Vollzug (sowohl bei psychosozial begleiteten Substitutions- als auch Entzugsbehandlungen) bereits praktizierten Vergabe von Methadon und neben der Ausgabe von Hausapotheken auch den Austausch von benutzten gegen sterile Einmalspritzen im Rahmen eines Modellvorhabens zu erproben. Hierzu gehört die Koalitionsvereinbarung vom 25. Januar 1996. In Verfolgung dieser politischen Vorgabe der Regierungsparteien ist die Senatsverwaltung für Justiz in die konkrete Planung der Spritzenvergabe eingetreten, um die Realisierung dieses Angebots baldmöglich durchzusetzen. In diesem Zusammenhang wird der Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 6. Juni 1996, als eine Unterstützung unserer Bemühungen zur möglichst raschen Durchführung dieses Projekts verstanden.

Unter dem besonderen Druck der Haft (Angst vor Entdeckung, Zeitdruck usw.) ist die Bereitschaft zu riskanten gesundheitlichen Verhaltensweisen besonders hoch und die Vielfachnutzung von Spritzen und Spritzutensilien zur illegalen Drogeninjektion nach Einschätzung von Praktikern und Fachleuten daher die Regel.

Erfahrungen außerhalb des Strafvollzuges haben gezeigt, daß Prävention durch Informationsvermittlung allein nicht zu einer Verhaltensänderung führt. Deshalb wird die Senatsverwaltung für Justiz zur Ausdehnung der Primärprävention sterile Einmalspritzen bereitstellen und dieses Projekt wissenschaftlich begleiten lassen. Hinzutreten wird eine effektuierte Gesundheitsberatung der Inhaftierten. Diese umfaßt:

a) Informationen über die Risiken intravenöser Applikationsformen

b) Informationen über die Risiken des gemeinsamen Gebrauchs benutzter Spritzen

c) Demonstration und Verfügbarmachen von Alkoholtupfern für Hautdesinfektionen

d) Beratungsangebote zur Veränderung des Drogenkonsums bzw. zum Drogenausstieg

e) Safer-Use-Training

f) Safer-Sex-Aufklärung

g) Hepatitis B-Impfung

Ein solches Gesamtkonzept muss u. a. begleitende ärztliche und sozialarbeiterische Maßnahmen sowie externe Aids- und Drogenberatung und Unterstützung beim Ausstieg aus dem Drogenkonsum umfassen. Nur so kann eine Verringerung des Infektionsrisikos erreicht werden. Nachdem die Schweiz in Modellprojekten seit einigen Jahren positive Erfahrungen gesammelt hat, werden derzeit in verschiedenen Bundesländern (u. a. Niedersachsen, Hamburg und Hessen) Konzeptionen für ein integriertes Modell einschließlich der Abgabe von sterilen Einmalspritzen an Drogenabhängige in unterschiedlichen Haftanstalten erarbeitet bzw. erprobt.

Mit der Umsetzung solcher innovativer Ansätze im Justizvollzug (wie Spritzenvergabe und präventionsorientierte Informations- und Schulungsmaßnahmen) wird sowohl gesundheits- als auch rechtspolitisches Neuland betreten und zugleich die Chance geboten, durch diese Impulse Auseinandersetzungsprozesse im fachlichen Themenspektrum von Drogengebrauch, Justizvollzug und Infektionskrankheiten vollzugspraktisch zu eröffnen.

4. Umsetzung:

Sowohl im Frauen- als auch im geschlossenen Männervollzug soll ein Modellprojekt durchgeführt werden. Dafür müssen gewisse Rahmenbedingungen erfüllt sein. Für die Implementierung des Modellprojekts im Frauenvollzug ist zunächst ein kleiner abgeschlossener Bereich vorgesehen, der die Übersichtlichkeit, Transparenz und Trennung von nicht drogenabhängigen Gefangenen ermöglicht. Diese Bedingung kann derzeit in der alle Frauen aufnehmenden Justizvollzugsantalt für Frauen in Plötzensee nicht erfüllt werden. Erst nach dem Umzug der Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin in vier dezentrale Bereiche, hier in den Standort Lichtenberg, kann die nötige Trennung vorgenommen werden. Leider hat sich die bauliche Herrichtung und Ergänzung der in Rede stehenden Anstaltsgebäude infolge der schwierigen Haushaltslage deutlich verzögert, so dass entgegen früheren Prognosen erst Anfang 1998 mit einer Inbetriebnahme der JVA Lichtenberg gerechnet werden kann. Entsprechend verzögert sich der Beginn des Modellprojekts.

Hinsichtlich der inhaltlichen Vorbereitungen, die durch eine Arbeitsgruppe der Senatsverwaltung für Justiz geleistet werden, kann folgender Sachstand mitgeteilt werden: Bezüglich der Vergabemodalitäten gibt es unterschiedliche, mit Vor- und Nachteilen behaftete Alternativen: Vergabe über Spritzenautomaten, über den anstaltsärztlichen Dienst oder über externe Mitarbeiter, z. B. der Aids-Hilfen. Letztlich hängt die Entscheidung darüber von noch ausstehenden notwendigen Klärungen an Ort und Stelle ab. Gemeinsam ist allen Überlegungen eine Integration in die Drogenhilfe-Konzeption der Anstalt.

