Sekten

Als ein Phänomen wird der Bereich „Sekten- und Psychomarkt" gemeinhin bezeichnet. Doch nur verhalten ist die breite Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang in der Lage, „das, was in Erscheinung tritt" („phainomenon" (grie.) als eine Erscheinung in ihrem Facettenreichtum zu betrachten. Vielmehr wird diesem Phänomen häufig unreflektiert mit einer diffusen, in der Regel negativ besetzten Gefühlslage begegnet: Unsicherheit, Ratlosigkeit, Bedrohung, Angst, bisweilen durchsetzt mit merkwürdiger Faszination von angeblich Magischem, scheinen auf. Man möchte sich schützen bzw. geschützt werden, und nicht selten wird der Ruf nach dem Staat laut, das zunehmend als Problem empfundene Phänomen mit einem „Verbot" ­ vermeintlich ­ zu lösen.

Überwiegend sind es spektakuläre Katastrophen mit Todesfolge wie

- der Massensuizid der Anhänger des „PeoplesTemple" des Jim Jones (Guyana 1978)

- das Ende der „Davidianer" des David Koresh (Waco/USA 1993)

- der Selbstmord/Mord der Gruppe der „Sonnentempler" des Luc Jouret und Joseph di Mambro (Schweiz, Kanada, Frankreich 1994/95)

- der Giftgasanschlag auf das U-Bahnnetz durch die Gruppe „AUM" des Shoko Asahara (Tokio/Japan 1995)

- der Selbstmord von Mitgliedern der „Heavens Gate"Gruppe (USA 1997) die das öffentliche Bewußtsein zu diesem Thema prägen. Doch zunehmend werden auch leisere Berichte wahrgenommen und in Verbindung gebracht mit eigenen Erfahrungen und solchen aus dem privaten und beruflichen Umfeld. Auf Grund der Explosion der öffentlichen Diskussion zum Thema und ihrer seit ca. drei Jahren anhaltenden Virulenz ist eine nachhaltige Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Weltanschauungs- und Psychomarkt zu verzeichnen. Trotz einer Fülle von Veröffentlichungen unterschiedlicher Qualität zu diesem Thema muss ein stetiges Interesse in der Öffentlichkeit insbesondere nach sachlicher Information konstatiert werden. Die Neigung, den Blick über spektakuläre Ereignisse und tragische Einzelschicksale hinaus zu heben und ihn auf den gesellschaftlichen Nährboden und mögliche Gefahren für die demokratische Gesellschaft zu lenken, ist noch wenig entwickelt. Diese Blickrichtung macht Mühe: Der Markt ist diffus und bizarr, die Grenzen sind fließend; ein unverstellter Blick wirft vom „Ganz-Anderen" auf Wohlbekanntes zurück.

Versuch einer begrifflichen Verständigung

Ein Indikator für die Mannigfaltigkeit und Intransparenz des religiösen, weltanschaulichen und Psychomarktes, für die Schwierigkeiten des Umgangs mit ihm und seine Bewertung ist die bislang weitgehend unzulängliche Begriffsbildung, mit der man dieses Phänomen zu fassen versucht.

So begegnet man noch in den 90er Jahren Bezeichnungen wie „Jugendsekten" (Deutscher Bundestag/1992) und „sogenannte Jugendsekten und Psychogruppen" (Baden Württemberg/1995), obwohl sich das Angebot der Gruppen heute in aller Regel an Erwachsene richtet und die damals jugendlichen Anhänger der guruistischen „Jugendreligionen" vor hinduistischem Hintergrund (z. B. Ananda Marga, Brahma Kumaris, Bhagwan- und Krishna-Bewegung, Transzendentale Meditation) der 70er und 80er Jahre inzwischen selbst in die Jahre gekommen sind.

Auch Begrifflichkeiten wie „Sekten und Psychokulte" (Bremen/ 1996) und „neue Religionen, Sekten und Psychokulte" (Niedersachsen/1996), die sich eng an die in den Vereinigten Staaten übliche Bezeichnung „destructive cults" lehnen, erscheinen für den deutschen Sprachraum eher ungeeignet: Kultisches wird man beispielsweise in manch konfliktträchtigem Psychoangebot vergeblich suchen.

