Situation des Sachverständigenwesens

Ich frage den Senat:

1. Wie beurteilt der Senat die Bedeutung des Sachverständigenwesens für das Rechts- und Wirtschaftsleben Berlins?

2. Wie viele Sachverständige oder Sachkundige sind in Berlin von welchen Behörden oder Körperschaften des öffentlichen Rechts auf welchen Gebieten öffentlich bestellt und vereidigt oder sonst berufen?

3. Ist der Senat der Auffassung, dass die Zahl der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen und der berufenen Sachkundigen ausreicht, um den wachsenden Bedarf des Wirtschafts- und Rechtsleben nach Rat und Gutachten von Sachverständigen und Sachkundigen zu befriedigen?

4. Hält der Senat die Entschädigung der Sachverständigen und Sachkundigen für ausreichend?

5. In welchem Umfang und aus welchen Prozeßbereichen fallen Sachverständigenentschädigungen der Landeskasse zur Last?

6. Wie beurteilt der Senat die zunehmende Zersplitterung des deutschen Sachverständigenwesens u. a. a) nach europäischen Normen zertifizierte Sachverständige,

b) nach der Gewerbeordnung öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige,

c) nach deutschem Recht berufene Sachkundige,

d) nach dem Umweltauditgesetz zugelassene Umweltgutachter,

e) nach europäischem und deutschem Recht vorgesehene Anerkennung von Prüf- und Zertifizierungsstellen durch das deutsche Institut für Bautechnik,

f) nach Bauordnungsrecht der Länder von den Obersten Bauaufsichtsbehörden anerkannte Prüfsachverständige,

g) von den gewerblichen Berufsgenossenschaften ermächtigte Sachverständige,

h) staatlich zugelassene Sachverständige der ehemaligen DDR und

i) nach dem Grundsatz der Berufs- und Gewerbefreiheit aus eigener Machtvollkommenheit tätige freie Sachverständige?

7. Welche Konzeption hat der Senat zur Überwindung der Zersplitterung im Sachverständigenwesen?

8. Ist dem Senat bewußt, dass gleichwertige Sachverständigenleistungen mal der Gewerbesteuer unterliegen und mal von dieser befreit sind, je nachdem ob der Sachverständige eine handwerkliche oder eine wissenschaftliche Vorbildung besitzt?

Hält der Senat diese Unterscheidung für sinnvoll?

9. Wie steht der Senat zur Zertifizierung von Sachverständigen durch Akkreditierungsstellen?

Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgt diese Zertifizierung?

10. Wie steht der Senat zu der von der Bundesregierung angestrebten Öffnung von Prüfmonopolen im Bereich der technischen Überwachung?

Im Namen des Senats von Berlin beantworten wir Ihre Kleine Anfrage wie folgt:

Zu 1.: Der Tätigkeit der Sachverständigen kommt nach Auffassung des Senats im Rechts- und Wirtschaftsleben Berlins eine große Bedeutung zu. Sowohl die Handwerkskammer Berlin (HwK) als auch die Industrie- und Handelskammer zu Berlin (IHK) verweisen insoweit auf hohe Fallzahlen bei den Gutachtenaufträgen, wobei allein die IHK die hierauf gerichteten Anfragen auf monatlich ca. 300 bis 400 beziffert. Schwerpunkte der Sachverständigentätigkeit bilden insbesondere die Feststellung und Bewertung von Bau- und Kraftfahrzeugschäden und ­ seit Wiederherstellung der Deutschen Einheit ­ die Bewertung von Liegenschaften.

Zu 2.: Seitens der HwK sind zur Zeit 213, seitens der IHK 244 Sachverständige jeweils für ca. 60 bis 70 Sachgebiete (von Augenoptik bis Zweirad) öffentlich bestellt und vereidigt. Die Berufung weiterer Sachverständiger durch andere Institutionen tritt zahlenmäßig deutlich zurück, wobei wir davon ausgegangen sind, dass sich die Anfrage insoweit nicht auf so unumstrittene Bereiche wie die amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr oder öffentlich bestellte Vermessungsingenieure bezieht.

Zu 3.: Die Frage, ob die Zahl der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen ausreicht, ist nicht eindeutig zu beantworten.

