Belegungssituation

Belegungssituation seit 1990:

Seit 1990 ist die Zahl der Gefangenen in Berlin überproportional gestiegen. Eine verstärkte Banden- und organisierte Kriminalität, der Zustrom illegaler Ausländer, erhöhte Gewaltbereitschaft und die neue Metropolensituation führten und führen dazu, dass die Anzahl der Straftaten, Verurteilungen und Inhaftierungen kontinuierlich und signifikant angestiegen ist. Am 9. März 2005 betrug bei einer Gesamtbelegungsfähigkeit von 5.020 Haftplätzen (ohne Krankenhausbetten) die tatsächliche Gesamtbelegung 5.350 Gefangene, von denen sich 81 im Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten befanden.

Es ist daher nicht anzunehmen, dass der kontinuierliche Anstieg der Gefangenenanzahl in Zukunft auf hohem Niveau lediglich stagnieren wird. Seit 1994 lässt sich ein jährlicher Anstieg der Durchschnittsbelegung in den Justizvollzugsanstalten des Landes Berlin um ca. 3 % im Mittel feststellen.

Daneben ist zu beobachten, dass die Straflängen insbesondere bei Männern seit 1995 erheblich zugenommen haben. So hat sich beispielsweise die Anzahl der Insassen, die eine Freiheitsstrafe von zwei bis fünf Jahren verbüßen, von rund 500 im Jahr 1990 auf über 1.100 im Jahr 2002 mehr als verdoppelt. Dies führt folglich zu einer längeren Verweildauer im gesamten Strafvollzug und trägt damit entscheidend zum gegenwärtigen Belegungsdruck bei.

Die Senatsverwaltung für Justiz ist der wachsenden Überbelegung mit vielfältigen Maßnahmen begegnet. So sind im geschlossenen Männervollzug seit 1990 insgesamt 265 neue Haftplätze geschaffen worden und zwar

· 229 Haftplätze durch die Nutzung der früheren Justizvollzugsanstalt für Frauen am Standort Charlottenburg (1998) und

· 36 Haftplätze in der Sozialtherapeutischen Anstalt (SothA II) in der JVA Tegel (2003).

Zudem sind 80 Haftplätze im Jugendvollzug für jugendliche Untersuchungsgefangene am Standort Kieferngrund (1997) in Betrieb genommen worden.

Die letzte bauliche Erweiterung im geschlossenen Männervollzug liegt in Berlin bereits sieben Jahre zurück.

Im offenen Männervollzug wurden in demselben Zeitraum insgesamt 573 zusätzliche Haftplätze eingerichtet, und zwar

· 131 Haftplätze im Haus 4 der JVA Plötzensee (1995),

· 240 Haftplätze in der JVA Heiligensee (1998),

· 32 Haftplätze durch den erweiterten Neubau der JVA Hakenfelde (1998) und

· 170 Haftplätze in der Nebenanstalt Kisselnallee der JVA Hakenfelde (2001).

Daneben sind Maßnahmen zur Haftvermeidung ausgebaut worden. Dazu gehört vor allem die Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit (Programm „Arbeit statt Strafe"). So wurden durch Vermittlung der Sozialen Dienste der Justiz und zweier freier Träger (Straffälligen- und Bewährungshilfe e. V. und Freie Hilfe e. V.) im Jahr 2004 139.691 Tagessätze, also rund 383 Jahre Haft, durch freie Arbeit getilgt, was einer entsprechenden Anzahl von Hafttagen entspricht. Hätten diese Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt werden müssen, wären hierfür im Jahr 2004 383 zusätzliche Haftplätze im offenen Vollzug erforderlich gewesen.

Aufgrund dieser Haftvermeidungsmaßnahmen konnten Gefangene aus dem geschlossen Vollzug, die sich für den offenen Vollzug eigneten, in offene Anstalten verlegt werden. Allerdings war die Zahl der für den offenen Vollzug geeigneten Gefangenen nicht so hoch, dass sich daraus eine spürbare Entlastung für den geschlossenen Vollzug ergeben hätte.

Ferner wurden befristete Entlastungsmaßnahmen, wie der jährliche Sammelgnadenerweis aus Anlass des Weihnachtsfestes, verfügt, die aber nur kurzzeitig Wirkung entfalteten.