Es ist für eine staatliche Stelle nicht möglich, die polyvalente Bezeichnung „Sekte" ohne einschränkendes Attribut oder differenzierte Definition in ihre Sprache aufzunehmen, da das staatliche Neutralitätsgebot es nicht erlaubt,

(1) den theologischen Sektenbegriff zu verwenden, der mit Sekte eine sich von einer Mutterreligion abgespaltene religiöse Gruppe mit von dieser abweichenden Lehre und Praxis in der Nähe einer Häresie bezeichnet.

(2) Auch der soziologische Sektenbegriff, der Bezug nimmt auf Gruppen, die eine oft radikale Gegenkultur zu dem entwerfen, was sie an Wertorientierung und Lebensweise in unserer pluralistischen Gesellschaft umgibt, ist hier untauglich. Damit schlösse man konfliktträchtige Gruppen aus, die gerade keine Gegenkultur entwerfen, sondern anerkannte Aspekte unserer Kultur (Leistung, Erfolg, Durchsetzungskraft) zur Heilslehre erklären.

(3) Der umgangssprachliche Sektenbegriff, der bei dem Wort „Sekte" autoritäre Gruppen unterschiedlichster Art meint und Merkmale wie „gezielte Manipulation", „hemmungslose Ausbeutung" und „inhumaner Umgang mit Anhängern" mithört, bringt hier ebenfalls keine angemessene Einordnung.

Bei aller Unklarheit, die den Sektenbegriff umgibt, muss auf dessen hohen Signal- und Gebrauchswert in der Öffentlichkeit hingewiesen werden. Der Begriff „Sekte" kann für eine verantwortliche Differenzierung sinnvoll genutzt werden. So signalisiert die Enquete-Kommission des Bundestages mit der Bezeichnung „Sogenannte Sekten und Psychogruppen" die Brüchigkeit der Begriffe und scheint damit einen gangbaren Weg beschritten zu haben.

Das Land Berlin hat im 1994er Bericht an das Abgeordnetenhaus mit der Bezeichnung „Neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen und sogenannte Psychogruppen" für gewahrte staatliche Neutralität den Preis begrifflicher Sperrigkeit gezahlt. Doch selbst diese neutrale Bezeichnung wurde von Gruppen als diskriminierend empfunden und gerichtlich, wenn auch ohne Erfolg, angefochten. Der Berliner Senat möchte weitgehend bei seiner Begrifflichkeit bleiben, denn sie nimmt Bezug auf die in einen breiten Markt greifende Anfragenstruktur und öffentliche Diskussion. Sensibel gilt es überdies Wandlungsprozesse auch potentiell konfliktträchtiger Gruppen wahrzunehmen, die solche Phasen überwinden und moderate Entwicklungen nehmen.

Rechtliche Aspekte staatlichen Handelns:

Das deutsche Modell von Religionsfreiheit versteht Religionsfreiheit als Freiheit des einzelnen und wird abgeleitet aus Art. 4 GG1) in Verbindung mit Art. 137 WRV2) ­ als Abwehrrecht des einzelnen gegen den Staat. Es gibt in Deutschland weder eine Registrierung noch eine Anerkennung als Religion durch den Staat. Religionen steht der Weg zur Gründung eines eingetragenen Vereins offen, dem vom Staat zusätzlich die steuerlich begünstigende Gemeinnützigkeit zugesprochen wird, sofern der Verein die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt.

Die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, die einerseits mit der Vergabe von Privilegien durch den Staat verbunden ist und andererseits auch die Körperschaft in die Pflicht nimmt, darf nicht als eine Anerkennung als Religion mißverstanden werden.

Eine Vielzahl von Verwaltungsgerichtsverfahren, die ­ im weitesten Sinne unter der Überschrift „Religionsfreiheit" subsumierbar ­ religiöse und weltanschauliche Gruppen anstrengten, haben mittlerweile zu einer weitgehend gefestigten Rechtsprechung zur Frage der Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns in diesem Bereich geführt, die hier nur in einigen markanten Punkten referiert werden kann.

