Milieuschutz für den Boxhagener Platz

„Der Senat wird aufgefordert, über die Zweckmäßigkeit der Anwendung des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB am Beispiel des Boxhagener Platzes für die Zielsetzung sozialer Stadtentwicklung bis zum 30. Juni 1999 zu berichten."

Hierzu wird berichtet:

1. Anwendung des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB

Das Instrument der Erhaltungssatzung zum Schutz der besonderen Bevölkerungsstruktur gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB hat sich Anfang der neunziger Jahre in Berlin etabliert. In Berlin tritt an die Stelle einer Satzung gemäß § 172 BauGB eine Rechtsverordnung (§ 18 Satz 1 AGBauGB in Verbindung mit § 246 Abs. 2 Satz 1 BauGB), die das Bezirksamt im Einvernehmen mit der zuständigen Senatsverwaltung erlässt.

In den westlichen Stadtbezirken sollten die innerstädtischen Wohngebiete geschützt werden, deren Struktur trotz erkennbarer städtebaulicher Mängel und sozialer Probleme auf die speziellen Bedürfnisse einer ökonomisch schwachen Wohnbevölkerung zugeschnitten waren.

Die Erhaltungsgebiete im Ostteil der Stadt verfügen über eine sozial gemischte Bevölkerung, die den demographischen und soziostrukturellen Verhältnissen im Ostteil Berlins ähneln. Der Schutzzweck liegt hier auf der Vermeidung einseitiger Bevölkerungsstrukturen, um eine dadurch bedingte städtebauliche Veränderung zu umgehen.

Ziele des Milieuschutzes

Die Erhaltungsverordnung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB soll eine geordnete, problem- und kostenvermeidende städtebauliche Entwicklung unterstützen. Durch dieses zusätzliche Steuerungsinstrument sollen insbesondere Probleme der baulichen Aufwertung, der kollektiven Verdrängung der Gebietsbevölkerung und der Mietpreisexplosion, die sich gegenseitig beeinflussen können, eingeschränkt werden. Allzu heftige Umstrukturierungen sollen ­ soweit sie auf baulichen Maßnahmen beruhen ­ möglichst verhindert oder zumindest zeitlich hinausgezögert werden.

Ziel der Anwendung von Erhaltungsverordnungen ist, eine Verdrängung der eingesessenen Wohnbevölkerung aus bestimmten Wohngebieten und eine unerwünschte Veränderung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zu verhindern. Es soll vor allem eine (meist weitere) Segregation vermieden werden.

Die Ausweisung von Milieuschutzgebieten darf nur aus städtebaulichen Gründen erfolgen. Das Instrument darf nicht für eine wohnungsmarktpolitische Zielsetzung oder für vermeintliche Lücken im Mietrecht hinsichtlich des individuellen Schutzes der Mieter vor Verdrängung eingesetzt werden.

Die Verordnung bewirkt, dass in ausgewählten Gebieten bauliche Veränderungen, Abbruch und Nutzungsänderung von Wohnraum einer gesonderten Genehmigung unterliegen, um preiswerten Wohnraum für ökonomisch schwächere Haushalte aus besonderen städtebaulichen Gründen zu erhalten. Ferner besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, ein gemeindliches Vorkaufsrecht auszuüben.

Die Erhaltungsverordnung kann für zwei Einsatzbereiche verwendet werden:

Vorsorge (vor einem deutlichen Anstieg der Verkaufsintensität von Immobilien in einem Gebiet)

Nachsorge (zur Sicherung von Gebieten, die aus der Sanierung entlassen werden)

In aller Regel wird mittels einer Untersuchung zur Überprüfung der Anwendungsvoraussetzungen für eine Erhaltungsverordnung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB zum einen der Nachweis erbracht, dass für das untersuchte Gebiet ein Aufwertungsdruck und ein Aufwertungspotential besteht und von diesen baulichen Faktoren eine Verdrängungsgefahr für die Gebietsbevölkerung ausgeht. Zum Anderen gilt es zu ermitteln, ob die Gebietsbevölkerung, vom Kriterium der städtebaulichen Entwicklung des Gebiets gesehen, eine erhaltenswerte Zusammensetzung aufweist und auf das Wohnungs- und Infrastrukturangebot sowie das soziale Umfeld „ihres" Wohngebiets angewiesen ist.

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass gebietsspezifische Wechselbeziehungen zwischen physischen, soziokulturellen und sozioökonomischen Strukturen bestehen.

Rechtliche Grundlagen

Die wesentlichen rechtlichen Grundlagen für den Milieuschutz sind in § 172 BauGB (Erhaltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebieten) geregelt. Darin heißt es: „1) Die Gemeinde kann in einem Bebauungsplan oder durch eine sonstige Satzung Gebiete bezeichnen, in denen ...

2. zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsänderung baulicher Anlagen der Genehmigung bedürfen...."

4) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 darf die Genehmigung nur versagt werden, wenn die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus besonderen städtebaulichen Gründen erhalten werden soll..."

