Migration

Nach den in einer Anhörung vor dem Ausschuss für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen des Abgeordnetenhauses von Berlin am 24. November 2004 mitgeteilten Erfahrungen der Berliner Kriseneinrichtung Papatya waren dort in den Jahren 2002 bis 2004 40, 38 bzw. 52% der dort Schutz suchenden Mädchen und jungen Frauen von Zwangsheirat betroffen. Von diesen waren in den genannten Jahren 60, 50 bzw. 44 % minderjährig. Im Jahr 2002 sollten 56 % der Hilfe suchenden Frauen einen Cousin heiraten; im Jahr 2003 waren es 50 %. Die Schutz suchenden Frauen kommen aus der Türkei, aus arabischen Ländern (Libanon, Syrien, Palästina, Jordanien, Irak, Marokko, Tunesien, Ägypten, Iran, Somalia, Aserbeidschan, Pakistan, Sri Lanka), verschiedenen afrikanischen Ländern, aber auch aus Albanien und Serbien. Außerdem sind Roma nach den Erfahrungen von Papatya von Zwangsheirat betroffen.

2. Formen und Gründe der Zwangsheirat

Bei Zwangsheiraten lassen sich drei unterschiedliche Erscheinungsformen unterscheiden:

a) Für in Deutschland lebende Migranten werden Mädchen und junge Frauen aus dem Heimatland geholt, um sie hier zu heiraten (so genannte „Importbräute"). Diese Ehen sind regelmäßig das Ergebnis von Vereinbarungen zwischen der in Deutschland lebenden (Teil-)Familie des Mädchens und der Familie des Mannes im Ausland.

Meistens kennen sich die Familien schon lange, weil sie entweder zum selben Verwandtschaftskreis gehören oder aber aus demselben Dorf stammen. Die aus den Herkunftsfamilien nach Deutschland verheirateten Frauen sind in einer besonders schwachen Position, wenn sie aus ihrer Ehe ausbrechen wollen. Sie haben einen auf die Wohnung und Familienbesuche beschränkten Bewegungsspielraum und haben auf Grund ihrer kaum vorhandenen Sprachkenntnisse fast keine Möglichkeit Hilfe zu holen. Daneben sehen sich viele durch ihren unsicheren vom Bestand der Ehe abhängigen Aufenthaltsstatus gezwungen, in der für sie unzumutbaren Ehe auszuharren.

b) Die Zweite Erscheinungsform der Zwangsheirat ist die der Heiratsverschleppung.

Junge Mädchen werden im Heimatland ihrer Familien, wo sie üblicherweise die Ferien verbringen, verlobt und dann verheiratet, ohne vorher darüber informiert worden zu sein. Die Mädchen bleiben dann gegen ihren Willen im Ausland und dienen oft als kostenlose Arbeitskraft im bäuerlichen Milieu im Herkunftsland.

c) Bei der dritten Form der Zwangsheirat wird eine Frau ihres gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland wegen ­ häufig während des Urlaubs im Heimatland ihrer Familien ­ von ihrer eigenen Familie einem noch im Ausland lebenden Landsmann versprochen, um diesem im Rahmen des Ehegattennachzugs die legale Einwanderung nach Deutschland zu ermöglichen. Auch hier wird die Vereinbarung zwischen den Familien der zukünftigen Ehegatten getroffen, ohne dass die Frau hiervon in Kenntnis gesetzt oder gar nach ihrem Einverständnis gefragt worden wäre.

Motivation für Zwangsverheiratungen ist neben dem Wunsch der Eltern, ihre Töchter „gut versorgt" zu sehen, oft auch das Bedürfnis, die Töchter zu disziplinieren, die mit wachsendem Alter dem Einfluss ihrer Eltern zu entgleiten drohen. Durch die Zwangsverheiratungen im Rahmen von Großfamilien ­ häufig werden Frauen mit ihren Cousins verheiratet ­ werden die traditionellen Machtverhältnisse gestärkt und der Einfluss der Familie auf die Entwicklung ihrer Kinder gesichert. In manchen Fällen kommt auch ein finanzieller Aspekte in Form eines Brautpreises hinzu.