Äußerungsrecht und -pflicht des Staates:

Viele der Gruppen des Gegenstandsbereichs berufen sich zu Recht auf den Schutz des Artikels 4 GG (Glaubens-, Gewissensund Bekenntnisfreiheit). Allerdings leiten sie daraus ein Äußerungsverbot für den Staat zu ihrer religiösen Gruppe ab.

Dagegen hält die Rechtsprechung und bestätigt einer Regierung nicht allein, dass es zu ihren im Grundsatz vorausgesetzten Aufgaben gehört, „gesellschaftliche Entwicklungen ständig zu beobachten, Fehlentwicklungen oder sonst auftretende Probleme möglichst rasch und genau zu erfassen, Möglichkeiten ihrer Verhinderung oder Behebung zu bedenken und die erforderlichen Maßnahmen in die Wege zu leiten", sondern betont eine Äußerungspflicht des Staates, wenn bestimmte gesellschaftliche Erscheinungen in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert und mit Sorge verfolgt werden, „weil die Öffentlichkeit gerade unter solchen Voraussetzungen erwarten kann, alsbald über die Erkenntnisse und Absichten der Regierung unterrichtet zu werden." Keineswegs ist der Staat in seinen Äußerungen darauf beschränkt, lediglich Selbstdarstellung der jeweiligen Gruppierung zu referieren, sondern „eine Landesregierung kann sich im Rahmen der ihr nach Landesverfassungsrecht zustehenden Befugnis zur öffentlichen Stellungnahme auch unabhängig von einer zu einer Warnung berechtigenden Gefahrenlage kritisch mit einer Religionsoder Weltanschauungsgemeinschaft auseinandersetzen, wenn und soweit diese Lehre der Wertordnung der Grundrechte widerspricht." Staatliche Neutralität darf also nicht verwechselt werden mit einer wertbezogenen Enthaltung des Staates. Vielmehr ist der Staat gehalten, die im Grundgesetz verankerte Werteordnung als Maßstab an Theorie und Praxis der Gruppierungen anzulegen.

Gegenstand staatlicher Äußerung sind daher nicht die Feststellung religiöser oder weltanschaulicher „Wahrheiten", sondern mögliche Schäden für den einzelnen oder die Gesellschaft, die von Gruppen mit antidemokratischem und zuweilen totalitärem Charakter ausgehen können.

Artikel 5 GG ­ Meinungsfreiheit:

Nicht berufen kann sich der Staat in seinen öffentlichen Äußerungen auf Artikel 5 GG (Meinungsfreiheit), denn Grundrechte sind genuin Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Damit erklärt sich zumindest partiell die in der Öffentlichkeit oft unverstandene Diskrepanz zwischen sehr weit gehenden Meinungsäußerungen einzelner Politiker (die sich auf Artikel 5 GG berufen können) und oft als neutralistisch empfundenen Veröffentlichungen zuständiger staatlicher Stellen. Letztere sind dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Sachlichkeit verpflichtet und müssen „unsachliche oder aggressive Wertungen vermeiden". Sie unterliegen damit auch in den im Zusammenhang mit staatlicher Informationsarbeit inzwischen geradezu zwangsläufigen gerichtlichen Auseinandersetzungen strengeren Konditionen.

Warnung durch den Staat:

Wo Menschen Gefahr laufen, in ihren Grundrechten eingeschränkt und gezielt in eine psychische und/oder finanzielle Abhängigkeit geführt zu werden oder Schaden an Leib und Seele zu nehmen, muss auch der Staat eine klare Sprache sprechen.

Diese Aufgabe ist ihm in der Rechtsprechung unmißverständlich in Obhut gegeben worden: „Die Erfüllung des Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit schließt die Möglichkeit staatlicher Empfehlungen und Warnungen ein. Denn auch derartige Äußerungen der Bundesregierung sind unmittelbar Ausdruck ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl und werden daher von ihrer Befugnis zur Information und Aufklärung der Öffentlichkeit mitgetragen.". Es werden Recht und Pflicht des Staates zu Information und Aufklärung über den religiösen, weltanschaulichen und Psycho-Markt klar herausgestellt, aber auch die Möglichkeit zu eigener kritischer Schlußfolgerung und ­ unter bestimmten Umständen ­ Warnung betont. Grundvoraussetzung für eine solche Warnung ist eine konkrete oder abstrakte Gefahr, die von einer Gruppierung für die zu schützenden Rechtsgüter des einzelnen ausgeht.