Trotz all dieser Maßnahmen konnte die Überbelegung in den Justizvollzugsanstalten nicht behoben werden. In den Berliner Justizvollzugsanstalten des geschlossenen Männervollzugs befanden sich bei einer Belegungsfähigkeit von 3.060 Haftplätzen am 9. März 2005 tatsächlich 3.345 Gefangene. Mithin waren 285 Gefangene, das entspricht rund 9 % der Gesamtbelegung im geschlossenen Männervollzug, über der Belegungsfähigkeit untergebracht. Besonders dramatisch stellt sich die Belegungssituation für die beiden großen Justizvollzugsanstalten Tegel und Moabit dar. So war die Justizvollzugsanstalt Tegel am 9. März 2005 bei einer Belegungsfähigkeit von 1.571 Haftplätzen tatsächlich mit 1.698 Gefangenen belegt und damit zu 108 % belegt. Die Justizvollzugsanstalt Moabit war bei einer Belegungsfähigkeit von 1.067 Haftplätzen tatsächlich sogar mit 1.

Gefangenen belegt und damit zu 116 % belegt. In beiden Anstalten mussten teilweise Gruppen- und Diensträume als Hafträume genutzt und einzelne Hafträume mit Zustimmung der Gefangenen doppelt und in einzelnen Fällen sogar mehrfach belegt werden.

Die momentane Überbelegungssituation ist vor dem Hintergrund der seit dem 11. Februar 2005 angeordneten vollstreckungsrechtlichen Notmaßnahme gemäß § 455 a StPO zu sehen (s. dazu unten Pkt.1.3), die sich bereits entlastend ausgewirkt hat.

Bis zum 9. März 2005 ist aufgrund dieser Maßnahme die Vollziehung der Freiheitsstrafen für insgesamt 220 Gefangene unterbrochen worden. Um ein objektives Bild von der Belegungssituation zu bekommen, ist die Anzahl der aufgrund dieser Maßnahme entlassenen Verurteilten (220 Gefangene) auf die tatsächliche Belegungszahl (5.350) zu addieren.

Hierbei wird deutlich, dass ohne die vollstreckungsrechtliche Notmaßnahme die tatsächliche Belegung aufgrund des kontinuierlich anhaltenden Gefangenenaufwuchses am 9. März 2005 bei einer Gesamtbelegungsfähigkeit im Berliner Justizvollzug von 5.020 Haftplätzen (ohne Krankenhausbetten) 5.570 Gefangene betragen hätte, was einer Belegung von 111 % entsprochen und damit den bisherigen Jahreshöchststand vom 9. Februar 2005 nochmals deutlich übertroffen hätte.

Weitere Verschärfung der Belegungssituation durch die Rechtsprechung

Am 16. Juni 2004 erging unter dem Az. 5 Ws 212/04 Vollz ein Beschluss des Kammergerichts (in der Anlage beigefügt), in dem festgestellt wurde, dass die Unterbringung eines Gefangenen in einem doppelt belegten Haftraum in der Teilanstalt III in der Justizvollzugsanstalt Tegel rechtswidrig war.

Diese Mehrfachbelegung verstoße gegen die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung des Art. 3 EMRK, da die Toilette nicht baulich abgetrennt und gesondert entlüftet sei und der vorhandene Schamvorhang weder hinreichenden Sichtnoch Geruchsschutz böte, so dass bei Benutzung der Toilette durch einen Gefangenen in unzumutbarer Weise mangels Rückzugsmöglichkeit in die Intimsphäre aller in dem Haftraum untergebrachten Gefangenen eingegriffen werde. Dies gelte unabhängig von der Dauer der Unterbringung. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 27. Februar 2002 unter dem Aktenzeichen 2

BvR 553/01 einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bejaht, weil dem betroffenen Strafgefangenen ein doppelt belegter Einzelhaftraum ohne bauliche Abtrennung und Entlüftung zugewiesen war.

