JVA

1. Allgemeine Überlegungen zu den neuen Prognoseinstrumenten:

In den letzten Jahren wurden von verschiedenen Forschungsgruppen - schwerpunktmäßig im nordamerikanischen Raum Prognoseskalen mit dem Ziel entwickelt, die Risikoeinschätzung bei Gewalt- und Sexualstraftätern zu verbessern. Es handelt sich bei diesen Skalen um Kriterienkataloge nach Art von Checklisten, die auf der Grundlage aktueller empirischer Forschungsbefunde konstruiert wurden. In die Skalen finden jene Einflussfaktoren Eingang, die für das Rückfallrisiko statistisch von Relevanz sind. Die Prognoseinstrumente bieten den Vorteil der Überschaubarkeit und sind ohne großen methodischen Aufwand durchzuführen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Prognoseskalen derzeit noch nicht in einer psychometrisch abgesicherten Form verfügbar sind, die den wissenschaftlichen Standards genügen, die etwa bei den gängigen psychologischen Testverfahren angelegt werden. Der Wert von Prognoseskalen liegt vielmehr darin, dass mit ihnen verbindliche Instrumente zur Verfügung stehen, die als Ergänzung und Korrektiv zum klinischen Bild dienen und bei der Risikoabwägung eine statistische Dimension in die Überlegungen einbeziehen. Prognoseinstrumente gewährleisten zudem, dass für eine Risikoeinschätzung systematisch alle potenziell prognoserelevanten Faktoren bearbeitet werden. Dies rundet den Prozess der Prognosestellung ab und wirkt einer verfrühten Festlegung auf Arbeitshypothesen entgegen. Mit der Verwendung von Prognoseskalen erübrigt sich aber keineswegs die sorgfältige klinische Untersuchung nach forensischpsychiatrischen bzw. -psychologischen Grundsätzen, genau genommen sind sie erst zusammen mit dieser richtig anwendbar.

2. Inhaltliche Grundlagen der derzeit praktizierten Lockerungs- und Urlaubsprüfungen im Justizvollzug und im Maßregelvollzug Erwartungsgemäß haben der Justizvollzug (hier die Sozialtherapeutische Anstalt und der Psychologische Dienst der Justizvollzugsanstalt Tegel) und der Maßregelvollzug voneinander unabhängig sehr differenzierte, komplexe und entsprechend zeitaufwendige Entscheidungsverfahren entwickelt, die mit Ausnahme einiger klienteltypischer Besonderheiten weitgehend konvergent sind. Die Verfahren lassen sich durch eine Reihe hintereinander geschalteter formaler und inhaltlicher Filter charakterisieren, die jeder Klient vor einer Lockerungsentscheidung passieren muss. Einerseits bedient man sich dabei des Sachverstands unterschiedlich zusammengesetzter Gremien, die jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln einen Lockerungskandidaten auf sein Sozial- und Kriminalverhalten hin überprüfen. Andererseits werden dabei regelmäßig diverse testdiagnostische Verfahren und weitere Beurteilungsverfahren zur Prognoseabschätzung und -absicherung beigezogen.

2.a) Inhaltliche Grundlagen der Lockerungsprüfung im Justizvollzug (Sozialtherapeutische Anstalt und Psychologischer Dienst der JVA Tegel)

­ Im aktualisierten Bericht des Gruppenleiters/Behandlers (Vollzugsplanfortschreibung) wird über den Stand der Vollzugsplanung informiert. Der Bericht enthält Aussagen zur prognostischen Einschätzung des Sozial- und Kriminalverhalten.

­ Die gutachterliche Stellungnahme durch den Psychologischen Dienst einer Anstalt erfolgt auf der Grundlage einer umfassenden eigenen Untersuchung eines Inhaftierten. Sie beinhaltet eine Risikoeinschätzung auf der Grundlage der relevanten Dimensionen zur Prüfung der klinischen Prognose kriminellen Verhaltens (vgl. Rasch 1999 und Dahle 1997, 1999), ggf. eine klinische Diagnose (nach den Internationen Klassifikationsschemata für psychische Störungen ICD 10 bzw. DSM IV).

