Konfliktlotsen- und Streitschlichtermodell an Berliner Schulen als Beitrag zur Gewaltprävention

Die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport legt nachstehende Mitteilung dem Abgeordnetenhaus zur Besprechung vor:

Das Abgeordnetenhaus hat in seiner Sitzung am 1. Februar 2001 Folgendes beschlossen: „Der Senat wird aufgefordert, dem Abgeordnetenhaus bis zum 30. April 2001 über das Modell für den Einsatz von Konfliktlotsen an Berliner Schulen und seine Bedeutung für die Förderung sozialer Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen und damit für eine gewaltfreie Berliner Schule zu berichten, die Perspektiven dieses Modells darzustellen und dabei besonders die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:

- Entwicklung und Stand des Konfliktlotsenmodells, insbesondere die Beteiligung der Schulen sowie der Lehrkräfte und Sozialpädagogen an der Mediatoren- und Multiplikatorenausbildung,

- die schulischen Rahmenbedingungen für eine effektive Durchführung des Konfliktlotsenmodells,

- Ausbildung und Einsatz von Schüler(inne)n als Konfliktlotsen bei der Konfliktbewältigung,

- Kosten der Ausbildung als Mediatoren und Multiplikatoren sowie der Arbeit in den Schulen,

- Einbeziehung der Arbeit in den Schulstationen und Schülerklubs sowie von freien Trägern.

Hierzu wird berichtet:

1. Entwicklung und Stand des Konfliktlotsenmodells

Im Rahmen der Erziehungsaufgabe der Schule, Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten für den demokratischen Alltag zu vermitteln und ihre sozialen Kompetenzen so zu fördern, dass sie in ihrem Lebensfeld eigenverantwortlich handeln können, hat Mediation als non-direktes Verfahren der Konfliktlösung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Mediation dient der Deeskalation von Streitfällen mit dem Ziel, Konflikte im Konsens zu lösen und durch Interessenausgleich Regelungen für einen gleichberechtigten Umgang miteinander zu finden. Im Kontext dieses Verfahrens werden Gewalt und gewalttätige Auseinandersetzungen nicht nur verbal geächtet, sondern Konflikte werden auch als Lernchance zur Entwicklung eines Klimas der Verantwortung und Sicherheit begriffen. Mediation eröffnet in der Schule und im Schulumfeld eine neue Dimension demokratischen Handelns und der Verantwortungsübernahme.

Die prozesshafte Einführung von Mediation in der Berliner Schule erfolgte seit 1992 zunächst durch Fortbildungsangebote des Pädagogischen Zentrums (heute: Landesinstitut für Schule und Medien „LISuM") für Lehrkräfte sowie Sozialpädagogen.

Basierend auf den Erfahrungen mit entsprechenden Konzepten aus dem angelsächsischen Bereich (Frau Walker aus den USA, Frau Dr. Mikley aus dem Nordirlandkonflikt) wurde ein auf die spezifischen Bedürfnisse der Berliner Schule ausgerichtetes Mediationsmodell entwickelt.

1993 nahm das damalige Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung und Schulentwicklung (BIL) das Projekt in die AG „Gewaltfreie Schulkultur" auf. Von 1994 bis 1999 erfolgte die weitere Unterstützung des Projektes Deeskalation/Mediation durch das Sonderprogramm „Jugend mit Zukunft" mit insgesamt ca. 106 000 DM. 1993/94 bildete O. Hagedorn erstmals in Deutschland Schülersprecher(innen) der 6. Klasse als Konfliktlotsen aus. Nach der einjährigen Erprobung des „Konfliktlotsenmodells" wurde es an zwei Schulen (der Annedore-Leber-Grundschule in Tempelhof und der Schule am Teutoburger Platz im Prenzlauer Berg) erfolgreich eingeführt. Orientiert an basic-needs (A. Maslow, 1978) entstanden erste didaktische Materialien (O. Hagedorn, PZ 1995).

Die positiven Erfahrungen mit dem Einsatz der Konfliktlotsen ermutigte in den folgenden Jahren Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Mediation in der Schule auch auf der Ebene der Altersgleichen zu erproben. Nach und nach setzen auch Oberschulen Konfliktlotsen ein. Zurzeit gibt es an 62 Berliner Schulen Konfliktlotsengruppen.

Seit 1992 buchen jedes Jahr ca. 120 Lehrkräfte und Erzieher(innen) Einführungsveranstaltungen zum Thema Mediation, die Kollegien an den Schulen bildeten sich durch Konferenzvorträge und Studientage fort, sodass heute mindestens 1 000 Pädagogen Grundkenntnisse über die Arbeit mit dem Konfliktlotsenmodell besitzen.