3. Ausmaß der Zwangsheirat Deutschlandweit gibt es keine gesicherten Daten zur Anzahl von Fällen der Zwangsheirat. Eine im Jahr 2003 durchgeführte Erhebung des Berliner Senats bei über fünfzig Einrichtungen und Projekten aus dem Jugend-, Migrations- und Anti-GewaltBereich ergab, dass diese Einrichtungen und Projekte im Jahr 2002 in ca. 220 Fällen von Zwangsverheiratungen aufgesucht worden sind. Die Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung (agisra) e.V. in Köln, wurde im Jahr 2002 von 17 Frauen, im Jahr 2003 von 21 Frauen und 2004 von 49 Frauen aus Köln und Umgebung in Fällen von Zwangsheirat um Unterstützung gebeten. Das Wohnprojekt Rosa in Stuttgart berichtet, dass monatlich durchschnittlich zehn Mädchen bzw. Frauen wegen Zwangsverheiratung um Schutz nachsuchen. Aufgrund der Schwierigkeiten der Betroffenen aus ihren Familienzusammenhängen herauszutreten und Hilfe zu suchen, dürfte die Dunkelziffer jedoch beträchtlich sein.

4. Zwangsheirat als Menschenrechtsverletzung

Durch die Zwangsverheiratung werden das Recht der Betroffenen auf selbstbestimmte Heirat, persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit und ihre Menschenwürde verletzt. Die Zwangsheirat verstößt gegen Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes, der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Eheschließungsfreiheit, also das Recht jedes Menschen, die Ehe mit einem selbst gewählten Partner einzugehen, schützt (BVerfGE 31, 58, 67; 76, 1, 42; 105, 313, 342).

Daneben wird das Recht auf freie Eheschließung und selbstbestimmte Partnerwahl durch Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und Artikel 12 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt und garantiert.

Die Zwangsheirat wurde auf der Folgekonferenz zur 4. UN-Weltfrauenkonferenz im Jahr 2000 in New York erstmals international als eine Form der Gewalt gegen Frauen verurteilt und als Menschenrechtsverletzung anerkannt. Die Empfehlung Nummer 21 des UN-Komitees zur Abschaffung aller Formen der Diskriminierung von Frauen (Convention on the elimination of all forms of discrimination against women CEDAW) besagt: „Das Recht, einen Partner zu wählen und eine Heirat freiwillig einzugehen, ist von zentraler Bedeutung für das Leben einer Frau, für ihre Würde und Gleichberechtigung als menschliches Wesen."

5. Rechtliche Defizite

Dem Phänomen der Zwangsheirat werden die geltenden straf-, zivil- und aufenthaltsrechtlichen Regelungen nicht ausreichend gerecht.

Das geltende Strafrecht erfasst die Erscheinungsformen der Zwangsverheiratung nur unzureichend. Taten mit Auslandsbezug, die deliktstypisch sind, werden oft nicht erfasst. Typische Tathandlungen, wie das Verbringen ins Ausland durch List zum Zwecke der Verheiratung müssen in einem eigenen Straftatbestand geregelt werden, der der Bedeutung und den verschiedenen Erscheinungsformen der Zwangsheirat Rechnung trägt. Für Opfer von Zwangsheirat ist die Nebenklagebefugnis im Strafprozess mit ihren erweiterten Rechten einzuführen.

Bereits im geltenden Eherecht unterliegt eine Ehe der Aufhebung, wenn ein Ehegatte zur Eingehung der Ehe widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist (§ 1314 Abs. 2 Nr. 4 BGB). Antragsberechtigt ist der bedrohte Ehegatte. Gemäß § 1310 Abs.