Zum 1. Januar 1998 ist im Rahmen der Novellierung des BauGB eine Neufassung des § 172 in Kraft getreten. Es sind zwei Punkte in den Gesetzestext aufgenommen worden, die für den Erlass und die Durchführung der Verordnung von wesentlicher Bedeutung sind:

Der Gesetzgeber ermächtigt die Landesregierungen, im Rahmen einer Rechtsverordnung die Bildung von Sondereigentum (Wohnungseigentum und Teileigentum gemäß § 1 des Wohnungseigentumgesetzes) unter Genehmigungsvorbehalt zu stellen. Die Geltungsdauer der Rechtsverordnung ist auf fünf Jahre begrenzt.

Für Gebiete, in denen die Bevölkerungsstruktur erhalten werden soll (Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 „Milieuschutz"), wird festgelegt, dass eine Genehmigung auch dann zu erteilen ist, wenn „die Änderung einer baulichen Anlage der Herstellung des zeitgemäßen Ausstattungszustands einer durchschnittlichen Wohnung unter Berücksichtigung der bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen dient".

Für den Satzungsvollzug ist der im zweiten Punkt aufgeführte Fall von Bedeutung, da eine Genehmigung für die Herstellung des zeitgemäßen Ausstattungszustands nicht versagt werden darf.

Es ist allerdings weder im Gesetzestext, noch im Beratungsverfahren des Gesetzgebers oder in den angesprochenen bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen eindeutig festgelegt worden, was zum zeitgemäßen Ausstattungszustand gehört. Insbesondere wurde nicht geregelt, ob die Verhältnisse im gesamten Geltungsbereich des Gesetzes, also in der Bundesrepublik Deutschland, ausschlaggebend sind oder ob regionale Bedingungen für die Festlegung eines zeitgemäßen Ausstattungszustandes herangezogen werden müssen. Da die bisherige Gesetzesauslegung stets auf die besonderen Bedingungen im Erhaltungsgebiet abgestellt hat, ist eine entsprechende Übertragung auf den novellierten Text sinnvoll. Demnach ist zu überprüfen, welche Wohnverhältnisse im Erhaltungsgebiet oder einem Gebiet mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur und vergleichbaren sozialen Verhältnissen gegeben sind, um den zeitgemäßen Ausstattungszustand im Sinne der jeweiligen Erhaltungsverordnung zu definieren.

Tatbestandliche Voraussetzung für eine Milieuschutzverordnung Voraussetzung für den Erlass einer Milieuschutzverordnung ist gemäß §172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Absatz 4 Satz 1 BauGB, dass die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus besonderen städtebaulichen Gründen erhalten werden soll.

Hiermit im Zusammenhang stehen können folgende Aspekte: Probleme der öffentlichen und privaten Infrastruktur

Wenn in einem gewachsenen Gebiet die kommunale Infrastruktur auf eine bestimmte Bevölkerungsstruktur zugeschnitten ist (Schule, Kita, ÖPNV, Grünflächen etc.), so kann es durch eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur dazu kommen, dass diese Infrastruktur nicht mehr richtig genutzt wird. Damit werden an einer Stelle der Stadt kommunale Investitionen entwertet, während sie an einer anderen Stelle wahrscheinlich neu erstellt werden müssen. Gleichzeitig bestehen gerade in Gebieten mit einkommensschwacher Bevölkerung häufig soziale Netze gegenseitiger Unterstützung und Nachbarschaftshilfe und starke Bindungen an den Stadtteil, die dazu beitragen, wirtschaftliche Nachteile zu kompensieren. Solche Strukturen werden durch Verdrängung und Abwanderung leicht zerstört und lassen sich an einem anderen Ort nicht ohne weiteres reproduzieren. Um ihre Funktion zumindest teilweise zu ersetzen, müsste die Gemeinde Unterstützung in Form von kommunalen Institutionen und Sozialarbeit bereitstellen. Die Erhaltung solcher informellen Nachbarschaftsstrukturen kann daher ein städtebaulich legitimes und wünschenswertes Ziel sein.

Probleme der Wohnungsversorgung Große Teile der Bevölkerung sind insbesondere in Ballungsgebieten auf preisgünstigen Wohnraum angewiesen.

In den Bestandswohnungen aus den Jahren vor 1918 finden sich häufig relativ günstige Bedingungen der Wohnungsversorgung mittlerer und unterer Einkommensschichten. Miethöhe, Wohnungsgröße, Ausstattung und Wohnumfeld sind auf die vorhandene Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zugeschnitten. Das gilt im Kern auch dann noch, wenn die Erhaltung der Bausubstanz bisher vernachlässigt wurde und die Bauten nunmehr modernisierungs- und instandsetzungsbedürftig sind oder das Wohnumfeld verbesserungsbedürftig ist. Die Beseitigung der Bestandswohnungen durch den Abbruch der Bausubstanz oder deren Umbau ist nur dann städtebaulich unproblematisch, wenn es in der Praxis gelingen kann, die relativ günstigen Bedingungen der Wohnungsversorgung mit vertretbarem Aufwand an anderer Stelle zu reproduzieren.

