Rehabilitation

In den fünf neuen Ländern fehlen zudem klare rechtliche Grundlagen.

Abschnitt II Nr. 5 der Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats vom 20. Oktober 1945 (ABl. des Kontrollrats in Deutschland, S. 22), sah vor, dass „Verurteilungen, die unter dem HitlerRegime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten, ... aufgehoben werden..." müssen. Auf dieser Grundlage wurden die verschiedenen Gesetze zur Beseitigung oder zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege erlassen mit dem Ziel, Personen auch justitiell zu rehabilitieren, soweit sie durch Gerichte oder andere staatliche Stellen zu Unrecht strafrechtlich verfolgt oder verurteilt worden waren.

Innerhalb der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone erließen Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Bremen eigene, im wesentlichen übereinstimmende Landesgesetze.

Für die britische Besatzungszone (Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) galt die Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit vom 3. Juni 1947 (VOBl. 1947 S. 68). Auch in der ehemaligen französischen Besatzungszone (Rheinland-Pfalz, Baden, Württemberg-Hohenzollern, Saarland) ergingen weitgehend übereinstimmende Landesgesetze. In Berlin gilt das Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiet der Strafrechtspflege vom 5. Januar 1951 (VOBl. I S. 31).

Die Verordnungen und Gesetze zur Wiedergutmachung stellen zur justizförmigen Rehabilitation ein vereinfachtes Verfahren zur Verfügung, in dem Unrechtsurteile aufgehoben werden, übermäßige Strafen aber auch geändert oder herabgesetzt werden können.

Die im Bereich der ehemaligen britischen Besatzungszone geltende Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit vom 3. Juni 1947 ist im Rahmen der Bereinigung des Bundesrechts durch das Gesetz über den Abschluß der Sammlung des Bundesrechts vom 23. Dezember 1968 mit Wirkung vom 31. Dezember 1968 aufgehoben worden (BGBl. I S. 1451). Gleichwohl sind die rechtlichen Grundlagen für eine justitielle Rehabilitierung für die von ihrem Anwendungsbereich erfaßten Entscheidungen nicht entfallen. Die Bestimmungen der Verordnung 1947 betrafen ausschließlich Tatbestände aus der Vergangenheit, nämlich strafrechtliche Entscheidungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Da neue Tatbestände nicht mehr eintreten konnten, konnte nach den Grundsätzen der Rechtsbereinigung auf ihre Aufnahme in die bereinigte Sammlung verzichtet werden. Das Gesetz über die Sammlung des Bundesrechts vom 10. Juni 1958 (BGBl. I S. 437) stellt in seinem § 3 Abs. 3 klar, dass einmal entstandene Ansprüche von der Ausschlußwirkung der Rechtsbereinigung unberührt bleiben und dass insoweit die nicht in die bereinigte Sammlung aufgenommenen Rechtsvorschriften für die Zukunft auf bereits entstandene Rechtsverhältnisse anwendbar bleiben.

In den übrigen Ländern wurden die Rechtsvorschriften zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege aufrechterhalten.

Allerdings ist es heute nicht mehr möglich, Anträge nach Artikel 4 des in Bayern geltenden Gesetzes Nr. 21 vom 28. Mai 1946 (BayGVBl. 1946 S. 180) auf Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile zu stellen. Nach dieser Vorschrift konnten gerichtliche Entscheidungen, die nicht ausschließlich, aber auch wegen Verstoßes gegen spezifisch nationalsozialistische Rechtsvorschriften ergangen oder von nationalsozialistischer Rechtsauffassung geprägt waren, auf Antrag aufgehoben werden. Das Antragsrecht war zunächst auf eine Frist von einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes beschränkt.

Das Gesetz Nr. 21 wurde mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 partielles Bundesrecht (Art. 125 Nr. 2 GG) und unterlag daher nicht mehr der Bayerischen Rechtsbereinigung (vgl. Artikel 2 des Zweiten Rechtsbereinigungsgesetzes vom 15. Juli 1957 i. V. m. Nr. 146 der Anlage zum Zweiten Rechtsbereinigungsgesetz, BayBS I S. 38, III S. 150); hierdurch wäre Artikel 4 mit Wirkung vom 31. Dezember 1957 aufgehoben worden. Artikel 4 ist jedoch durch das Gesetz zur Bereinigung des Bundesrechts gewordenen ehemaligen bayerischen Landesrechts vom 7. November 1959 (BGBl. I S. 678) mit Wirkung vom 8. November 1959 aufgehoben worden. Wegen dieser Spezialvorschrift wird Artikel 4 weder vom Gesetz über die Sammlung des Bundesrechts vom 10. Juli 1958 (BGBl. I. S. 437) ­ insbesondere nicht von § 3 Abs. 3 ­, noch vom Gesetz über den Abschluß der Sammlung des Bundesrechts vom 28. Dezember 1968 (BGBl. I S. 1451) sowie dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes vom 14. September 1965 (BGBl. I S. 1315) ­ hier: Artikel IX Abs. 1 ­ erfaßt.

