Jugendamt

193Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Kindeswohl häuslichen und sozialen Situation der Familie und/oder beim Erscheinungsbild des Kindes festgestellt werden, ist der Fall in der Hilfeplankonferenz zu beraten.

3.322 Eine akute Gefährdung durch Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung liegt vor Liegt eine akute Gefährdung für das Kind vor, sind die notwendigen Schritte der Herausnahme und Inobhutnahme des Kindes unverzüglich einzuleiten und das Familiengericht einzuschalten. Erscheint die Anwendung des unmittelbaren Zwangs notwendig, ist die Polizei hinzuziehen.

Anrufung des Familiengerichts Grundsätzlich ist das Familiengericht anzurufen, wenn dies zur Abwehr einer Gefährdung des Wohls des Kindes erforderlich ist (§ 50 Abs. 3 SGB VIII). Die Grundlage bilden hier die Einschätzung und Bewertung der fallverantwortlichen Fachkraft zur häuslichen und sozialen Situation der Familie, zum Erscheinungsbild und dem Verhalten des Kindes und zum Kooperationsverhalten und den Ressourcen der Eltern oder des erziehenden Elternteils sowie die Risikoeinschätzung bezogen auf die vier Fragen Gewährleistung des Kindeswohls, Problemakzeptanz, Problemkongruenz und Hilfeakzeptanz (siehe 3.2).

Die Einschaltung des Familiengerichts erscheint auch in den Fällen angezeigt, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls zwar noch nicht zweifelsfrei angenommen werden kann, jedoch verschiedene Verdachtsmomente auf eine konkrete Gefährdung hinweisen oder wenn sich die Situation der Familie und die Bereitschaft der Eltern zur Mitwirkung als labil darstellt und vor diesem Hintergrund eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls angenommen werden kann.

Vor einer Anrufung des Familiengerichts hat sich die fallverantwortliche Fachkraft im kollegialen Team zu beraten und die/den nächste/n Vorgesetzte/n zu informieren.

Eil-Fälle sind unverzüglich mit einer/einem Vorgesetzten zu beraten und entsprechende Hinweise sowie Anträge sind per Fax dem Familiengericht zur Entscheidung zu übermitteln.

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Kindeswohl

Dokumentation

Eine standardisierte Dokumentation

· der Einschätzung und Bewertung der Lebensbedingungen der Familie und der Entwicklung des Kindes,

· der Risikoeinschätzung zur konkreten Gefährdung des Kindes sowie

· der Beratungs- und Hilfeprozesse dient der Überprüfbarkeit des Falls und der Einhaltung der vorgegebenen Standards durch die Leitung und ist die Grundlage für die weitere Arbeit in der Familie, insbesondere auch bei Abwesenheit der zuständigen Fachkraft für die Vertretungskraft und bei einem Zuständigkeitswechsel für die nachfolgende Fachkraft (hierzu siehe unten 3.6).

Aus der Dokumentation ergibt sich:

· die Fallaufnahme und der Entscheidungsverlauf ab Bekanntwerden des Hilfebedarfs bis zum Einsetzen einer Hilfe,

· die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Beteiligten und mehreren Fachkräften über Art, Umfang und Notwendigkeit der Leistung,

· die Faktenlage bei der Risikobetrachtung und die Bewertungen zur Risikoeinschätzung,

· eine eigene Darstellung der Überlegungen und Entscheidungen zum konkreten Schutzkonzept für das Kind und über die getroffenen Vereinbarungen einschließlich der Darstellung konkreter Zielschritte und Zeitperspektiven.

Sofern eine Hilfe zur Erziehung für voraussichtlich längere Zeit einzuleiten ist, wird die Dokumentation Gegenstand des Hilfeplans. Sollten sich innerhalb der vereinbarten Fristen nennenswerte Abweichungen von der Hilfeplanung ergeben oder sich die Situation dramatisch verschlechtern, ist auch eine neue Bewertung des Schutzkonzepts vorzunehmen und die hierbei gefundenen Erkenntnisse sind zu dokumentieren.

Fallabgabe und Fallübernahme durch Zuständigkeitswechsel

Die abgebende Fachkraft hat die Fallübergabe an die übernehmende Fachkraft so zu gestalten, dass sich die übernehmende Fachkraft darauf verlassen kann, alle relevanten Informati5

Siehe hierzu auch die beiden als Anlage beigefügten Dateien zum Dokumentationsverfahren des Jugendamts Recklinghausen.

195Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Kindeswohl onen, insbesondere solche erhalten zu haben, die die Möglichkeit einer zukünftigen Kindeswohlgefährdung nahe legen.

Vor der Abgabe des Falls, gleichgültig ob dafür eine Karteikarte, eine Erziehungshilfeakte oder eine Familien/Vormundschaftsgerichtsakte angelegt worden ist, ist deswegen ein zusammenfassender Sachstandsvermerk anzufertigen. Dieser hat besondere Probleme bzw. Konflikte zu kennzeichnen und Aspekte kenntlich zu machen, die bei der Zusammenarbeit mit der Familie zu beachten sind.

Bei Verdacht auf Kindesvernachlässigung oder Kindesmisshandlung sind die entsprechenden Anhaltspunkte und Einschätzungen besonders hervorzuheben. Für die Transparenz der Darstellung ist die abgebende Fachkraft verantwortlich.

Grundsätzlich muss ein persönliches Fallübergabegespräch zwischen der bisher zuständigen und der künftig zuständigen Fachkraft stattfinden. Die/der Dienstvorgesetzte der fallübernehmenden Fachkraft bestätigt durch Unterschrift die Kenntnisnahme des zusammenfassenden Sachstandsvermerks.

Ist ein Übergabegespräch nicht möglich, weil z. B. die betreffenden Familien den Jugendamtsbezirk verlassen und ein anderes Jugendamt zuständig wird, so ist der zusammenfassende Sachstandsvermerk dem zuständigen Jugendamt umgehend in doppelter Ausfertigung zuzusenden und in einem Telefongespräch der neu zuständigen Fachkraft zu erläutern. Über dieses Gespräch ist eine kurze Niederschrift zu fertigen, vom fallabgebenden Jugendamt dem nunmehr zuständigen Jugendamt zuzuleiten und vom zuständigen Jugendamt gegenzuzeichnen und dem abgebenden Jugendamt wieder zurückzuschicken.

Leistungserbringung durch einen Träger der freien Jugendhilfe

Wird nach Leistungsgewährung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Leistung durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht, setzt dies eine Leistungsvereinbarung voraus, die stets auch Vereinbarungen über Handlungspflichten des freien Trägers zum Schutz des Kindes beinhaltet.

Mit der Vereinbarung über Handlungspflichten des freien Trägers zum Schutz des Kindes entsteht eine eigene Garantenstellung der leistungserbringenden Fachkraft als Beschützergarantin aus Pflichtenübernahme.