Staatliche Warnung und kritische Auseinandersetzung erfordern in jedem Einzelfall wieder neu eine differenzierte Gewichtung konkurrierender Grundrechtsgüter mit dem Ziel, zu einem (Art. 1 GG), gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) verstößt, eine Gruppierung, die darüberhinaus gezielt und systematisch Familien zerstört (Art. 6 GG), wird sich eine staatliche Warnung auch dann gefallen lassen müssen, wenn sie sich zu Recht auf den Schutz des Art. 4 GG beruft.

Selbstdefinition Entgegen der in der Öffentlichkeit häufig anzutreffenden Annahme gibt es in Deutschland keine staatliche Anerkennung als „Religion" oder „Kirche". Die Kleinanzeige im Stadtmagazin „tip" „Suche Leute zwecks Gründung einer neuen Religion, kein finanz. Interesse, Geld habe ich selbst. Bitte Brief mit Photo. KW: Sonnenwende" ist ein Weg, der in Deutschland jedem Bürger (selbst dem ohne Geld) offen steht.

Dennoch birgt die hohe Wertschätzung des Rechtsgutes Religionsfreiheit in Deutschland auch die Gefahr des Mißbrauchs: Als bekanntestes Beispiel wird die Organisation „Scientology" öffentlich diskutiert. Diese Organisation versteht sich trotz einer durchkommerzialisierten Mitgliedschaft selbst als eine Religion und Kirche und beansprucht mit Nachdruck den Schutz durch Art. 4 GG. Dem widerspricht ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das dieser Organisation den Charakter einer Religion abspricht: Scientology „ist eine Institution zur Vermarktung bestimmter Erzeugnisse". Dienen also religiöse oder weltanschauliche Lehren nur als ein Vorwand zur Verfolgung wirtschaftlicher Ziele, kann von einer Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne der Art. 4, 140 GG, Art. 137 WRV nicht gesprochen werden. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus: „Allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, können für diese eine Berufung auf die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 I und II GG nicht rechtfertigen; vielmehr muss es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln". Das Selbstverständnis einer Gruppierung als Religion oder Weltanschauung begründet also nicht notwendig gleichzeitig den Schutz durch Art. 4 GG.

Im Streitfalle haben die Gerichte zu entscheiden. Die Rechtsprechung weist eine Reihe von Kriterien aus, die die Bezeichnung als Religion oder Weltanschauungsgemeinschaft rechtfertigen: Beide setzen demnach ein alle Lebensbereiche umfassendes Weltbild und eine hinreichend gefestigte, wenn auch wandelbare Gesamthaltung zur Welt voraus. Auch eine Weltanschauung muß in einer thematischen Geschlossenheit und Breite, die den bekannten Weltreligionen vergleichbar ist, aus einer wertenden Stellungnahme zum Weltganzen Antwort geben auf die Grundfragen des Seins: Ursprung, Sinn und Ziel von Welt und Leben.

Religion und Weltanschauung differieren lediglich in Fragen von Gottbezogenheit, d. h. transzendenter bzw. immanenter Bezüge und Erklärungsmuster. Aussagen und Überzeugungen zu bestimmten Teilaspekten von Welt und Leben sind zur Begründung einer Religion oder Weltanschauung nicht hinreichend. „Eine Vergleichbarkeit hinsichtlich ihrer thematischen Breite und Geschlossenheit ist zu fordern, weil Art. 4 GG, der solchen Gedankensystemen auch die Ausübungsfreiheit garantiert, sonst zu einem unüberschaubaren, nicht einmal den Einschränkungen des Art. 2 I GG unterliegenden zweiten allgemeinen Handlungsrecht würde."

Staatliche Zuwendungen an Selbsthilfegruppen?