Sowohl die in der britischen Besatzungszone als auch die in einigen Ländern der ehemaligen französischen Besatzungszone geltenden Wiedergutmachungsvorschriften setzen voraus, dass der von der gerichtlichen Entscheidung erfaßte Sachverhalt in die Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten fällt. Demgegenüber stellen die Gesetze der Länder der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone, das in Berlin geltende Gesetz vom 5. Januar 1951 und die saarländische Rechtsanordnung vom 4. Juli 1947 darauf ab, ob die angegriffene Entscheidung in die Zeit nach dem 30. Januar 1933 fällt.

Diese Regelungen folgen dem Gedanken des Abschnitts II Nr. 5 der Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats bzw. der Anordnung der Alliierten Kommandantur BK/O (47) 285 vom 18. Januar 1947 ­ BLN VOBl. 1948 S. 10 ­, wonach für die Aufhebung von Unrechtsurteilen keine auf die Tatzeit bezogene zeitliche Beschränkung gilt. Die zeitliche Beschränkung auf Sachverhalte nach dem 30. Januar 1933 ist darüber hinaus auch nicht vorgesehen für Überprüfungsverfahren nach § 4 der VO 47, die eine Herabsetzung des Strafmaßes zulassen.

In Hamburg stellte sich 1990 ein Bedürfnis für eine rechtliche Grundlage zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile wegen solcher Taten, die vor dem 30. Januar 1933 begangen worden sind, heraus (Urteile des Sondergerichts Altona zum „Altonaer Blutsonntag"). Da die nach dem 30. Januar 1933 ergangenen Unrechtsurteile über vor diesem Stichtag liegenden Sachverhalte von dem vereinfachten Wiedergutmachungsverfahren ausgenommen waren, sollte den Opfern dieser NS-Unrechtsurteile die Überprüfung und Aufhebung der Entscheidungen im vereinfachten Verfahren ebenfalls ermöglicht werden. Dies geschah durch die Schaffung des Gesetzes zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile vom 25. Mai 1990 (BGBl. I S. 966), das als partielles Bundesrecht in den Ländern Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein Anwendung findet.

In der sowjetischen Besatzungszone wurde ebenfalls die Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrats vom 20. Oktober 1945 umgesetzt. Der Oberste Chef der sowjetischen MilitärAdministration (SMA) erließ am 30. Juli 1946 den Befehl Nr. 228 über „die Nichtigkeit von Urteilen in politischen Sachen und die Einstellung von Strafverfahren in Fällen bestimmter strafbarer Handlungen, die vor dem 8. Mai 1945 begangen wurden". Bis September 1949 wurden daraufhin 1485 NS-Unrechtsurteile aufgehoben. Eine automatische Aufhebung durch Gesetz erfolgte nicht. 1954 wurden allerdings sämtliche Befehle der SMAD durch die Sowjetunion außer Kraft gesetzt, so auch der Befehl Nr. 228. Da die DDR selbst keine entsprechenden Vorschriften erließ, können heute in den fünf neuen Ländern keine NS-Unrechtsurteile aufgehoben werden.

