Zuzug von Spätaussiedlern

Ursache für diese Veränderung in der Familienzusammensetzung ist die steigende Zahl gemischtnationaler Ehen, vor allem aber der Umstand, dass viele Aufnahmebewerber die sprachlichen Voraussetzungen für eine Anerkennung als Spätaussiedler nicht mehr erfüllen. Diese Entwicklung gilt natürlich auch für die dem Land Berlin zugewiesenen Spätaussiedlerfamilien, und sie erschwert die Integration, da die nichtdeutschen Familienangehörigen in der Regel nicht über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, dass 75 % der im Jahr 2002 zugezogenen Spätaussiedler unter 45 Jahre waren, was für die Altersstruktur der hiesigen Bevölkerung einen Verjüngungseffekt bedeutet.

Erziehung in Spätaussiedlerfamilien: Konflikte und Chancen

Auf Grund der geschilderten gesetzlichen Voraussetzungen vollzieht sich der Zuzug von Spätaussiedlern und ihrer nichtdeutschen Familienangehörigen im Familienzusammenhang oder in der Form von mehrere Generationen umfassenden Großfamilien. Die Familie ist für diese Gruppe die primäre Bezugsgröße, und es ist naheliegend anzunehmen, dass der Familie im Integrationsverlauf eine herausragende Bedeutung zukommt. Erziehungsvorstellungen und Sozialisationsprozesse sind ohne die Erfahrung der Migration und der durch sie vermittelten Brüche und Herausforderungen in diesen Familien nicht denkbar. Doch bevor die Auswirkungen der Migration betrachtet werden, ist es sinnvoll, die mitgebrachten Voraussetzungen in den Blick zu nehmen. Welche Erziehungsvorstellungen gelten in den Herkunftsländern und welche Rolle spielt dort die Familie?

Erziehung und Familie in den Herkunftsländern

Die Situation in den Herkunftsländern der Spätaussiedler, also vor allem der Russischen Föderation, Kasachstan und der Ukraine, ist neben allen wirtschaftlichen und sozialen Problemlagen gekennzeichnet durch einen Rückgang staatlicher Fürsorge in einer ehemals kollektivistisch geprägten Gesellschaft. Da in der sozialistischen Gesellschaft beide Elternteile berufstätig waren, wurden Erziehungsaufgaben an Schulen und staatliche Einrichtungen delegiert. In diesem stark gelenkten Schulsystem hatten Lehrer in wesentlich stärkerem Maß als hier die Aufgabe, nicht nur zu unterrichten, sondern auch zu erziehen. Zur Durchsetzung sozialistischer Erziehungsideale waren sie mit einer Autorität ausgestattet, die Respekt und Disziplin einforderte. Diese Erziehungsfunktion von Schule und anderen staatlichen Einrichtungen muss betont werden, denn sie fällt nach der Aussiedlung nach Deutschland weg. Zugleich gab es das in der sowjetischen Gesellschaft grundlegende Recht auf Arbeit, flankiert von sozialen Leistungen wie dem öffentlichen Wohnungsbau, dem öffentlichen Gesundheitswesen und den in staatlichen Bildungseinrichtungen vermittelten Orientierungen.

Mit dem Zerfall dieser Strukturen und den damit verbundenen Umbrüchen hat sich die Bedeutung der Familie drastisch verändert: „Die Gesellschaft ist schnell und weit auseinander gedriftet, eine neue Mittelschicht bildet sich nur langsam heraus. Als Motor und Träger wirtschaftlicher Aktivitäten hat sie sich noch nicht etablieren können. Vor diesem Hintergrund befindet sich die russische Jugend in einer schwierigen Lage. Sie werden vom Staat nicht mehr so wie früher umworben. We9 Migrationsbericht 2004, S. 30 gen der knappen öffentlichen Mittel kann er ihr kaum noch Perspektiven anbieten.

Seine ehemals vorhandene Verantwortung und Fürsorge für die Kinder und Jugendlichen hat er abgegeben, in die Familien abgeschoben. Nicht mehr der Staat ist zuvorderst für die Chancen der Kinder und Jugendlichen zuständig, die Familien und ihr ökonomischer Status sind entscheidend."10 Wenn Zukunft kaum noch gesellschaftlich vermittelt werden kann, richten sich die Zukunftshoffnungen vehement auf die eigenen Kinder. Daraus resultiert eine lang anhaltende Familienbindung, auch finanziell, sowie die Pflege von Beziehungen im sozialen Nahbereich und die gegenseitige Unterstützung in Netzwerken. Die finanzielle Familienbindung ist um so notwendiger, als der nach-sozialistische Staat eine den deutschen Standards vergleichbare soziale und finanzielle Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bildung, Ausbildung und im Studium nicht gewährt.

Für die deutschen Minderheiten in den sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaften gilt diese Bindung an die Familie noch stärker. Für jede Minorität ist die Familie ein Rückzugsraum vor den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen, der Selbstvergewisserung gewährt. Gleichzeitig erfordert die Minoritätenlebenslage die Entwicklung von Strategien, die das eigene Überleben und die Zukunft sichern. Dazu gehört die Bereitschaft, mit Blick auf die Zukunft der Kinder, also mit Blick auf deren Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten „Kompromisse eingehen zu müssen und kreative Strategien der Anpassung zu entwickeln."11 Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass ein Minoritätenbewusstsein mit einer eigenen Verfolgungs- und Deportationsgeschichte eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Veränderungen in der politischen Großwetterlage entwickelt und darauf entsprechend sensibel reagiert und seine Handlungsstrategien modifiziert.