­ Prognoseskalen HCR-20 bzw. bei Sexualdelinquenten SVR-20 dienen der Vorhersage von Gewalttaten (HCR-20) bzw. sexuellen Gewalttaten (SVR-20). Sie liegen in adaptierter deutscher Übersetzung der kanadischen Originalversion vor. Wissenschaftliche Grundlage dieser Ratingskalen sind jeweils 20 Bewertungskriterien aus verschiedenen prognoserelevanten Bereichen (Kriminogenese, gegenwärtiges klinisches Bild, zukünftiges Risikomanagement bzw. psychosoziale Anpassung, Sexu4 aldelinquenz, Zukunftspläne) auf der Basis gesicherter empirischer Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen den einzelnen Merkmalen und delinquentem Rückfall.Beurteilungsbogen AVD (allgemeiner Vollzugsdienst)", den die Stationsbeamten bearbeiten. Es ist dies ein hausintern entwickeltes Ratinginstrument, das alle interessierenden Beurteilungsbereiche (beobachtbares Verhalten auf der Station, Einschätzungen zur Persönlichkeit etc.) in formalisierter und standardisierter Form erfasst und die Stationsbeamten zu einer differenzierten Beobachtung und gemeinsamen Falldiskussion anregen soll.

­ Beim „Beurteilungsbogen Rückfallrisiko" handelt es sich um eine modifizierte Version der Skalen von Dittmann (2000). In diesem Instrument werden für jeden Inhaftierten statistisch abgesicherte prognoserelevante Merkmalsbereiche systematisch und detailliert in zehn unterschiedlichen Dimensionen (Analyse der Anlasstaten, bisherige Kriminalitätsentwicklung, Persönlichkeit, Einsicht in die Störung, soziale Kompetenz, Konfliktverhalten, Tatauseinandersetzung, Therapiemöglichkeiten und ­bereitschaft, sozialer Empfangsraum bei Lockerungen und bisheriger Vollzugsverlauf) erfasst. Ihr besonderer Wert liegt darin, dass Problembereiche leicht identifiziert werden können, was sowohl eine differenzierte Behandlungsplanung, als auch eine standardisierte Verlaufskontrolle ermöglicht.

2.b) Inhaltliche Grundlagen der Lockerungsprüfung im Krankenhaus des Maßregelvollzugs

­ Vom zuständigen Therapeuten wird ein aktualisierter Behandlungs- und Eingliederungsplan des Patienten erstellt. Er dokumentiert in einer komprimierten, teilstandardisierten Form Informationen zur Biografie, der forensischen und Krankheitsvorgeschichte, Hypothesen zur Kernproblematik, den bisherigen Behandlungsverlauf, die aus der Gesamtanalyse abgeleiteten therapeutischen Maßnahmen sowie die Rahmenbedingungen, die zur Erreichung der Therapieziele erforderlich sind.

Die folgenden standardisierten diagnostischen und prognostischen Instrumentarien sind feste Bestandteile dieses Behandlungsplans:

· Diagnostische Einordnung nach den Achsen des DSM IV, modifiziert nach ICD 10

· Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) für Patienten mit Psychosen

· Gießen-Test (Selbst-, Idealselbst- und Fremdeinschätzung) für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen (der GießenTest ist ein standardisiertes psychologisches Testverfahren, das der Erfassung relevanter Persönlichkeitsmerkmale dient)

· HCR-20 +3 für alle Patienten

· SVR-20 für Sexualdelinquenten

­ Die „Observative Verlaufskontrolle der Lockerungsmaßnahmen" (OVL) enthält alle Eintragungen über besondere Ereignisse im Behandlungsverlauf des Patienten, die für die Entscheidung über Lockerungen von Relevanz sind. Beurteilungen von Bezugspflege sowie Leistungsbeurteilungen von Ergotherapie/Arbeit/Ausbildung werden erfasst. Bei Patienten, die bereits Lockerungen erhalten, wird das Verhalten der Patienten während der Lockerungen beschrieben. Bei Entweichung eines Patienten ist zudem ein "Entweichungsbogen" (unmittelbar nach der Entweichung) sowie ein „Rückkehrerbogen" (unmittelbar nach der Rückkehr) auszufüllen. Diese Instrumente sind hausinterne Entwicklungen, die den besonderen Erfordernissen des KMV Rechnung tragen.

­ Beim „Beurteilungsbogen Rückfallrisiko" handelt es sich um eine leicht modifizierte Fassung der Skalen von Dittmann.