In den Schwerpunktbereichen (insbesondere Kraftfahrzeug- und Bauschäden) wäre angesichts des gestiegenen und weiterhin steigenden Bedarfs eine höhere Zahl von öffentlich bestellten Gutachtern wünschenswert, in anderen Bereichen (die IHK nennt beispielsweise Schmuck, Briefmarken, Fahrräder) ist deren Zahl als ausreichend anzusehen. Unabhängig davon ist die Zahl von öffentlich bestellten Sachverständigen nicht beliebig vermehrbar, da neben der Bereitschaft zur Übernahme der Sachverständigenfunktion auch die Befähigung und besondere Sachkunde hierfür gegeben sein müssen.

Zu 4.: Der Senat geht davon aus, dass die Vergütung von Sachverständigenleistungen ­ soweit sie überhaupt öffentlich-rechtlicher Einflußnahme zugänglich ist ­ unbeschadet gelegentlich erforderlicher Anpassungen an Preis- und Kostenentwicklungen insgesamt ausreichend ist. Die IHK weist in diesem Zusammenhang allerdings auf die Diskrepanz zwischen den nach dem „Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZSEG)"1 zu entschädigenden Gerichtsgutachtern und den Honoraren für Privatgutachter hin, die grundsätzlich nach der erbrachten Leistung bezahlt werden. Die IHK spricht sich demgemäß in Übereinstimmung mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag für eine Novellierung des ZSEG aus, mit dem Ziel der Anhebung der Höchstsätze sowie der Einführung echter Leistungsvergütungen anstelle des bisher geltenden Entschädigungsprinzips. Ob der Bundesgesetzgeber jedoch in diesem Sinne tätig wird, ist derzeit noch völlig offen.

Zu 5.: Konkrete Angaben hierzu sind nicht möglich, da die Frage der Kostentragungspflicht regelmäßig abhängig ist vom jeweiligen Verfahrensausgang. Im Zivilprozeß werden die Verfahrenskosten regelmäßig der unterlegenen Partei auferlegt. Im Bußgeldverfahren etwa gehören die nach dem ZSEG zu zahlenden Entschädigungen für Sachverständige zu den Auslagen des Verfahrens, die mit dem Bußgeldbescheid regelmäßig dem Betroffenen auferlegt werden. Wird das Verfahren dagegen ohne Bescheid eingestellt oder der Betroffene im gerichtlichen Verfahren freigesprochen, hat die öffentliche Hand die Verfahrenskosten einschließlich ihrer Auslagen zu tragen.

1 In der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 1969 (BGBl. I S. 1756), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni 1994 (BGBl. I S. 1325)

Zu 6.: Die Vielfalt des Sachverständigenwesens ist zum einen Ausdruck der gewachsenen Bedeutung dieser Berufsgruppe, gerade auch mit Blick auf den technischen Fortschritt. Zum anderen kommt darin auch die gewachsene Spezialisierung und Internationalisierung der Rechtssysteme zum Ausdruck, da unseren europäischen Partnern häufig die öffentliche Bestellung von Sachverständigen unbekannt ist, uns dagegen die dort vorherrschende Zertifizierung bislang fremd war.

Zu 7.: Die Vielfalt im Sachverständigenwesen der Bundesrepublik entspricht der Vielzahl unterschiedlichster Lebensbereiche, in denen Sachverständige auf völlig heterogene wirtschaftliche und technische Sachverhalte treffen, die jeweils eigenständige und spezifische Qualifikationen erfordern. Das gilt aber gleichermaßen auch für die Sachkunde und Problemnähe der jeweils zur Bestellung berufenen Institution. Der Senat sieht keinen aktuellen legislativen Änderungsbedarf, wobei ohnehin ganz überwiegend der Bundesgesetzgeber gefordert wäre. Der Senat vertraut statt dessen auf die Bereitschaft und Fähigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften, bei der Sachverständigenberufung enger zusammen zu arbeiten. So hat die IHK mitgeteilt, dass gemeinsam mit den brandenburgischen IHKs sowie mit den Architektenkammern Berlins und Brandenburgs, der Baukammer Berlin und der brandenburgischen Ingenieurkammer erfolgversprechende Gespräche mit dem Ziel einer Kooperationsvereinbarung geführt wurden. Auch die Handwerkskammern Berlins und Brandenburgs unterhalten einen Arbeitskreis mit dem Ziel der Vereinheitlichung des Sachverständigenwesens.