2. Zur Klärung der Rechtslage bedarf es einer bundesgesetzlichen Regelung, die die Unrechtsurteile aufhebt, die bislang von den Wiedergutmachungsgesetzen der Nachkriegszeit noch nicht erfaßt sind. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß ein großer Teil der Akten durch Kriegseinwirkungen zerstört bzw. von den Gerichten im Hinblick auf den Niedergang des Dritten Reiches selbst vernichtet worden sind, zielt der Entwurf auf eine möglichst weitgehende Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen durch Gesetz ab, die eine Einzelfallüberprüfung ausschließt. Daß durch eine gesetzliche Auf hebung die Gefahr besteht, dass es in Einzelfällen zu Ungerechtigkeiten kommen kann, indem die grundsätzlich erforderliche Abwägung der subjektiven wie objektiven Umstände der den Verurteilungen zugrundeliegenden Geschehensabläufe nicht erfolgt, wird gesehen. Die sich aus dieser zwangsläufigen Folge jeden pauschalen Handelns ergebenden Bedenken sind jedoch nicht derart schwerwiegend, als dass dies zu einer anderen Lösung führen müßte: Ziel des Gesetzentwurfs ist es, über den Einzelfall hinausgehend, den vielen Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, endlich Genugtuung zu verschaffen. Sie sollen nicht in langwierigen Wiederaufnahmeverfahren schwer zu erbringende Beweise führen müssen. Aus gesetzgeberischer Sicht besteht in Anbetracht der Länge der inzwischen verstrichenen Zeit ein Sühnebedürfnis für kleinere Einzeldelikte nicht mehr oder nur in so geringem Maße, dass dieser Aspekt jedenfalls hinter der übergeordneten friedensstiftenden Funktion der gesetzlichen Aufhebung zurückstehen kann.

Ungleichbehandlungen können in Einzelfällen auch dadurch entstehen, dass die nach Kriegsende bereits überprüften Fälle, in denen eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, unberührt bleiben. Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf gerade nicht darum, den Rechtsfrieden zu stören, indem Altfälle wieder aufgerollt werden, die in einem demokratischen Rechtsstaat unter Ausschöpfung von Rechtsmitteln schon Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gewesen sind. Vielmehr soll der Rechtsfrieden, dem entgegen steht, dass eine Vielzahl von Verurteilungen durch NS-Gerichte noch existent sind, durch die nunmehr zu schaffende Regelung endlich hergestellt werden. Dabei gilt es nicht, neues Unrecht zu schaffen, indem altes Unrecht beseitigt wird, sondern über fünfzig Jahre nach Kriegsende endlich den Schlußstrich unter eines der dunklen Kapitel der NS-Strafjustizgeschichte zu ziehen.

3. Bedarf für eine einheitliche bundesrechtliche Regelung ergibt sich insbesondere in den Fällen, in denen deutsche Gerichte in den Besatzungsgebieten Recht bzw. Unrecht gesprochen haben. Einschlägig hierfür ist grundsätzlich das sogenannte „Zuständigkeitsergänzungsgesetz" vom 7. August 1952 (BGBl. I S. 407) i. V. m. den Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren (§§ 359 ff.). Dieses differenziert im Hinblick auf die Wiederaufnahmemöglichkeiten zwischen Wehrmacht- und Sondergerichten, unabhängig davon, wo diese ihren Sitz hatten und welcher Staatsangehörigkeit der Verurteilte angehörte, und bestimmten anderen Strafgerichten, die ihren Sitz in den von Deutschen besetzten Gebieten hatten. Die Wiederaufnahmemöglichkeiten nach diesem Gesetz insbesondere für Betroffene, die im Ausland wohnen, sind jedoch wenig befriedigend.

So sieht das Zuständigkeitsergänzungsgesetz zwar generell vor, dass Verfahren, die durch Urteil eines Wehrmachtgerichts rechtskräftig abgeschlossen worden sind, zugunsten des Verurteilten nach den Vorschriften der StPO wieder aufgenommen werden können. Die Anwendung dieser Regelungen auf die hier in Frage stehenden Fälle erscheint jedoch wenig erfolgversprechend, da es beispielsweise erforderlich ist, neue Tatsachen oder Beweismittel beizubringen. Dies dürfte nach über 50 Jahren nur in den wenigsten Fällen möglich sein.

Gleiches gilt für Verfahren, die durch Urteil eines Sondergerichts rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Diese können zwar auch dann wieder aufgenommen werden, wenn Umstände vorliegen, die es erforderlich erscheinen lassen, die Sache im ordentlichen Verfahren nachzuprüfen. Auch hier dürfte es aber regelmäßig erforderlich sein, Akten, Zeugen o. ä. beizubringen, um zu einer Revision des Urteils zu kommen.

Soweit dieses Gesetz Zuständigkeitsregelungen für Strafsachen bestimmter anderer Gerichte, an denen die deutsche Gerichtsbarkeit heute nicht mehr ausgeübt wird, vorsieht, gelten diese nur für Deutsche. Eine Lücke bleibt demzufolge für die vielen Gerichtsurteile, die in den von Deutschen besetzten Gebieten gegen andere Staatsangehörige, zum Beispiel polnische oder belgische, ergangen sind. Diese Lücke gilt es durch den Gesetzentwurf zu schließen.