In Fragen der Information und Aufklärung über den religiösen, weltanschaulichen und Psychomarkt findet das Subsidiaritätsprinzip eine seiner Grenzen.

Unmißverständlich haben Gerichte diese Aufgabe an den Staat zurückverwiesen und eine finanzielle Förderung von Selbsthilfegruppen und Betroffenenintiativen als rechtswidrig untersagt.

Eine solche Förderung sei mit speziellen grundrechtlichen Freiheitsrisiken behaftet.

Der Staat sieht sich in seiner Informations- und Aufklärungsarbeit der Notwendigkeit gegenüber, einem strikten Neutralitätsgebot genüge zu tun. Er unterliegt der Pflicht zu Zurückhaltung und Sachlichkeit in jeder Äußerung. Ein Verein hingegen kann unter Berufung auf die ihm zustehende, grundrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit sein Äußerungsspektrum bis zur Grenze der Schmähkritik ausschöpfen.

Die finanzielle Förderung eines solchen Vereins durch den Staat offenbart einen mittelbaren kausalen und damit grundrechtseingreifenden Wirkungszusammenhang: Der Staat finanzierte etwas, das zu tun ihm selbst verwehrt ist. Das käme einem Unterlaufen des staatlichen Neutralitätsgebots gleich.

Gesellschaftliche Situation:

Globalisierung:

Mit der Geschichte von Religionen sind das Auftreten von abweichenden Auffassungen innerhalb einer Religion und die Ausgrenzung bzw. Abspaltung von Gruppen vom Hauptstrom einer Religion untrennbar verbunden. Sogenannte „Sekten" gibt es seit Anbeginn von Religion.

Neu ist für unsere Gesellschaft, dass Menschen heute mit einer Vielfalt von Religionen und Weltanschauungen anderer Kulturkreise und den daraus fließenden Werten und Formen der Lebensgestaltung bekannt werden.

Die Welt ist als Folge einer Kommunikations- und Informationsdichte „kleiner" geworden: Botschaften von den entferntesten Punkten der Erde werden frei Haus geliefert und aufbereitet. Die Mobilität eines großen Teils der Bevölkerung der westlichen Gesellschaft lässt Menschen an jeden Ort der Welt reisen und mit dortiger Religion in Berührung kommen. Gleichermaßen ist es Vertretern dieser fernen Religionen und Weltanschauungen möglich, überall dort ihre Lehren zu verkünden und Anhänger um sich zu scharen, wo eine Chance zur Verbreitung ihrer Anschauungen gegeben zu sein scheint.

Noch nie stand deshalb dem einzelnen Bürger eine solche breite Palette von Religions-, Weltanschauungs- und spirituellen bzw. Psychoangeboten zur Verfügung.

Individualisierung und Pluralisierung

Diese Angebotspalette fällt in der modernen Gesellschaft auf einen bislang unübertroffen fruchtbaren Boden.

Der mit der Aufklärung eingeleitete Prozeß, traditionelle Werte infrage zu stellen, mündet heute nicht wie oft beschworen in einen Werteverlust, sondern in ein Nebeneinander unterschiedlichster, alter und neuer Werte. Der Verlust der Bindekraft traditioneller Werte für alle bedeutet auch Verlust eines Sicherheit gewährenden, relativ einheitlichen und verbindlichen sozialen Formgebildes.

Diese Freisetzung des einzelnen in die Wahlfreiheit bedingt notwendig zunächst eine vorübergehende Orientierungslosigkeit.

Dementsprechend gilt es, für diese Freiheit eine neue Kultur zu erringen: Eine Kultur, die sie nicht beschneidet und dennoch Angst nimmt, eine Kultur, die Toleranz schult, und deren Rahmen in unserer Gesellschaft allein die freiheitlich-demokratische Grundordnung setzen kann.