In Bezug auf die jüngste Entwicklung muss an dieser Stelle eine Ergänzung gemacht werden. Das Rollenverhalten in den Spätaussiedlerfamilien gilt als überwiegend traditionell geprägt. Die Autorität der Eltern ist meist unangefochten, und der Vater repräsentiert als Oberhaupt die Familie nach außen, während die Mutter den Binnenbereich der Familie dominiert. Das gilt allerdings nicht mehr für die jetzt zuwandernde Generation von Spätaussiedlern, da sich bei ihnen die Gleichberechtigung so weit durchgesetzt hat, dass beide die Außenrepräsentanz der Familie übernehmen. Auf diese Weise wird ein Werte- und Normensystem transportiert, in dem konservative Tugenden wie Ordnung, Fleiß und Sauberkeit als wichtig gelten. Bei dieser generalisierenden Betrachtung ist einschränkend zu ergänzen, dass sie individuelle Voraussetzungen in den Familien wie Bildungsstand, gesellschaftlicher Status etc. nicht berücksichtigt.

Dieses traditionelle Bezugssystem wird von zwei Seiten infrage gestellt. Wenn auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Vater oder beide Elternteile arbeitslos werden, können sie ihre Repräsentanzfunktionen kaum noch wahrnehmen und verblassen als Vorbilder. Auf der anderen Seite suggerieren die Bezeichnungen „Spätaussiedler" oder „Aussiedler" oder „Russland-Deutscher" eine Homogenität in den zuwandernden Familien, die de facto nicht mehr existiert. Wie bereits im zweiten Teil dieses Beitrags erwähnt, ist der Anteil der Spätaussiedler in den zuwandernden Familien im letzen Jahrzehnt kontinuierlich gesunken, während der Anteil der nichtdeutschen Ehegatten und Abkömmlinge gestiegen ist. Viele, „der in den letzten Jahren ausgereisten Familien haben sich im Laufe der Zeit in den Herkunftsgebieten weitgehend an den jeweiligen Lebenskontext angepasst und ihre (noch Generationen vorher vorhandene) spezifisch an Deutschland orientierte Alltagskultur freiwillig aufgegeben."12 Heiraten außerhalb der eigenen ethnischen Gruppe sind normal wie das Hören von russischer Rockmusik, russische Freunde hatte man sowieso von Anfang an. Die Annahme, dass die Spätaussiedler auf Grund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit besonders leicht zu integrieren seien, bzw. sie überhaupt nicht im Kontext von Migration zu betrachten sind, wird damit zunehmend fragil.

Erziehung und Sozialisation im Kontext von Migration

Was Migration konkret für den Einzelnen bedeutet, wird vielleicht am leichtesten verständlich, wenn man an dieser Stelle eine Perspektivübernahme zwischenschaltet. Ich gehe also den umgekehrten Weg. Ich verfüge über rudimentäre, zudem dialektal gefärbte russische Sprachkenntnisse, die aber ausreichen, um den für die Aussiedlung nach Russland oder Kasachstan notwendigen Sprachtest zu bestehen. Meine Frau und meine Kinder sprechen kein Wort Russisch. Nach der Ankunft in Karaganda oder Moskau absolvieren wir einen sechsmonatigen Sprachkurs. In diesem Kurs möchte ich ganz besonders gut sein, denn ich habe schließlich Vorkenntnisse, tatsächlich aber lernen meine Frau und meine Kinder viel schneller Russisch als ich, ich werde im Sprachkurs also immer stiller und meine Lernerfolge verschlechtern sich immer mehr. Außerdem bedient sich die Lehrerin einer Didaktik, die ich nicht begreife, sie scheint auch schlecht qualifiziert zu sein. Nach sechs Monaten bin ich also nicht in der Lage, mich der russischen Sprache als Verkehrssprache zu bedienen. Ich erfahre nun, dass meine in Deutschland erworbenen Abschlüsse und Qualifikationen nicht anerkannt werden, in Beratungsgesprächen wird mir zu verstehen gegeben, so weit ich das verstehen kann, denn nicht immer ist ein Dolmetscher in der Nähe, dass mein Beruf hier keine Chancen hat, ich also in meinem Alter gefälligst einen neuen lernen soll. Weil meine Kinder keinen Kontakt mit den hiesigen Jugendlichen finden, hängen sie in deutschen Jugendcliquen auf der Straße herum. Auf genau dieser Straße wird mir auch direkt oder indirekt die vorwurfsvolle Frage gestellt, was ich als Deutscher denn hier will, während ich doch eigentlich Russe bin. Außerdem verstehe ich die Verhaltensweisen der Menschen um mich herum nicht, sie folgen einem „hidden curriculum", das mir unverständlich bleibt...

Diese soziale Phantasie mag man für einseitig halten, sie reflektiert allerdings erste Erfahrungen von Spätaussiedlern ­ und nicht nur von ihnen - in Deutschland.

Am Anfang stehen in der Regel Entwertungen und Desillusionierungen. Entwertungen deshalb, weil erworbene Qualifikationen nicht anerkannt werden, weil bestimmte Berufe wie z. B. Feldscher oder Melkerin hier überhaupt nicht existieren, weil die eigene Sprachkompetenz als Integrationshindernis diskreditiert wird und Desillusionierungen nicht zuletzt deshalb, weil in den Herkunftsländern kursierende Vorstellungen von Deutschland sich als unrealistisch erweisen. Da in diesem Kontext die Bedeutung von Familie eher noch wächst, ist es sinnvoll, die Auswirkungen von Migration auf vorhandene Erziehungsvorstellungen zu überprüfen.

Dazu greife ich an dieser Stelle zunächst Forschungsergebnisse auf, die im wesentlichen in Niedersachsen gemacht wurden, aber weitgehend übertragbar sein dürften. Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Der Familie kommt in der Migrationssituation eine herausragende Bedeutung zu. Die mit Migration verbundenen Unsicherheiten erzeugen Konfliktpotenziale.