4. Ein weiterer Grund für die unsichere Rechtslage ist, dass im Rahmen der dargestellten vereinfachten Wiederaufnahmebestimmungen der einzelnen Länder zum Teil eine Aufhebung von Unrechtsurteilen kraft Gesetzes vorgesehen ist, zum Teil aber auch nur eine Aufhebung bzw. Teilaufhebung durch erneute gerichtliche Entscheidung. Das bedeutet, daß eine Einzelfallprüfung zu erfolgen hat, ob gerade auch das konkrete Urteil durch Gesetz aufgehoben ist. Diese Überprüfung wird häufig dadurch erschwert, dass die Verfahrensakten absichtlich oder auf Grund von Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind.

Darüber hinaus sind die für eine Urteilsaufhebung erforderlichen Anträge bislang nicht in jedem Fall von den Staatsanwaltschaften oder den Angehörigen der Betroffenen gestellt worden. Verständlicherweise haben die Angehörigen von Widerstandskämpfern zum Teil auf eine derartige Antragstellung verzichtet mit der Argumentation, dass die Widerstandskämpfer keine rechtliche Genugtuung nötig hätten, sondern die Willkürurteile, etwa des Volksgerichtshofes, gegen sie eher als Beweis für ihre Standhaftigkeit, ihre Größe und ihren Mut gelten könnten. Gleichwohl kann dies nicht als Rechtfertigung für den Gesetzgeber dienen, diese Urteile weiterhin aufrechtzuerhalten.

II. Kosten:

Durch das Gesetz entstehen keine Kosten.

Preiswirkungsklausel: Auswirkungen auf die Einzelpreise und das allgemeine Preisniveau, insbesondere das Verbraucherpreisniveau, sind nicht zu erkennen.

B. Zu den einzelnen Vorschriften:

Zu § 1: § 1 greift mit der Generalklausel den Grundgedanken der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsunwirksamkeit staatlicher Maßnahmen auf. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 19. Februar 1957 ­ 1 BvR 357/52 ­ ausgeführt, dass es nicht übersehen habe, „daß unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Gesetze mit einem solchen Maß von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit erlassen worden sind, dass ihnen jede Geltung als Recht abgesprochen werden muß. Trotzdem können nicht alle Gesetze, die von der nationalsozialistischen Regierung erlassen worden sind, ohne Prüfung ihres Inhalts und der Frage, ob sie von den Betroffenen noch als geltendes Recht angesehen werden, als rechtsunwirksam behandelt werden. Eine solche Annahme würde übersehen, daß auch eine ungerechte und von geläuterter Auffassung aus abzulehnende Gesetzgebung durch das auch ihr innewohnende Ordnungselement Geltung gewinnen kann; sie schafft wenigstens Rechtssicherheit und ist deshalb, wenn sie sich innerhalb gewisser äußerster Grenzen hält, einem völligen Rechtschaos innerhalb der Rechtsunterworfenen gegenüber das geringere Übel. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht angenommen, daß die nationalsozialistische Gesetzgebung, soweit sie nicht offenbares Unrecht gesetzt hat und daher jeder Wirkung entbehrt, zwar nicht als ihrem Ursprung nach legitime Rechtsordnung, wohl aber kraft „soziologischer Geltungskraft" zu beachten ist und nicht etwa als nur tatsächliche Behinderung der Geltung des wirklichen Rechts beiseite geschoben und nachträglich ungeschehen gemacht werden kann". Dementsprechend sieht die Generalklausel vor, dass das durch dieses Gesetz aufgehobene Urteil unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit ergangen sein muß. Damit wird zugleich deutlich, dass nicht jede aus heutiger Sicht ungerechte, als rechtsstaatswidrig anzusehende Entscheidung als aufgehoben gelten kann. Das Unrecht muss vielmehr ein besonderes Maß erreicht haben. Der Kreis der erfaßten Urteile wird zusätzlich kumulativ durch Merkmale gekennzeichnet, die typisches NS-Unrecht umschreiben: Aufgehoben sind nur solche Urteile, die aus politischen, rassischen oder weltanschaulichen Gründen zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Regimes ergangen sind. Eine Entscheidung aus politischen oder rassischen Gründen liegt in der Regel vor bei Widerstandshandlungen gegen den Nationalsozialismus oder bei Zuwiderhandlungen von Personen, die sich oder andere nur noch durch Außerachtlassung von Rechtsvorschriften der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entziehen konnten. Darüber hinaus können hierunter insbesondere solche Urteile fallen, die auf Grund der Tatbestände „Kriegsdienstverweigerung", „Desertion/Fahnenflucht" und „Wehrkraftzersetzung" ergangen sind, soweit sie auch im übrigen die Voraussetzungen der Aufhebung erfüllen.