Die Anzahl der auf einem höheren Niveau qualifizierten Multiplikator(inn)en nahm ebenfalls zu, 1998/99 beteiligten sich z. B. ca. 50, 1999/2000 ca. 80 Schulpädagogen an einem Schulmediationslehrgang (50 Stunden). Darüber hinaus nahmen ca. 40 Lehrkräfte an bundesweiten Tagungen mit Experten des „Außergerichtlichen Tatausgleichs" (TOA), des Jugendstrafvollzugs und der Kriminalpolizei teil. Zur Praxisbegleitung der Konfliktlotsentrainer und -trainerinnen entstanden vier regionale Interventionsgruppen, die monatliche „Fallberatungen" durchführen.

2. Die schulischen Rahmenbedingungen für eine effektive Durchführung Mediation ist eine besondere soziale Fertigkeit, die sich vor allem in praktischer Tätigkeit erwerben lässt. Dazu bedarf es eines intensiveren Trainings und darüber hinaus einer qualifizierten Praxisbegleitung. Die bisher mit Mediationsangeboten eingerichteten vier Schulstationen sind in ihrer Wirksamkeit als Praxisbegleiter anerkannt und werden sehr häufig in Anspruch genommen. Die Sicherung der pädagogischen Kontinuität dieser Angebote hat auch zukünftig einen hohen Stellenwert für die Mediationsarbeit.

Um die Tätigkeit ihrer Konfliktlotsengruppe effektiv zu gestalten, haben sich viele Schulen in Berlin um entsprechende Rahmenbedingungen bemüht. Dazu gehören z. B.:

1. ein für die Streitschlichtung durch Schülerlotsen aufgeschlossenes Kollegium,

2. das Bereitstellen eines Konfliktlotsenraumes, um eine geschützte Verhandlungsumgebung zu gewährleisten,

3. die Organisation von Arbeitsgemeinschaften oder

4. das Bereitstellen von Stunden für die betreuenden Lehrkräfte. Angesichts knapper Haushaltsmittel sind für die Bereitstellung von wünschenswerten zusätzlichen Lehrerstunden (AG, Aufgaben der Betreuung von Konfliktlotsen) nur schul- bzw. bezirksinterne Lösungen möglich.

Zur Entwicklung des Mediationsprofils einer Schule zeichnen sich u. a. folgende Ansätze ab:

Im Vorfachlichen Unterricht der Klassen 2 bis 4 erfolgt das Einüben demokratischer Grundfertigkeiten, etwa als Morgenkreis, regelmäßiger Klassenrat (1 « pro Woche), als spielerisches soziales Training mit Kommunikations-, Interaktionsübungen, als Ämterübernahme mit feed-back aus der Gemeinschaft der Altersgleichen, als Mediation auch in der Klasse und als Facilitation bei Gruppenkonflikten.

In den Klassen 1 und 2 werden Störungen und Beeinträchtigungen des Zusammenlebens vorrangig behandelt. Ab Klasse 3 und 4 können sie auf einen Klassenratstermin verschoben oder schriftlich bearbeitet werden. Eine Schulstation mit qualifiziertem Personal kann als niedrigschwelliger Anlaufort für die Lösung von besonderen Problemen und Konflikten dienen.

1 Über die anzeigepflichtigen Übergriffe hinaus, halten die Pädagogen auch familienergänzende Angebote gemäß § 1631 Abs. 2 BGB bereit (u. a. bei Bindungsmangel, Vernachlässigung, Gewalt in der Familie). 1 Ab Klasse 5 können Schülerinnen und Schüler in ausgewiesenen Unterrichtszeiten (im Rahmen des WUV oder als Angebote in AGs) an einem Lehrgang als Konfliktlotsen teilnehmen. In Klasse 6 kommen sie zum Einsatz und werden von Schulmediator(inn)en begleitet. AG-Angebote dienen der Übung zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, zur fairen Kommunikation, zur Mitverantwortung und zur Einführung in rechtsstaatliche Regelungen.

1 In Klasse 7 bieten Projekte, die den Bezug mit Fremdheit, interkulturelle Erfahrungen, Gerechtigkeit, Mediation, Rechtsprechung, Gemeinschaftsregelungen und Mitverantwortung an der Schule thematisieren, eine weitere Qualifizierung. Diese erfolgt z. T. in peer-education durch Schülervertreter(innen) und Konfliktlotsen. An Sonder- und Hauptschulen entstanden Schulstationen, in der Schulmediatoren und Konfliktlotsen zusammenwirken.