Einigkeit besteht auch darüber, dass diese Infektionsprophylaxe Teil der gesamten umfangreicheren Gesundheitsförderung der Gefangenen ist. Neben der instrumentellen Prävention sind daher auch personalkommunikative Strategien vorgesehen:

Sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Anstalt als auch für die Inhaftierten sollen die Akzeptanz gefördert und die sozialen Zusammenhänge von Drogenabhängigkeit und Infektionskrankheiten vermittelt werden.

Für den Bereich Lichtenberg des Frauenvollzuges, in dem die drogenabhängigen Gefangenen untergebracht werden sollen, muß wegen der besonderen Drogenbelastung weiblicher Gefangener von vornherein konzeptionell und personell angemessen auf dieses Problem reagiert werden. Das für diesen Bereich zu gewinnende Personal muss durch entsprechende Fortbildungsveranstaltungen vorbereitet werden. Der genaue Zeitpunkt einer Realisierung für den Frauenvollzug orientiert sich an der Inbetriebnahme des neuen Standortes Lichtenberg; gegenwärtig werden die dafür notwendigen Vorarbeiten geleistet, da das Spritzentauschprojekt von Beginn an zum Angebot der Anstalt gehören und eine entsprechende Zusammenarbeit mit externen Beraterinnen und Beratern ­ auch aus dem Bereich frauenspezifischer Beratung ­ begonnen bzw. ausgebaut werden soll.

Die Standortfrage im Männervollzug ­ voraussichtlich der geschlossene Bereich Lehrter Straße ­ setzt die Räumung der jetzigen Frauenanstalt und die sich daraus ergebenden Differenzierungs- und Strukturierungsmöglichkeiten im geschlossenen Männervollzug voraus. Der Modellversuch, für den inhaltlich im wesentlichen dieselben Fragen und Problemlösungen maßgebend sind, wie für den Frauenvollzug, wird voraussichtlich wegen der Zeitfolge der Umzüge später als der Modellversuch für den Frauenvollzug beginnen. Allerdings wird sich nur ein geringer zeitlicher Abstand ergeben. Auch hier ist daher eine Durchführung des Modellprojekts im Laufe des nächsten Jahres zu erwarten.

5. Wissenschaftliche Begleitung Aufgabe der wissenschaftlichen Begleitforschung wird insbesondere die Beantwortung folgender Fragen sein:

- Wird im Strafvollzug eine bessere Infektionsprophylaxe durch den Spritzentausch erreicht?

- Wie wirkt sich die Maßnahme auf das Drogenkonsumverhalten der Gefangenen aus?

- Verstärkt sich der Drogenkonsum bei Abhängigen oder bleibt er unverändert?

- Welche Auswirkungen hat die Ausgabe steriler Spritzbestecke im Vollzug auf die Neuinfektionen mit HIV bzw. den Hepatitis-Viren B und C?

- Können die Bediensteten mit dem Widerspruch zwischen Besitz von Spritzbestecken bei Gefangenen einerseits und gleichzeitiger Verpflichtung zur Konfiszierung von Drogen andererseits produktiv umgehen?

- Gibt es Hinweise auf Neueinsteiger bezüglich des intravenösen Drogenkonsums („Anfix-Situationen")?

- Wirkt das Modellprojekt störend und kontraproduktiv auf diejenigen Gefangenen, die sich in der Haft vom Drogengebrauch und der drogenkonsumierenden Subkultur distanzieren wollen?

- Lassen sich Indikatoren dafür ausmachen, dass der intravenöse Drogengebrauch auch anderer, bisher nicht injizierter Substanzen zunimmt?

Das Forschungsdesign wird darauf ausgerichtet sein, eine genaue epidemiologische Charakterisierung (soziodemographische Daten, Art und Dauer der Drogenkarriere, Risikoverhalten, HIV- und Hepatitis-Durchseuchung usw.) der Population sowie Einstellungs-, Meinungs- und Verhaltensänderungen bei Bediensteten und Inhaftierten (dort auch Veränderungen der Drogenapplikation) zu erfassen und u. a. mit der epidemiologischen Statuserhebung zu vergleichen. Zentrale Fragestellungen sind also die Beurteilung der Machbarkeit (d. h. Durchsetzbarkeit und Durchführbarkeit) der Maßnahme, der Akzeptanz seitens aller davon betroffenen Personengruppen, der Effektivität der innovativen Präventionsmaßnahmen und der Veränderung von Einstellungen zu Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten. Die wissenschaftliche Auswertung und medizinische Evaluation sollen dabei insbesondere die gesundheitlichen Auswirkungen des Spritzentauschprogramms untersuchen.

Es bestehen intensive Kontakte zu verschiedenen Forschungseinrichtungen, die für eine Durchführung der Begleitevaluation in Frage kommen. Die endgültige Entscheidung, mit welcher Institution hier kooperiert werden soll, ist noch nicht getroffen.

6. Auswirkungen auf den Haushaltsplan und die Finanzplanung

Neben Beträgen, die in unterschiedlichem Umfang aus vorhandenen Haushaltsmitteln gedeckt werden können (z. B. Kosten von Verbrauchsmitteln, Beschaffungskosten für Automaten), entstehen zusätzliche Kosten für

- themenbezogene Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter/innen

- Informationsveranstaltungen für Inhaftierte

- Begleitforschung, die derzeit noch nicht konkret beziffert werden können.

Die Mittel zur Finanzierung des Modellversuchs wird die Senatsverwaltung für Justiz durch Umschichtung im Einzelplan 06 zur Verfügung stellen.