Dies gilt in gleichem Maße für Fälle, in denen sich die Verurteilung gegen Personen gerichtet hat, die nach der NS-Ideologie als „asozial" oder „minderwertig" galten und Strafmaß wie Strafzweck auf deren Vernichtung ausgerichet waren.

Voraussetzung ist, dass eine strafgerichtliche Entscheidung nach dem 30. Januar 1933 ergangen ist. Dies bedeutet zum einen, daß die Vorschrift auch anwendbar ist auf Tatbestände, die vor dem 30. Januar 1933 als eine Zuwiderhandlung betrachtet wurden, ihre strafrechtliche Beurteilung aber erst nach diesem Zeitpunkt erfolgte. Zum anderen ist die Regelung zeitlich nach hinten offen, um auch die Urteile zu erfassen, die nach der Kapitulation

­ insbesondere von Militärgerichten unter Überschreitung ihrer Kompetenzen ­ ergangen sind.

Die Notwendigkeit, durch das Gesetz die den aufgehobenen Entscheidungen zugrundeliegenden Verfahren einzustellen, ergibt sich daraus, dass aus strafprozessualer Sicht die Verfahren durch die Urteilsaufhebung wieder in den Stand nach gerichtlichem Eröffnungsbeschluß gesetzt werden. Unschuldige Personen, die wegen seitdem nicht verjährter Delikten angeklagt waren, sollen sich nicht erneut der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sehen.

Zu § 2:

Die Regelbeispiele in § 2 dienen der möglichst weitgehenden Konkretisierung der Generalklausel, um die rein deklaratorische Feststellung, dass ein bestimmtes Urteil gemäß § 1 aufgehoben ist, zu erleichtern. Hierbei ist zu unterscheiden nach Urteilen, die von bestimmten rechtsstaatswidrigen Institutionen gefällt worden sind (Nummern 1 und 2) und den Entscheidungen, die auf legislatorischem Unrecht beruhen.

1. Zu § 2 Nr. 1:

Durch dieses Gesetz werden alle Entscheidungen des Volksgerichtshofs aufgehoben. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber durch das Gewaltenteilungs- und das Rechtsstaatsprinzip an einer Aufhebung von gerichtlichen Entscheidungen gehindert. Dies gilt jedoch uneingeschränkt nur für Gerichtsentscheidungen, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in dessen Geltungsbereich erlassen worden sind. An der gesetzlichen Aufhebung vorkonstitutioneller Urteile ist er nur dann gehindert, wenn es sich um Entscheidungen von Gerichten handelt, die auf Grund ihrer konkreten Stellung in der jeweiligen vorkonstitutionellen Rechts- und Verfassungsordnung als Bestandteile einer unabhängigen „Dritten Gewalt", so wie sie das Grundgesetz vorsieht, gelten können.

Nur im Hinblick auf die Entscheidungen solcher Gerichte verbietet es der dem heutigen Gesetzgeber durch das Grundgesetz auferlegte Respekt vor der Unabhängigkeit der Judikative, durch Gesetz deren Entscheidungen aufzuheben. Bei vorkonstitutionellen Institutionen, die ­ auch wenn sie als Gerichte und ihre Entscheidungen als Urteile bezeichnet worden sind ­ auf Grund ihrer Stellung und Aufgabe in der jeweiligen historischen Rechtsordnung nicht dem Bild des Grundgesetzes von Aufgabe und Stellung einer unabhängigen rechtsprechenden Gewalt entsprechen, steht jedenfalls das Prinzip der Gewaltenteilung einem Zugriff des heutigen Gesetzgebers auf deren Entscheidungen nicht entgegen, da es schon am Tatbestand der Gewaltenteilung fehlt und sich daher auch nicht die entsprechenden Rechtsfolgen ergeben können. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Entscheidungen der fraglichen Institutionen unter moralischen oder rechtsstaatlichen Aspekten besonders „gut" oder „schlecht" waren. Vielmehr findet das Gewaltenteilungsprinzip auch dann keine Anwendung, wenn sämtliche Entscheidungen der betreffenden Institutionen nach heutigen Maßstäben der Rechtsstaatlichkeit im Hinblick auf Inhalt und Verfahren nicht zu beanstanden sein mögen, es sich aber bei der Institution z. B. um ein weisungsgebundenes Revolutionstribunal gehandelt hat.

