Gesetz

Bürgerbeteiligung, nachdem sie im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung eingeschränkt wurde, auch im Hinblick auf die Lokale Agenda wieder gestärkt werden.

Als ein weitergehender Schritt wurde auch für Bürgerentscheide auf bezirklicher Ebene plädiert.

Teile der Kommission haben sich außerdem dafür ausgesprochen, bezirkspolitische Formen der Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern, die in einigen Berliner Bezirken bereits praktiziert werden, verbindlich für alle Bezirke zu regeln (z.B. qualifizierte Unterrichtung der Öffentlichkeit durch die bezirklichen Selbstverwaltungsorgane, Einwohnerfragestunden, -versammlungen und -anträge, Rede- und Antragsrecht von Initiativen zu ihren Belangen in den Ausschüssen der BVV).

Zur Frage der Verbindlichkeit der Partizipation für politische Entscheidungen vertraten einige Sachverständige die Auffassung, Voraussetzung für eine erfolgreiche Beteiligung sei „zuallererst die Bereitschaft von Politik und Verwaltung, ihr Gestaltungsmonopol ein Stück weit zur Disposition zu stellen ­ zum gemeinsamen Nutzen, denn sowohl die Akzeptanz des gefundenen Ergebnisses wird größer sein als gewohnt als auch der Respekt, den Politik und Verwaltung für ihre Achtung vor dem Urteil mündiger Bürgerinnen und Bürger bezeugt erhalten werden."92 Deutlich schärfer hieß es: „Entscheidungsmacht muss einfach geteilt werden wollen. Wenn das nicht passiert, dann können wir uns die Lokale Agenda letztlich auch sparen." „Wer Beteiligung will, muss auch Gestaltungsmöglichkeiten zulassen."

Eine entsprechende Haltung in Politik, Verwaltung sowie bei Vorhabenträgern sei wichtiger als die Art des Beteiligungsverfahrens und müsse in der Verwaltung auch honoriert werden, indem Raum für eine eingehende Bearbeitung von Stellungnahmen sowie für Beteiligungsverfahren geschaffen wird, die über das gesetzliche Mindestmaß hinausgehen.95 Der Umfang der Verbindlichkeit könne in einem freiwilligen „Bürgerabkommen" oder „Bürgervertrag" zwischen Senatsverwaltungen, Bürgerinnen und Bürgern sowie Interessengruppen vereinbart werden.

Vor diesem Hintergrund wurde angemerkt, dass zwar jede Form von Partizipation in einen Konflikt mit dem repräsentativen Demokratiemodell geraten könne, ein solcher Konflikt sei aber in einem Lernprozess der Entwicklung des Systems und im Rahmen einer vertrauensvollen Zusammenarbeit auszuräumen.

Als konkrete Lösungsvorschläge wurde auf eine Verfahrensvereinbarung des Verkehrsforums Tübingen und auf ein Bürgergutachten für die Verkehrsbetriebe Hannover hingewiesen. In beiden Fällen wurde „vorher nicht gesagt: Alles, was da heraus90 Vgl. Zschiesche in KDrs 13/8.4 (1998) 48.

Vgl. Schrom in KDrs 13/8.4 (1998) 39 und in KDrs 13/8.2c (1998) 2.

Von Trott zu Solz in KDrs 13/8.2a (1998) 5.

Zschiesche in KDrs 13/8.4 (1998) 19.

Zschiesche in KDrs 13/8.2b (1998) 4.

Vgl. Zschiesche in KDrs 13/8.4 (1998) 19 I, 47.

Vgl. Zschiesche in KDrs 13/8.2b (1998) 4.

Vgl. Gustmann in KDrs 13/8.4 (1998) 20; von Trott zu Solz in KDrs 13/8.4 (1998). kommt, setzen wir eins zu eins um. Das wird auch nie jemand tun, das wird kein Unternehmen tun, und das wird auch keine Verwaltung tun."98 Bei der Einrichtung des Verkehrsforums Tübingen wurde aber unter den Beteiligten ­ darunter Vertretern des Gemeinderates ­ vereinbart: Gegen gute Argumente und gegen einen Konsens der Interessengruppen bzw. der beteiligten Bürgerinnen und Bürger soll keine Entscheidung gefällt werden, jedenfalls nicht ohne vergleichbare Begründung.99 Bei Ergebnissen, „die im Konsens aus solchen Verfahren hervorgegangen sind, müssen die Gründe schon sehr schwerwiegend sein, wenn man von diesen Konsensbeschlüssen abweicht."100 Damit das Wissen und die Erfahrung von Politik und Verwaltung in solche konsensuellen Ergebnisse Eingang finden, sei „in diesen Beteiligungsverfahren immer ein direkter Austausch mit Verwaltung und Politik notwendig."

Was aber sind gute Argumente, vergleichbare Begründungen und schwerwiegende Gründe? Aus Sicht der Kommission besagt der am Tübinger Modell orientierte Vorschlag zunächst lediglich, dass in einem eher formalen Sinne der Umfang und die Differenziertheit sowie die innere Schlüssigkeit der Begründungen bei einer ablehnenden politischen Entscheidung nicht unterboten werden sollen. Damit ist bereits eine gewisse Anforderung gestellt. Was nun inhaltlich ein gleichwertiges oder besseres Argument darstellt, wenn Argument gegen Argument steht, das ließe sich letztlich nur wiederum in einem diskursiven Verfahren ermitteln. Insofern gewinnt der zweite Lösungsvorschlag, der der Kommission anempfohlen wurde, eine wichtige ergänzende Funktion.

