Einführung von Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen

Der Senat legt nachstehende Mitteilung dem Abgeordnetenhaus zur Besprechung vor:

Das Abgeordnetenhaus hat in seiner Sitzung am 14. Januar 1999 folgendes beschlossen: „Der Senat wird aufgefordert, Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen zur Umsetzung der in den „Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt" für die einzelnen Fachressorts formulierten Kriterien und Maßnahmen einzuführen.

Die dafür notwendigen Prüfverfahren sind von den nach der Aufgabenverlagerung im Rahmen der Verwaltungsreform zuständigen Stellen zu entwickeln.

Dem Abgeordnetenhaus ist bis zum 31. März 1999 zu berichten."

Hierzu wird berichtet: Kinder- und familienfreundliche Stadt

­ Bericht ­

1. Lebensbedingungen für Kinder und Familien in Berlin Berlin bietet Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in vieler Hinsicht besonders günstige Lebensbedingungen. So hat das Land Berlin den Rechtsanspruch der 3- bis unter 6-jährigen Kinder auf einen Platz in einer Kindertagesstätte als Folge des neuen Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII) vollständig in die Praxis umgesetzt, so dass den Kindern bereits im Vorschulalter Möglichkeiten zur Bildung und Erziehung über die Familienerziehung hinaus geboten werden. Hervorzuheben ist auch der hohe Grad an Bedarfsdeckung bei der Tagesbetreuung der Sechsbis Zwölfjährigen (40 % im West- und 75 % im Ostteil der Stadt).

Die Eltern sind dadurch in der Lage, Kinderbetreuung und Beruf besser in Einklang zu bringen. Ein besonderes Augenmerk wird in den Kindertagesstätten, ebenso wie in den Schulen, auf integrative Erziehung für behinderte Kinder gerichtet.

Berlin überzeugt auch durch die vielfältigen, auf persönliche Neigungen und Fähigkeiten zugeschnittenen schulischen Angebote mit ihren relativ kurzen Schulwegen und guten Verkehrsanbindungen. Bei den Grund- und Oberschulen wie vor allem auch bei den beruflichen Schulen bietet Berlin eine breite Palette zur Auswahl.

Das gleiche gilt für die Freizeit. Zahlreiche Sportanlagen und Vereine in der Umgebung der elterlichen Wohnung, Jugendbegegnungsstätten, Weiterbildungsangebote und kulturelle Angebote von großer Vielfalt stehen in der ganzen Stadt zur Verfügung. Dabei sind insbesondere Einrichtungen wie das Freizeitund Erholungszentrum Wuhlheide (FEZ) und das Sport- und Erholungszentrum (SEZ) hervorzuheben.

Es gibt also keinen Anlaß, die Lebensbedingungen für Kinder und Familien in der Großstadt Berlin wie es zuweilen geschieht, insgesamt grau in grau zu zeichnen. Freilich ist auch zu berücksichtigen, dass das Leben unter Großstadtbedingungen Kindern, Jugendlichen und Familien vielfach Beschränkungen auferlegt, die ihrer Entfaltung hinderlich oder schädlich sein können. Wie diese Bedingungen verbessert werden können, wird in dem Bericht des Senats „Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt" dargestellt. Mit den Leitlinien werden gleichzeitig Ziele und Maßnahmen für alle Bereiche der Politik benannt, die auch die Belange der Familien miteinschließen.

Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat im Mai 1998 zu der Problematik ein Positionspapier „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen" vorgelegt. Die Kommission „Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz" hat ein Grundsatzpapier „Umfassende Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche schaffen" für die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugendbehörden erarbeitet, das dort im Frühjahr 1998 beschlossen worden ist.

2. Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen in anderen deutschen Städten

Eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Studie des Instituts für Entwicklungsplanung und Strukturforschung Hannover (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Materialien zur Familienpolitik, Nr. 2, März 1998, Familien- und Kinderfreundlichkeitsprüfung in den Kommunen: Erfahrungen und Konzepte, Abschlußbericht) führt 16 mittlere und große Städte im Bundesgebiet auf, die 1997 Verfahren für eine Kinder- und Familienfreundlichkeits- oder ­verträglichkeitsprüfung eingeführt hatten.