Für den Volksgerichtshof ist festzustellen, dass dieser nach dem Willen Hitlers und seiner Justizfunktionäre ein eindeutiges Aliud zu der auf der Grundlage der Weimarer Rechtsverfassung errichteten, unabhängigen und gesetzesgebundenen ordentlichen Strafgerichtsbarkeit darstellen sollte. Seine Aufgabe bestand nicht in der Rechtspflege, sondern in der „Bekämpfung" von „Volksschädlingen". Seine Richter verstanden sich nicht als Rechtsanwender, sondern als Bestandteile einer „Kampftruppe" und als politische Kämpfer für Hitler. Die „Recht"-Sprechung diente nicht der Wahrung des Rechts, sondern der Erfüllung des „Führerwillens". Eine derartige Institution steht ­ ungeachtet der konkreten Ergebnisse ihrer Tätigkeit ­ in diametralem Gegensatz zur Aufgabe und Stellung einer unabhängigen, nur dem Recht verpflichteten Judikative im Sinne des Grundgesetzes.

Dementsprechend hat auch der Deutsche Bundestag am 25. Januar 1985 einstimmig beschlossen, „daß die als Volksgerichtshof bezeichnete Institution kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft war" (Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs 10/2368, S. 2).

2. Zu § 2 Nr. 2:

Auch bei den im Gesetzestext näher bezeichneten Standgerichten handelt es sich nicht um Institutionen, die als Bestandteile einer vom heutigen Gesetzgeber unter Gewaltenteilungsaspekten zu akzeptierenden unabhängigen Rechtspflege gelten können. So bedurften nach Artikel IV Abs. 1 S. 2 der Verordnung vom 15. Februar 1945 beispielsweise alle Urteile dieser Standgerichte der Bestätigung durch den Reichsverteidigungskommissar, was eine unabhängige Rechtspflege ausschloß, weil die endgültige Entscheidung nicht bei dem Gericht lag.

Darüber hinaus gilt hier das für den Volksgerichtshof Ausgeführte entsprechend: Aufgabe der noch kurz vor Kriegsende eingeführten Standgerichte, die neben dem Freispruch nur auf Todesstrafe erkennen konnten, war die Aufrechterhaltung der Disziplin, um die „Deutsche Kampfentschlossenheit und Hingabe bis zum Äußersten" zu wahren, nicht jedoch die Rechtspflege.

3. Zu § 2 Nr. 3:

Durch diese Vorschrift werden grundsätzlich alle Todesurteile sämtlicher Gerichte aufgehoben, wenn sie nicht auf einer Norm des allgemeinen Strafrechts beruhen, die bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Todesstrafe vorsah.

a) Todesurteile des Reichskriegsgerichts und der Militärgerichte

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurden Zehntausende deutscher Soldaten und Zivilpersonen Opfer von Verurteilungen wegen der Tatbestände „Kriegsdienstverweigerung", „Desertion/ Fahnenflucht" und „Wehrkraftzersetzung". Mit zunehmender Kriegsdauer wurden immer mehr Todesurteile ausgesprochen, um die militärische „Manneszucht" (im Sinne des § 5 Absatz 1 Nummer 2 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 17. August 1938, RGBl. I S. 1683) und Kampfkraft der Truppe aufrecht zu erhalten. Die massenhafte Verhängung von Todesurteilen zielte auf allgemeine Abschreckung. Der vom nationalsozialistischen Deutschland geführte Angriffs- und Vernichtungskrieg sollte um jeden Preis, auch in aussichtslosen Situationen von den Soldaten weitergeführt werden. Die Anwendung der Höchststrafe diente der Erzwingung unbedingten Gehorsams auch gegenüber sinnlosen Befehlen. Auf dieser Grundlage hat das Bundessozialgericht bereits in seiner Entscheidung vom 11. September 1991

(9 a RV 11/90) festgestellt, dass bei den Todesurteilen der Militärstrafjustiz angesichts der Gesamtumstände die Rechtswidrigkeit der Urteile zu vermuten ist.

Auch der Deutsche Bundestag hat sich in seiner Entschließung am 15. Mai 1997 dahingehend ausgesprochen, „daß die von der Wehrmachtjustiz während des Zweiten Weltkriegs wegen dieser Tatbestände verhängten Urteile unter Anlegung rechtsstaatlicher Wertmaßstäbe Unrecht waren".