1 Ab Klasse 8 trainieren Konfliktlotsen in Projektwochen und/ oder AGs. Sie arbeiten weitgehend selbständig. In schwierigen Fällen arbeiten erwachsene Schulmediatoren mit Konfliktlotsen oder Schülervertreter(inne)n im Sinne von just community zusammen. Gesamtschulen nutzen die Kerngruppenstunden für soziales Training, andere Schulen führen die Klassenlehrerstunde wieder ein.

1 Mit dem Hinweis auf die Tätigkeit von Konfliktlotsen/Streitschlichtern im neuen Rahmenplan Sozialkunde wird die Bedeutung der vermittelnden Konfliktlösung in der Oberschule erstmalig ausdrücklich betont.

3. Ausbildung und Einsatz

Das als „Multiplikatorennetz" angelegte Fortbildungskonzept für Mediation soll weitere Lehrkräfte und Sozialpädagog(inn)en und damit implizit Schüler und Schülerinnen entsprechend qualifizieren.

Lehrkräfte und Sozialpädagogen

Durch die seit 1992 geförderte Einführung der Mediation und der Konfliktlotsen an Berliner Schulen erfolgte stufenweise eine Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Konfliktlotsenkonzepts.

Die Ausbildung der Mediatoren/Multiplikatoren und Konfliktlotsen findet in einem engen Zusammenhang statt und besteht aus einem Stufenprogramm.

1. Informationsveranstaltungen

- für ganze Kollegien im Rahmen von Konferenzen oder an Studientagen

- für Interessierte als ausgeschriebene Veranstaltung des LISuM

2. Fortbildungskurse des LISuM mit unterschiedlichen Qualifikationsstufen

- Einführungsworkshops oder Einführungsbeispiele

- Fallübungen und Beratung zum Schul-TOA (TäterOpfer-Ausgleich)

3. Theorie-Praxis-Lehrgang (50 Stunden)

4. Praxisbegleitende „Fallberatung"

5. Erweiterungsangebote und Tagungen

6. Lehrerhandreichungen zur praxisbegleitenden Qualifizierung, Interaktion/Kooperation/Kommunikation z. B.

- Umgang mit Gewalt (Mücke, Korn; 2000)

- Von Fall zu Fall (Hagedorn, 2000)

Konfliktlotsen

Nach statistischen Auswertungen eskalieren Querelen und Beschimpfungen besonders bei Schülern und Schülerinnen im Alter von 13 bis 16 Jahren. Inzwischen gibt es an 62 Berliner Schulen (23 Grundschulen, 10 Hauptschulen, 5 Realschulen, 15 Gesamtschulen und 9 Gymnasien) Konfliktlotsen. Die Gruppen bestehen aus 5 bis 15 sozialintegrativ begabten, interessierten Schülerinnen und Schülern oder gewählten Schülervertretern bzw. -vertreterinnen und werden durch entsprechend ausgebildete Lehrkräfte und Sozialpädagogen prozessorientiert begleitet.

Die vier Interventionsgruppen, die monatlich eine „Fallberatung" durchführen, sind Ansprechpartner für die Konfliktlotsen. Da Fallberatungen wegen ihres hohen Praxisbezugs als besonders effektiv bewertet werden, ist zu prüfen, wie dieser Ansatz erweitert werden kann.

Im Rahmen der Multiplikatorenschulungen wurde die Arbeit mit Konfliktlotsen evaluiert und festgestellt, dass

- sich mit der gemeinsamen Verantwortungsübernahme der beiden Generationen bei Konfliktfällen (Lehrkräfte/Schülerschaft) das Schulklima spürbar verbessert und eine Atmosphäre der Sicherheit, der Offenheit und des Respekts entsteht;

- an den Oberschulen die Streitbeteiligten die Vermittlung durch Gleichaltrige gegenüber Erwachsenen bevorzugen;

- bei Schülerinnen und Schülern, die häufig durch Konflikte lotsen, die Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere die Fähigkeit, moralisch zu urteilen und zu handeln) gefördert wird;

- für die Ausstattung der Konfliktlotsen und ihres Verhandlungsraums zum Teil Sponsoren aus dem Schulumfeld gewonnen werden können.