Diese Verfahren erstrecken sich auf die kommunalen Zuständigkeiten in der Jugend- und Familienpolitik. Die Konzepte für diese Eignungsprüfungen haben zum Teil mehr einen Anregungs- und Mahncharakter, zum Teil aber auch eine Aufsichts- und Kontrollfunktion.

So hat Bielefeld kein formalisiertes Prüfverfahren eingerichtet, sondern informelle Beteiligungsverfahren wie Foren, Workshops oder Arbeitsgruppen als fachliche Plattform innerhalb und außerhalb der Verwaltung unter den beteiligten Interessengruppen geschaffen.

Demgegenüber hat z. B. Düsseldorf ein formalisiertes Verfahren eingerichtet, das dem Jugendamt federführend anvertraut ist.

Ein Kriterienkatalog umfaßt:

a) soziale Infrastruktur für Kinder;

b) kindgerechte Verkehrsplanung;

c) kindgerechte Gestaltung der Wohnbereiche;

d) verbesserte Spiel- und Aufenthaltsmöglichkeiten;

e) räumliche Vernetzung der für Kinder wichtigen Orte;

f) Vermeidung negativer Umwelteinflüsse.

Stendal hat das Jugendförderungsamt mit der Prüfung aller Vorentwürfe zu Maßnahmenplänen betraut. Es gibt sodann eine Stellungnahme gegenüber dem Fachamt ab. In Fällen besonderer Bedeutung wird die Stellungnahme des Jugendförderungsamts Teil der Beschlußvorlage.

Stuttgart hat seine Prüfung auf die Sozialverträglichkeit von städtebaulichen Maßnahmen beschränkt. Die Federführung liegt bei einer Arbeitsgruppe „Sozialverträgliche Planung" mit ständigen Teilnehmern (Stadtplanungsamt, Jugendamt, Sozialamt, Schulverwaltung, Sportamt, Kulturamt, Gartenbauamt) und themenabhängigen Teilnehmern. Zusätzliches Personal für die Aufgabe wird nicht bereitgestellt.

Die Prüfverfahren sind durch Ratsbeschlüsse in Kraft gesetzt worden und gehören inzwischen in den jeweiligen Kommunen zum politischen und administrativen Alltag.

3. Belange von Kindern und Familien, insbesondere in der Gemeinsamen Geschäftsordnung, im Kinder- und Jugendhilferecht sowie im Baurecht

Beide Konzepte der Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfung (vgl. oben unter Nr. 2) sind in Berlin, wo zu den kommunalen Aufgaben noch die Landesaufgaben hinzukommen, im Ansatz schon vorhanden oder im Entstehen begriffen. Das Mitzeichnungsverfahren gemäß § 73 Gemeinsame Geschäftsordnung für die Berliner Verwaltung (GGO I) ist dazu bestimmt, die Rechte und Verantwortlichkeiten anderer Stellen zu wahren, wenn sie für bestimmte Vorhaben nicht selbst federführend sind.

Die für Jugend und Familie zuständigen Verwaltungen sind damit bereits jetzt sowohl auf der Senats-, als auf der Bezirksebene in der Lage, bei allen Verwaltungsvorgängen genereller Art oder mit Einzelfallcharakter ihre Interessen zu wahren, also Mitzeichnung zu beanspruchen und sodann im Mitzeichnungsverfahren ihre Belange zur Geltung zu bringen. Sollte die federführende Verwaltung die Mitzeichnung nicht einräumen oder die im Mitzeichnungswege vorgetragenen Einwände oder Anregungen nicht berücksichtigen wollen, stehen im Konfliktfall als Schlichtungsgremien der Senat, das Bezirksamtskollegium oder der Rat der Bürgermeister zur Verfügung.

Über die reine Verfahrensregelung der GGO I hinaus gibt es ausdrückliche gesetzliche Grundlagen im Kinder- und Jugendhilferecht, die eine umfassende Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfung durch die Jugendhilfebehörden in allen betroffenen Verwaltungsbereichen ermöglichen.

Nach § 1 Abs. 3 SGB VIII soll Jugendhilfe dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. § 81 SGB VIII fordert demgemäß die Zusammenarbeit der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, deren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation junger Menschen und ihrer Familien auswirkt (vgl. dort die Aufzählung der einzelnen Bereiche, vgl. auch § 80 Abs. 4 SGB VIII über die Abstimmung der Jugendhilfeplanung mit anderen örtlichen und überörtlichen Planungen).