3. Aktueller Stand der Nutzung der neuen Prognoseinstrumente bei der Lockerungsprüfung im Maßregel- und im Strafvollzug

Wie in den Kapiteln 2 a) und 2 b) dargestellt, finden die Kriterienbögen HCR-20 und SVR-20 sowie die von Dittmann publizierte „kriterienorientierte strukturierte Risikokalkulation" bereits im Justiz- und im Maßregelvollzug Anwendung. Im KMV wurden die Instrumente vor einigen Jahren, in der SothA erst vor wenigen Monaten implementiert.

Die Statistiken zu den Vollzugslockerungsund Urlaubsentscheidungen belegen unabhängig von dem Einführungsdatum der neuen Messinstrumente - mit durchgängig guten Ergebnissen die Effektivität der praktizierten Prognostik im Maßregel- und im Strafvollzug. Bei den hier in Rede stehenden Sexualstraftätern ist ein einschlägiger Rückfall bei Lockerungs- und Urlaubsmaßnahmen ein besonders schwerwiegender Fall einer Fehlprognose. Dieser „Gau" ist bei Rückverfolgung der letzten 5 Jahre im Maßregelvollzug einmal (Exhibitionismus), das sind 0,007 % aller ca. 15.000 Maßnahmen, in der Sozialtherapeutischen Anstalt ebenfalls einmal (sexueller Missbrauch von Kindern), das sind 0,01 % aller 8.236 Maßnahmen, eingetreten.

4. Schlussfolgerungen

Die Prognostik zur Risikoabschätzung vor Lockerungs- und Urlaubsmaßnahmen hat nach den vorliegenden Erkenntnissen ein hohes Niveau erreicht. Die neuen Verfahren zur Absicherung der Verhaltensvoraussage bei Sexual- und Gewaltstraftätern sind im KMV, in der SohtA und im PsychD der Justizvollzugsanstalt Tegel eingeführt worden, sodass keine weiteren Verbesserungsvorschläge für die genannten Einrichtungen unterbreitet werden können.

Für den Justizvollzug sollten aber die Standards aller mit Prognoseentscheidungen befassten Psychologen überprüft und ggf. entsprechend nachgebessert werden.

Ein weitergehender Bedarf wird aber im Bereich der Qualitätssicherung und bei der Handhabung der Prognoseskalen gesehen:

­ Im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen müssen die zuständigen Berufsgruppen im Umgang mit den aktuellen Prognoseinstrumenten geschult und trainiert werden.

­ Die Einhaltung vorgegebener Standards und der Verbesserungsbedarf sind regelmäßig zu überprüfen.

­ Die Effizienz der Lockerungsprüfverfahren sollte über Forschungsprojekte überprüft werden.

III. Einführung von kognitiv-behavioralen Therapieverfahren zur Verbesserung der Effektivität von Behandlungsmaßnahmen im Justizvollzug und im Maßregelvollzug

Im 3. Zwischenbericht wurde über die unterschiedliche Effektivität von Therapieverfahren bei Sexualstraftätern und anderen schwierigen Deliktgruppen berichtet und dabei die Sonderstellung der kognitiv-behavioralen Behandlungsmethoden in Wissenschaft und Forschung dargestellt. Auf dieser Erkenntnisgrundlage verständigte sich die Arbeitsgruppe darauf, die im Justiz- und im Maßregelvollzug praktizierten Behandlungskonzepte unter besonderer Beachtung der neuen Therapieprogramme zu überprüfen.

Bereits die Stichtagserhebung vom 20. Juni 2001 (siehe 3. Zwischenbericht) gibt diesbezüglich eine eindeutige Antwort:

Die deliktspezifischen Therapien nach kognitiv-behavioralem Muster haben sowohl im Justizvollzug als auch im Maßregelvollzug Eingang gefunden. Im Justizvollzug lag ihr Anteil bei der Behandlung von Sexualstraftätern im Jahre 2001 mit 35 % bereits 4 x höher als noch zwei Jahre zuvor. Im Maßregelvollzug wurden diese Verfahren um Jahre früher eingeführt und finden dort bei 40 % der Sexualstraftäter Anwendung.

Die Arbeitsgruppe vertritt bezüglich der Bedeutung der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Spezialprogramme folgende Auffassung:

Die neuen Therapieverfahren haben ihre Stärke bei der Behandlung spezifischer Gruppen