Die Möglichkeit, die eigene Biographie bis ins Detail individuell auszugestalten, „sich selbst zu verwirklichen", ist in unserer Gesellschaft größer denn je. Denn trotz aller Ressentiments, mit denen von der eigenen Vorstellung signifikant abweichenden Lebensentwürfen im Alltag bisweilen begegnet wird, ist gesamtgesellschaftlich eine Vielzahl von Lebensentwürfen und ­gestaltungen akzeptiert. Dennoch geht mit der Ausdifferenzierung der Lebensgestaltung im Sinne eines Wandels vom institutionalisierten zum beziehungs- und interessegeleiteten Lebensstil offenkundig eine gewisse Härte und wachsende Schutzlosigkeit einher: Familienverbände mit ihrer Beheimatungsfunktion haben an Bindekraft verloren. Man konstituiert sich neu in Patchworkoder Teilfamilien ­ möglicherweise wieder nur auf Zeit. Immer mehr Menschen leben mehr oder weniger selbstgewählt allein.

Soziale Beziehungen in Freundschaft, Nachbarschaft, Verwandtschaft und im beruflichen Umfeld werden nicht mehr am Rollen-, sondern am Wahlprinzip gemessen und daher mit hohen Ansprüchen befrachtet. Verläßlichkeiten nehmen ab. Schon morgen kann ­ ohne Begründungszwänge ­ eine andere Wahl getroffen werden. Der Ausspruch Martin Bubers: „Der Mensch wird am Du zum Ich" scheint zunehmend von der Hoffnung einer Ichwerdung am Ich abgelöst zu werden, weil sie sich am Du im nunmehr freigegebenen Raum als zu anstrengend erweist. Die entstehenden unbesetzten Bindungsvalenzen bieten auch solchen konfliktträchtigen Gruppen effektive Ansatzpunkte, die eine IchWerdung durch Ent-Ichung praktizieren. Der Verlust einer maßvollen Bindung an das Du wird als Bindungsleere erfahren und fördert die Bereitschaft zur maßlosen Bindung an eine Gruppe, einen Führer, eine Idee.

Die Kehrseite der Wahlfreiheit ist ihre Verantwortung: Denn auch das Mißlingen des Gewählten ist nun selbstverschuldet und muß als solches individuell ausgehalten werden. Der einzelne ist heute weitaus stärker als zu Zeiten einer für alle verbindlichen, weitgehend einheitlichen sozialen Lebenswelt auf sich allein gestellt.

Der Weg ist das Ziel ­ Leben als ständiger Übergang

Nicht allein die Wandlung des privaten Lebens hin zu einem „Ankommen auf Zeit" bringt für viele eine Verunsicherung mit sich.

Anteile daran zeichnen ebenso strukturelle Veränderungen unserer Zeit wie z. B. die markante Ausdehnung der Bildungs- und Ausbildungsgänge. Damit verbunden ist eine Verschiebung des Zeitpunkts des „Erwachsenseins", dem seine klare Zäsur mit dem Abschluß der Ausbildung genommen ist. Zusätzlich verlangen die rasante Wandlung und Neubildung von Berufsfeldern dem einzelnen eine hohe Flexibilität, Mobilität und lebenslange Bereitschaft zu neuem Aufbruch ab. Die neuen Strukturen wandeln das Leben mit Übergängen zunehmend in ein prozeßorientiertes Leben in Übergängen.

Damit wächst das Bedürfnis nach Fixpunkten und Kontinuitäten, die von den beschriebenen Brüchen und Verwerfungen unberührt überdauern. Immer weniger vermögen aber Parteien, Verbände und traditionelle Kirchen diese Funktion zu erfüllen: Sie sind selbst Teil dieses demokratischen Prozesses der Meinungsvielfalt; inhomogen, pluralistisch und damit nach außen vergleichsweise profilarm. Nicht generell mangelndes Interesse am Gemeinwohl, sondern der verbreitete Eindruck, als einzelner in diesen Strukturen vermeintlich nichts bewegen zu können gegen als krisenhaft empfundene Erscheinungen in Politik, Gesellschaft und Umwelt führen dazu, dass der einzelne seine vorhandene Bereitschaft zu Engagement für das Gemeinwesen von diesen Institutionen nicht mehr in dem Maße wie früher abrufen läßt. Unübersehbar ist allerdings auch, dass das Maß an Gemeinsinn in der Gesellschaft abnimmt und zunehmend vom persönlichen Nutzen abhängig gemacht wird.