Aus diesen Vorschriften folgt eine Querschnittsaufgabe mit Einmischungscharakter für die Jugendhilfebehörden, eine Lobbyfunktion zugunsten von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, die umfassend zu nutzen ist. Dies wird auch durch § 2 Abs. 2 AG-KJHG Berlin verdeutlicht, nach dem die Jugendhilfebehörden die Bedürfnisse und Interessen junger Menschen auch fachübergreifend, insbesondere gegenüber den für Schule, Gesundheit, Stadtentwicklung, Verkehrsplanung, Umweltschutz, Arbeitsmarkt, Wohn- und Wohnumfeldgestaltung zuständigen Verwaltungen, zur Geltung bringen sollen. Hieraus ist der Auftrag zur Einmischung der bezirklichen Jugendämter zu entnehmen.

Neben der Querschnittsfunktion der Jugendhilfebehörden zielt auch die Verpflichtung zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen darauf ab, kinder- und familienverträgliche Entscheidungen in Politik und Verwaltung zu bewirken. So sind nach § 8 SGB VIII Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. § 5 Abs. 3 AG-KJHG Berlin regelt diese Beteiligung ausführlich. Hervorzuheben ist insbesondere die Verpflichtung, in jedem Bezirk geeignete Formen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Jugendhilfeplanung und anderen sie betreffenden Planungen zu entwickeln und organisatorisch sicherzustellen. Ferner soll nach dem Gesetz den Kindern und Jugendlichen Gelegenheit gegeben werden, ihre Interessen und Belange herauszufinden, sie zu äußern und sie gegenüber den verantwortlichen Personen und Stellen zu vermitteln.

Die Bezirke sind aufgefordert, Ansprechstellen für Kinder und Jugendliche in der Bezirksverwaltung zu schaffen (vgl. hierzu im einzelnen das Rundschreiben Nr. 3/1998 der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport vom 6. April 1998 über die Beteili gung von Kindern und Jugendlichen gem. § 5 des AG-KJHG Berlin). Auch die Jugendhilfeausschüsse sollten insbesondere durch Anhörungen von Kindern und Jugendlichen Beteiligung praktizieren (vgl. das og. Rundschreiben). Durch diese Beteiligung von Kindern und Jugendlichen können ihre Interessen berücksichtigt werden, und die vom Abgeordnetenhaus geforderte Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfung kann in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Auch im Baurecht (§ 3 Baugesetzbuch und § 5 AGBauGB) ist die Pflicht zur Beteiligung der Bürger enthalten, so dass diese ihre Belange frühzeitig in die Planungen der Gemeinde einbringen können. Die Jugendämter sind zudem als Träger öffentlicher Belange gem. § 4 BauGB frühzeitig in die Planungen eingebunden und müssen hierbei ihre Rolle aktiv ausfüllen.

Keine Einrichtung zentraler Püfstellen bei Senat oder Bezirken Man könnte sich über die oben unter Nr. 3 erwähnten Möglichkeiten hinaus vorstellen, dass alle Entwürfe für Verwaltungsvorschriften, Rechtsverordnungen oder Gesetze sämtlicher Senatsressorts sowie alle städtebaulichen Planungsentwürfe an eine dafür bestimmte Stelle im Senat oder Bezirk geleitet werden müssen und dort unter dem Blickwinkel der Kinder-, Jugend- und Familienverträglichkeit geprüft und dann mit Einwänden oder Verbesserungsvorschlägen versehen werden. Alle diese Konzepte müßten in einer sehr frühen Phase ihrer Entstehung begutachtet werden, damit rechtzeitig, wenn die Dinge noch nicht abgeschlossen oder weitgehend ausgeformt sind, eine Einflußnahme und gegebenenfalls ein Umdenken möglich wären.

Die mit einer solchen Prüfung etwa beauftragte zentrale Stelle müßte zur Sicherheit mindestens alle Tagesordnungen von Senats- und Stadträtesitzungen, Sitzungen der Leitenden Fachbeamten wie auch des Rats der Bürgermeister routinemäßig erhalten und auf Punkte sichten, die womöglich die Belange von Kindern, Jugendlichen und Familien berühren. Diese Prüfstelle müßte über ein unerhörtes Überblicks- und Detailwissen verfügen, um alle einschlägigen Vorhaben aufzuspüren und zu analysieren. Sie müßte als eine Art Filter für große Teile der planenden und ordnenden Verwaltung und Politik im Lande Berlin wirken.