Negative Folgen für andere Stadtquartiere

Die Verdrängung aus einem Stadtteil kann auch zu nachteiligen Auswirkungen in anderen Stadtteilen führen. So können durch Zuzug verdrängter Bevölkerungsgruppen in anderen Stadtteilen Verdrängungs- oder Segregationsprobleme ebenso entstehen wie neue Anforderungen an die Infrastruktur. Die besonderen städtebaulichen Gründe für eine Milieuschutzverordnung können also auch in den Auswirkungen auf andere Stadtgebiete liegen, sie müssen nicht unbedingt im untersuchten Gebiet selbst Probleme verursachen.

Für die Begründung einer Milieuschutzverordnung ist es ausreichend, einen Verdrängungsprozess mit den daraus erwachsenden städtebaulichen Problemen prognostizieren zu können.

Milieuschutz trotz Erneuerungsbedarfs?

Modernisierungsmaßnahmen werden nur insoweit eingeschränkt, wie sie die vorhandene Bevölkerungsstruktur gefährden. Der Erneuerungsumfang und das -tempo müssen sich demzufolge danach richten, wie die vorhandene Bevölkerung in der Lage ist, diese Maßnahmen ­ auch finanziell ­ zu verkraften.

Erfahrungen in Städten mit langer Anwendungspraxis Erhaltungssatzungen werden in Westdeutschland überwiegend für den Schutz gewachsener Bevölkerungsstrukturen eingesetzt.

Bei städtebaulichen Missständen werden vorrangig Stadterneuerungsmaßnahmen an Stelle von Erhaltungssatzungen eingesetzt.

Nach zögerlichem Beginn sind Milieuschutzsatzungen in den Großstädten inzwischen vermehrt erlassen worden. In München, der Stadt mit den meisten Erhaltungssatzungsgebieten, wohnen ca. 210 000 Einwohner in Satzungsgebieten. Dies entspricht ca. 1/6 der Gesamtbevölkerung Münchens und zeigt, dass es als ein flächenhaftes Instrument angewendet werden kann.

Die Stadt Nürnberg zieht in einem Erfahrungsbericht u. a. das Fazit: „... dass Erhaltungssatzungen durch die Überwachung von Modernisierungstätigkeiten und die Ausübung von Vorkaufsrechten einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung preisgünstigen Wohnungsbestandes geleistet haben, ohne jedoch notwendige Instandhaltungen und maßvolle Verbesserungen zu verhindern. Die stabilisierende Wirkung der Satzungen auf Wohngebiete, die die städtebaulichen Voraussetzungen erfüllen, ist durch die empirische Überprüfung dieser Strukturen ebenso hinreichend belegt, wie die Tatsache, dass ein milieugerechter Wechsel in der Bevölkerung (Mobilität) in Satzungsgebieten durchaus stattgefunden hat."

2. Milieuschutz in Berlin

Im Vergleich zu anderen (west-)deutschen Großstädten hat Berlin das Instrument Milieuschutz erst relativ spät eingesetzt.

Das erste Berliner Milieuschutzgebiet wurde 1991 im Bezirk Tiergarten ausgewiesen. Als nächstes Gebiet folgte zwei Jahre später der Huttenkiez im gleichen Bezirk. Seit 1995 haben auch andere Berliner Bezirke Milieuschutzgebiete festgesetzt, um ein zusätzliches Steuerungsinstrument für die Gebietsentwicklung zu erhalten.

In Westberlin wurden bisher durchweg Wohngebiete unter Schutz gestellt, die eine gründerzeitliche städtebauliche Struktur und hohe Anteile an Altbausubstanz haben. Die Gebiete haben ebenso Defizite in der städtebaulichen Struktur als auch erhebliche Anteile von Haushalten mit sozialen und ökonomischen Problemen.

Ihre Schutzwürdigkeit resultierte daher auch weniger aus einer idealen, problemfreien Gesamtstruktur, sondern aus der Anpassung der städtebaulichen Struktur an die besonderen Bedürfnisse der Bewohner und aus dem speziellen Angewiesensein der Bevölkerung auf ihr Wohngebiet.

Die Wohngebiete im Ostteil der Stadt, die als Erhaltungsgebiet mit Milieuschutz festgesetzt sind oder für die ein Aufstellungsbeschluss existiert, ähneln in ihrer städtebaulichen Struktur den Westberliner Pendants. Ihre Sozialstruktur entspricht aber immer noch, trotz hoher Fluktuation in den neunziger Jahren, weitgehend der entsprechenden Struktur Ostberlins. Demzufolge wird die gemischte Sozialstruktur in diesen Gebieten selbst als städtebauliche Qualität im Sinne des Baugesetzbuches anerkannt, weil sie eine kontinuierliche und gleichmäßige Nutzung der Stadt ohne temporäre Anpassungsprobleme verspricht.

Milieuschutzgebiete nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB in Berlin

Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es in Berlin 15 festgesetzte Milieuschutzgebiete, 9 Gebiete mit Aufstellungsbeschluss und für 1 Gebiet wurden vorbereitende Untersuchungen eingeleitet.