Am 3. März 2005 waren in Berlin nach Maßgabe dieser Entscheidung 232 Gefangene menschenunwürdig untergebracht. Im einzelnen befanden sich 202 Gefangene in 101 Einzelhafträumen in Doppelbelegung und 30 Gefangene in 10 Doppelhafträumen in Dreifachbelegung. Würden diese 111 vorhandenen Hafträume zur Beseitigung menschenunwürdiger Unterbringung jeweils mit einem Gefangenen belegt, so müssten, um die verbleibenden 121 Gefangenen menschenwürdig unterzubringen, kurzfristig 121 Haftplätze neu geschaffen werden. Zudem besteht Handlungsbedarf, weil sich das Land Berlin potentiellen Schadenersatzklagen von menschenunwürdig untergebrachten Gefangenen ausgesetzt sieht. Bisher sind diesbezüglich noch keine Klagen gegen das Land Berlin anhängig; es sind jedoch neun Anträge auf Prozesskostenhilfe gestellt worden, von denen bisher vier ablehnend beschieden wurden. Es liegen aber bereits Entscheidungen von Gerichten anderer Bundesländer vor. Das LG Hamburg hat in einem Beschluss vom 22. Mai 2003 (Az. 303 O 28/03) einem Strafgefangenen Prozesskostenhilfe gewährt, da dessen beabsichtigte Klage auf Gewährung von Schmerzensgeld wegen der Unterbringung mit je einem weiteren Gefangenen in einem 8 m² großen Haftraum ohne abgetrennte Toilette dem Grunde nach Aussicht auf Erfolg habe. Das LG Karlsruhe hat in einer Entscheidung vom 13. Juli 2004 (Az. 2

O 1/04) einem ehemaligen Untersuchungsgefangenen wegen der Unterbringung mit einem anderen Gefangenen in einem 8,89 m² großen Haftraum ohne abgetrennte Toilette ein Schmerzensgeld in Höhe von 200,00 je Woche wegen der menschenunwürdigen Unterbringung zugesprochen.

Der Verein der Leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Justizvollzug des Landes Berlin e. V. (LMJ) hat in seinen Schreiben an die Senatorin für Justiz vom November 2004 und Januar 2005 und in nachfolgenden Gesprächen eindringlich auf die verfassungswidrige Unterbringung von Gefangenen im Berliner Justizvollzug hingewiesen und erklärt, dass der Vorwurf der Verletzung der Menschenwürde bei der Ausübung ihres Amtes für die Berliner Anstaltsleiter unerträglich sei. Jeder für die rechtswidrige Unterbringung verantwortliche Bedienstete des Landes Berlin mache sich möglicherweise eines - fortgesetzten - Pflichtverstoßes schuldig. Gemäß § 22 Abs. 1 Landesbeamtengesetz trägt jeder Beamte für die Rechtmäßigkeit seiner dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung. Dieser Verantwortung können sich die betroffenen Beamten im vorliegenden Fall auch nicht gemäß § 22 Abs. 2 LBG durch die Geltendmachung ihrer Bedenken beim Vorgesetzten bzw. nächsthöheren Vorgesetzten entziehen, da das ihnen aufgetragene Verhalten, die gemeinsame Unterbringung von Gefangenen in Hafträumen ohne abgetrennte Toilette, nach der Rechtsprechung des Kammergerichts die Menschenwürde verletzt.

Wegen der Überbelegung der Justizvollzugsanstalten des geschlossenen Männervollzugs können erwachsene männliche Straftäter nach ihrer rechtskräftigen Verurteilung nicht aus der JVA Moabit als Untersuchungshaftanstalt in Strafanstalten des geschlossenen Männervollzugs verlegt werden. Am

9. März 2005 verbüßten von den insgesamt 1.237 in der JVA Moabit untergebrachten Gefangenen 44 % (= 544 Gefangene) Freiheitsstrafen und 25 Gefangene Ersatzfreiheitsstrafen. Deshalb stehen insgesamt 569 Haftplätze für Untersuchungsgefangene nicht zur Verfügung.

Neben der menschenunwürdigen Unterbringung durch Mehrfachbelegungen von Hafträumen ohne baulich abgetrennte und gesondert entlüftete Toilette erfolgt seit mehreren Jahren eine rechtswidrige Unterbringung von Gefangenen im Berliner Justizvollzug. § 18 Abs. 1 StVollzG schreibt vor, dass Gefangene während der Ruhezeit allein in ihren Hafträumen unterzubringen sind. Wegen der hohen Belegungsszahlen werden in der Teilanstalt V zz. 23 Gefangene und der Teilanstalt VI zz. 56 Gefangene der JVA Tegel sowie in der JVA Charlottenburg zz.

Gefangene zur Ruhezeit entgegen § 18 Abs. 1 StVollzG nicht allein untergebracht. Die Unterbringung dieser 121 Gefangenen ist deshalb rechtswidrig, weil diese Anstalten nach dem 1.1.1977 errichtet wurden und deshalb die solche Mehrfachbelegungen rechtfertigende Übergangsregelung des § 201 Nr. 3 StVollzG nicht greift.