Eine derartige zentrale Stelle wäre nur mit einer besonderen personellen Ausstattung von einigen Mitarbeitern (2 bis 3), die nur zu diesem Zweck da sind, zu organisieren.

Die Gefahr, dass eine derartige Kontrollstelle alle Vorhaben aufhält und am Ende wenig bewirkt, liegt nahe. Verweigerungsund Umgehungsmechanismen der anderen Ressorts würden sich ausbreiten, um diesem überdimensionalen Kontrollapparat mit dem eigenen Vorhaben möglichst zu entgehen. Rechtliche und finanzielle Einwände würden mangels eindeutiger Maßstäbe, was denn im Einzelfall als kinder- und familenfreundlich anzusehen sei, die Wünsche der Jugend- und Familienverwaltung weitgehend leerlaufen lassen. In einer überschaubaren Kommune mag eine solche Kinder- und Familienverträglichkeitsstelle als institutionalisiertes Gewissen eine gewisse Bedeutung gewinnen.

Wegen der Größe Berlins, das zu den kommunalen Aufgaben auch noch die Landesaufgaben wahrnimmt, hätte dies hier eine andere Dimension und Qualität als in einer gewöhnlichen Großstadt.

5. Dezentrales Prüfverfahren auf Grund der Leitlinien

Einen perfektionistischen, zentralen Prüfapparat in der angedeuteten Art von oben einzuführen, würde außerdem gegen Geist und Ziele der Verwaltungsreform verstoßen, Die Verantwortung soll ja künftig aus den Spitzen überentwickelter Hierarchien fortgenommen und an die Stellen verlagert werden, wo die Arbeit wirklich gemacht wird. Allein ein dezentrales Prüfungsverfahren an Ort und Stelle kann deshalb den konzeptionellen Vorgaben der Verwaltungsreform genügen. Als Prüfrahmen werden künftig die „Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt" zur Verfügung stehen. Der Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 14. Januar 1999 verweist deshalb bereits auf sie und stellt folgerichtig den Zusammenhang zu den Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen her. Es muss somit von den Bezirken entschieden werden, ob sie eine Stelle, z. B. das Jugendamt, mit der Durchführung der Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen betrauen, oder ob sie es jeder Abteilung bzw. jedem Leistungs- und Verantwortungszentrum überlassen, den Kriterienkatalog der „Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt" eigenständig der Überprüfung der Planungen zugrundezulegen.

Zusätzlich könnte es in Betracht kommen, dass die Bezirksämter in ihre Beschlußvorlagen als routinemäßigen Prüfpunkt zusätzlich die „Kinder- und Familienverträglichkeit der Maßnahme" aufnehmen. Hierdurch könnten die von der Intention des Beschlusses des Abgeordnetenhauses besonders betroffenen Bezirksämter sicherstellen, dass bei jedem Beschluß des Bezirksamtskollegiums dieser Punkt mit in die Entscheidung einbezogen wird.

6. Erfahrungsberichte der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport

Der Senat hat mit dem Verfahren zu den Leitlinien eine regelmäßige Berichtspflicht vorgesehen. Die Erfahrungen und die Aktivitäten der Bezirke im Hinblick auf Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen sollen dann jeweils mit enthalten sein.

Hierzu zählen auch interessante Modellentwicklungen für Beteiligungen von Kindern und Jugendlichen, z. B. auch in Zusammenarbeit mit Freien Trägern, deren Ergebnisse sich, eventuell auch in abgewandelter Form, auf das gesamte Stadtgebiet übertragen lassen.

7. Haushaltsplan und Finanzplan

Da keine neu einzurichtenden zentralen oder dezentralen Prüfstellen für die Durchführung der Kinder- und Familienverträglichkeitsprüfungen vorgesehen werden, sind Auswirkungen auf Haushaltsplan und Finanzplanung nicht zu erwarten.

Wir bitten damit, den Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 14. Januar 1999 als erledigt anzusehen.

Berlin, den 11. Mai 1999

Der Senat von Berlin Eberhard Diepgen Ingrid Stahmer Regierender Bürgermeister Senatorin für Schule, Jugend und Sport