Der Austausch mit Verwaltung und Politik ist nämlich demzufolge nicht nur während des Beteiligungsverfahrens, sondern ebenso im anschließenden Entscheidungsund Umsetzungsprozess sinnvoll. Dies zeige das Beispiel des Bürgergutachtens der Hannoveraner Verkehrsbetriebe ÜSTRA. Hier wurde vor Beginn des Beteiligungsverfahrens deutlich gemacht, dass von den Ergebnissen nur mit entsprechender Begründung und „in erneuter Auseinandersetzung mit denjenigen, die in diesem Parti98

Baumann in KDrs 13/8.4 (1998) 39, 13. „Wenn sich so viele Bürger über einen langen Zeitraum hinweg ehrenamtlich in ihrer Freizeit für ein öffentliches Anliegen engagieren, sollte als Motivation ein Lohn winken. Der kann und sollte nicht finanzieller oder materieller Art sein. Als ideeller Lohn sollte die Gewißheit da sein, daß die mühevoll erarbeiteten Ergebnisse auch politische Bedeutung und Gewicht haben. Als Ermutigung für diesen Prozeß sollte der Gemeinderat eine Verbindlichkeit für den Umgang mit den Arbeitsergebnissen erklären. Die kann und darf nicht darin bestehen, dass die Übernahme der Empfehlungen des Verkehrsforums garantiert wird. Aber sie könnte in der Kurzformel bestehen: Gegen gute Argumente gibt es keine politischen Entscheidungen. Damit soll ausgedrückt werden, dass die Arbeit des Verkehrsforums vom Gemeinderat ernst genommen und seine Ergebnisse wohlwollend geprüft werden. Soweit die Argumente des Verkehrsforums transparent nachvollziehbar, sachlich begründet, sinnvoll und im Konsens gefaßt sind, sollte politisch nicht nach Belieben und ohne vergleichbare Begründung anders entschieden werden." Verkehrsforum Tübingen (ca. 1994) zitiert nach Baumann in KDrs 13/8.4 (1998) 13.

Baumann in KDrs 13/8.4 (1998) 40.

Baumann in KDrs 13/8.4 (1998) 40. zipationsverfahren eingebunden waren, abgewichen wird."

Die Verkehrsbetriebe haben am Ende des Verfahrens mit den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern erörtert, welche Vorschläge sie übernehmen und welche sie aus welchen Gründen nicht umsetzen werden. Durch diese Vorgehensweise konnte viel Einverständnis über den Umgang mit den Ergebnissen der Partizipation erzielt werden. Es gab sogar eine Evaluierung der Umsetzung durch die Bürgerinnen und Bürger. Eine konfrontative Gegenüberstellung von Bürgervotum und Umsetzungsentscheidung wurde durch das gesamte Verfahren vermieden.

Dieselbe Verfahrensweise wurde auch von der Stadt Gießen in ihrem Agenda-Prozess durch einen Ratsbeschluss verankert.

Der Vorschlag an die Enquetekommission zur Regelung der Verbindlichkeit von Partizipation enthält also zwei Grundsätze, die zu Beginn eines Beteiligungsverfahrens zu vereinbaren seien:

1. keine Entscheidung gegen gute Argumente und gegen einen Konsens ohne vergleichbare Begründung

2. erneuter Dialog über die Ablehnung von Ergebnissen vor der endgültigen Entscheidung.

Umgekehrt schließen diese Kriterien die Aufforderung ein, in Beteiligungsverfahren kompetent begründete Ergebnisse in möglichst großem Konsens und im Austausch mit Politik und Verwaltung zu entwickeln. Je mehr dies erreicht wird, desto mehr werden die Ergebnisse Verbindlichkeit erlangen können.

Der Vorschlag wurde von einigen Sachverständigen kommentiert. Aus staatsrechtlicher Sicht kann es sich nicht um eine rechtsverbindliche Regelung für Politik und Verwaltung handeln. Anderenfalls wäre nämlich die Mitarbeit in Partizipationsverfahren eine Ausübung von Staatsgewalt, für die wiederum eine Legitimationskette zum Volk erforderlich ist. Daraus folgt, „daß man nur eine Verbindlichkeit unterhalb der juristischen Verbindlichkeit etablieren könnte in Form einer Art Selbstverpflichtung. Ob das dann funktioniert, das ist eine Frage des praktizierten Kooperationsverhältnisses der Beteiligten, aber juristisch kann man das nicht wasserdicht machen."105 Eine politische Verbindlichkeit könne dadurch hergestellt werden, „daß öffentlich geäußerte freiwillige Vereinbarungen geschlossen werden, die natürlich keine juristische Verbindlichkeit besitzen. Wichtig ist, dass solche freiwilligen Vereinbarungen einer öffentlichen Kontrolle unterliegen."106 Ehrlichkeit bei allen beteiligten

Baumann in KDrs 13/8.4 (1998) 39.

Vgl. Stiftung Mitarbeit (1996). „Stadtverordnetenversammlung und ihre Ausschüsse sollen Vorlagen, die ihnen aus der Arbeit an der Agenda 21 in breitem Einvernehmen zugehen, daher besonders sorgfältig beraten und gegebenenfalls im Ältestenrat besondere Absprachen zu geeigneten Beratungsverfahren treffen. Wird in den Beratungen der städtischen Gremien deutlich, dass solche Beschlussempfehlungen ganz oder teilweise keinen Rückhalt finden, soll dies vor einer endgültigen Beschlussfassung durch die Stadtver-ordnetenversammlung in jedem Fall mit den Arbeitsgremien der Agenda 21 erörtert werden." Beschluss der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Gießen vom 19. März 1998; zitiert nach: Kuhn (1998) 46f.

Schuppert in KDrs 13/8.4 (1998) 36.