Im Schuljahr 98/99 fand das 1. Berliner Konfliktlotsentreffen mit 100 Grundschülern und im Schuljahr 99/2000 das 2. Konfliktlotsentreffen mit über 350 Oberschülern statt. Die Konfliktlotsen berichteten, wie sie intervenieren, sich trainieren und Mediation durchführen. Sie erhielten eine Urkunde zur Anerkennung ihrer Tätigkeit und fanden öffentliche Beachtung in den Medien. Mit den Treffen wird das erfolgreiche Engagement der Schülerinnen und Schüler ausdrücklich positiv bewertet. Zur organisatorischen Unterstützung des nächsten Treffens wurden deshalb die notwendigen Mittel eingeplant.

4. Kosten der Ausbildung als Multiplikatoren bzw. als Schülerkonfliktlotsen Kosten entstehen bei der Finanzierung der zentralen Angebote zur Qualifizierung der Multiplikator(inn)en und der schulinternen Arbeit zur Entwicklung und Begleitung der Konfliktlotsengruppen vor Ort (siehe 2. Die schulischen Rahmenbedingungen).

Für die Informationen und Fortbildung der jährlich im Durchschnitt ca. 120 Lehrkräfte, Sozialpädagogen u. Erzieher(innen) in den zentralfinanzierten Einführungsveranstaltungen, den Vorträgen für Kollegien, den Studientagen sowie für die weiterführende Ausbildung in Mediation im LISuM (50-Stunden-Kurse) stellte die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport seit 1998 46 Lehrer-Stunden, 42 000 DM Honorarmittel und 7 250 DM für sonstige Kosten zur Verfügung. Diese Mittel sind auch für 2001 geplant. Bisher wurde ein Teil der Honorarmittel für Fremdanbieter genutzt. Für die Prozessberatung vor Ort werden jedoch vorwiegend schulerfahrene Moderatoren und Moderatorinnen benötigt, die aber noch auszubilden sind.

Für pädagogische Maßnahmen investieren einige Schulen aus ihrem Deputat für 2 Lehrkräfte je 2 Stunden zur Unterstützung der Konfliktlotsen-Arbeitsgemeinschaft. Darüber hinaus investieren sie je nach Größe und sozialem Standort von 2 « 4 bis zu 2 « 8 Lehrerstunden zur Durchführung von schulischem TäterOpfer-Ausgleich bei Straftaten, wenn die Schule als Gemeinwesen betroffen ist.

Soweit keine schulischen Ressourcen zur Ausbildung von Konfliktlotsen zur Verfügung standen, konnten einzelne Schulen auch das Angebot von Jugendtrainern mit einem Streitschlichterprogramm für ein Anfangstraining ihrer Jugendlichen in Anspruch nehmen. Das LISuM vermittelte zum Teil für die Kostenübernahme Sponsoren.

5. Einbeziehen der Arbeit in den Schülerclubs sowie von freien Trägern

In den ca. 60 Schülerclubs an der Berliner Schule hat die Schulleitung laut Rundschreiben II Nr. 94 vom 9. Mai 1994 das Hausrecht und entscheidet damit über die schulinterne Kooperation.

Je nach Bedarf und Qualifikation der einzelnen Mitarbeiter(innen) kann sie festlegen, ob das Mediationszentrum bei den Lehrkräften, im AG-Bereich, in den Schulstationen oder im Schülerclub angesiedelt wird. Freie Träger können zur Unterstützung der Arbeit ebenfalls einbezogen werden.

Um außerschulische Ressourcen einzubeziehen, hat die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport z. B. auch die Berliner Frauenfraktion e. V. bei der Erarbeitung des Handbuches für Trainingsangebote zur Konfliktbearbeitung/Streitschlichtung mit dem Titel „Mischt euch da nicht ein ­ Mädchen und Jungen bearbeiten ihre Konflikte selbst" unterstützt und diese Broschüre im Juli 1999 den Schulen zur Verfügung gestellt.

Da die Nachfrage sehr groß war, wird zurzeit geprüft, ob eine Aktualisierung des Handbuchs möglich ist.

Der Senat von Berlin hat bei dem „Ausschuss für Bildungsplanung" der Bund-Länder-Kommission die Durchführung eines länderübergreifenden Förderprogramms „Demokratie lernen und leben" angeregt mit dem Ziel, auf der Grundlage von Forschungsergebnissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen die unterschiedlichen Ansätze zur Demokratieerziehung in den Schulen und entsprechende Vernetzungssysteme zu evaluieren. Das Konzept dieses Programms wird auf einer länderübergreifenden Fachtagung am 3. bis 5. Mai 2001 in Berlin vorgestellt.

Wir bitten, den Beschluss damit als erledigt anzusehen.