Zu 8.: Der Umstand, dass Sachverständigenleistungen teilweise der Gewerbesteuer unterworfen und teilweise von dieser befreit sind, hat seine Ursachen in der Systematik des Einkommensteuerrechts. Diese steuerliche Unterscheidung ist nach Auffassung des Senats jedoch für die Situation des Sachverständigenwesens ohne Belang, da die Qualität und Akzeptanz der gutachtlichen Äußerung allein auf der besonderen Sachkunde für das Aufgabengebiet der Bestellung und nicht von der steuerlichen Einordnung abhängt.

Zu 9.: Das System der Akkreditierung und Zertifizierung beruht mit Ausnahme z. B. des Umweltauditgesetzes2 nicht auf gesetzlicher Regelung, sondern auf EN-DIN-Normen der Normenreihe 45 000 ff., die von der Europäischen Normsetzungs-Institution beschlossen und vom Deutschen Institut für Normung übernommen wurden. Angesichts der Tatsache, dass bei unseren europäischen Partnern die „öffentliche Bestellung" weitestgehend unbekannt ist, die Zertifizierung durch anerkannte Akkreditierungsstellen dagegen einen hohen Stellenwert hat, erhöht die (zusätzliche) Zertifizierung eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen die Akzeptanz dessen gutachtlicher Aussagen im europäischen und internationalen Rechts- und Wirtschaftsverkehr.

Die Handwerkskammer Berlin weist im übrigen als Mitglied des Instituts für Sachverständigenwesen e. V. (IfS) darauf hin, daß die vom IfS gegründete Zertifizierungsgesellschaft für Sachverständige mbH (IfS-Zert) inzwischen von der Trägergemeinschaft für Akkreditierung GmbH (TGA) als Zertifizierungsstelle im Bereich „Kfz-Sachverständige für Schäden und Bewertung" nach der europäischen Norm DIN EN 45 013 akkreditiert worden ist.

Zu 10.: Der Senat hat keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Übertragung von (öffentlichen) Prüfaufgaben im Bereich der technischen Überwachung auf entsprechend qualifizierte öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige, wenn und soweit dies ohne Beeinträchtigung bisheriger Sicherheitsstandards und ohne Risiken für deren Kontinuität möglich ist.

Eine Ausnahme bildet der Bereich der technischen Überwachung von Straßenfahrzeugen auf der Grundlage der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO)3. Hier besteht ein geregelter Bereich. Bis 1989 oblag die Durchführung der gesetzlichen vorgeschriebenen Fahrzeuguntersuchungen grundsätzlich den amtlich anerkannten Sachverständigen und Prüfern für den Kraftfahrzeugverkehr der Technischen Prüfstellen. Durch die 8. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 24. Mai 19894 wurde dieses Prüfmonopol geöffnet. Einer weiteren Übertragung steht Ziffer 4.2 in Verbindung mit Ziffer 7 der Anlage VIII zu § 29 StVZO entgegen, wonach ein Tätigwerden von Sachverständigen in diesem Bereich nur im Rahmen von amtlich anerkannten Überwachungsorganisationen möglich ist.

Eine Marktsättigung ist hier bereits erkennbar.

Eine weitere Öffnung des Prüfmonopols in dem geregelten Bereich der Fahrzeugüberwachung könnte das System der Technischen Prüfstellen für den Kraftfahrzeugverkehr gefährdet erscheinen lassen; dieses ist jedoch nach der Zielsetzung der StVZO ausdrücklich zu erhalten.

Eine Änderung der StVZO im Sinne der weiteren Marktöffnung ist nicht opportun, da die Erfahrungen der seit 1989 bestehenden Rechtslage ergeben haben, dass die Erweiterung ungünstigen Einfluß auf die Qualität der technischen Fahrzeugüberwachung haben kann; zur Zeit wird im Wege der Gesetzesänderung versucht, drohende Qualitätseinbußen auszuschließen.