Einsetzung eines Sonderausschusses zur Prüfung der Auswirkungen der Rückgabe des Gemäldes „Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Bestand des Berliner Brücke Museums auf weitere Kulturgüter in öffentlichem Einrichtungen

Das Abgeordnetenhaus von Berlin richtet gemäß Artikel 44, Abs. 1 und 2 in Verbindung mit § 20 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin einen Sonderausschuss ein, der die Hintergründe der Rückgabe des Gemäldes „Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Bestand des Brücke-Museums klärt und Kriterien erarbeiten soll, wie die Berliner öffentlichen Museen und Sammlungen und die zuständige Verwaltung künftig mit Rückgabeforderungen transparent und plausibel umgehen soll.

II. Der Ausschuß besteht aus 9 Mitgliedern (4 Mitglieder der SPD-Fraktion, 2 Mitglieder der CDU-Fraktion, 1 Mitglieder der PDS-Fraktion, 1 Mitglied der Fraktion Bündnis90/Grüne, 1 Mitglied der FDP-Fraktion) sowie deren Stellvertretern.

III. Der Sonderausschuss soll folgende Sachverhalte prüfen:

A. Faktenlage und Chronologie zur Rückgabe des Gemäldes „Berliner Straßenszene" von E. L. Kirchner

1. Wann wurde das Restitutionsbegehren der Senatsverwaltung für Kultur, Wissenschaft und Forschung bekannt? Was hat der Senator darauf hin veranlaßt? Wer wurde wann über das Restitutionsbegehren in Kenntnis geDie Drucksachen des Abgeordnetenhauses können über die Internetseite setzt? Wann wurde der Senat und insbesondere der Regierende Bürgermeister in Kenntnis gesetzt?

2. Wie ist die Chronologie der Kontakte mit den Erben der Vorbesitzer des Gemäldes? Was bzw. mit welchem Ergebnis wurde jeweils von welchem Senatsbeauftragten verhandelt?

B. Ausschöpfung der Handlungsspielräume

1. Welche Handlungsspielräume bestanden für den Senat zugunsten eines Verbleibs des Gemäldes im Berliner Landesbesitz und wie hat er sie genutzt?

2. Wie, durch wen und mit welchem Ergebnis wurde die Erfüllung der Rückgabevoraussetzungen

- der Washingtoner Grundsätze aus dem Jahr 1998,

- der von der Bundesregierung, den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden gemeinsam beschlossene „Erklärung zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz" (Gemeinsame Erklärung) aus dem Jahr 1999 und

- der von der Kultusministerkonferenz, vom Präsidium des Deutschen Städtetages, vom Kulturausschuß des Deutschen Landkreistages sowie von Kulturausschuß und Präsidium des Deutschen Städte- und Gemeindebundes im Jahre 2001 beschlossen Handreichung geprüft?

3. Waren die Provenienzforschungen ausreichend, um die Entscheidung für den Abschluß des Restitutionsvertrages rechtfertigen zu können? Welche Untersuchungsaufträge wurden diesbezüglich vergeben?

4. Warum wurde die infolge der Gemeinsamen Erklärung in Magdeburg eingerichtete Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste nicht mit der Angelegenheit befaßt? Warum wurde nicht die für den Fall rückgabebedingter Differenzen eingesetzte „Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz" angerufen?

5. Welche weiteren Anstrengungen hat der Senat unternommen, um die von den Washingtoner Grundsätzen geforderte „gerechte und faire Lösung" zu ermöglichen? Inwieweit wurde die Hilfe der Bundesregierung zur Durchsetzung des von ihr mitunterzeichneten Abkommens gesucht?

C. Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns

1. Was und aufgrund welcher Vorprüfung hat die Finanzverwaltung veranlaßt, der Restitution zuzustimmen und die Zustimmung ohne Einschaltung des Senatskollegiums und des Abgeordnetenhauses zu erteilen? Warum wurden keine parlamentarischen Ausschüsse in das Verfahren einbezogen? Hat der Senat hierbei gegen bestehendes Recht der Landeshaushaltsordnung (LHO) verstoßen?

2. Warum hat die Staatsanwaltschaft wenige Tage nach der Verbringung des Gemäldes nach New York vom 8. November 2006 die Ermittlungen in bezug auf die gegen die Senatoren Dr. Flierl und Dr. Sarrazin sowie die Staatssekretärin Kisseler gerichtete Strafanzeige wegen Untreue eingestellt, obwohl erhebliche Bedenken dokumentiert und vorgetragen worden waren? Wurde das Verhalten der Staatsanwaltschaft politisch beeinflußt bzw. gab es diesbezügliche Weisungen? Ist durch die Einstellung der Ermittlungen versäumt worden, die Verbringung des Gemäldes zu verhindern?

D. Künftiger Umgang mit Restitutionsverfahren bei Kunstwerken aus Berliner Sammlungen

Welcher veränderte Abstimmungsbedarf zwischen dem Berliner Senat, den Einrichtungen und dem Abgeordnetenhaus besteht bei künftigen Restitutionsanfragen gegenüber Kulturgütern aus öffentlichen Einrichtungen um ein transparentes Verfahren zu erreichen?

2. Wie sind die personellen und sachlichen Ressourcen einzuschätzen, die in den Kultureinrichtungen notwendig sein müssen, um dort eine aktive Provenienzforschung zur Verbesserung des Herkunftsnachweises eines Kunstwerkes in den jeweiligen Sammlung zu erreichen? Müssen diese gegebenenfalls verbessert werden? Welchen Zeitraum würde eine Klärung der Herkunft der wichtigsten Bestände in Anspruch nehmen?

Welche Mittel wären nötig, um die zur Klärung erforderliche Provenienzforschung zu leisten? Wie und in welcher Form können die Mittel bereit gestellt werden, um den betroffenen Häusern die Möglichkeit zu kontinuierlicher Forschung statt wie bisher ausschließlich zu „Krisenprovenienzforschung" in akuten Fällen zu geben?

3. Wie kann eine aktive Rückgabepraxis gegenüber eindeutig als NSRaubkunst zu klassifizierenden Kulturgutes aus Berliner Museen und Sammlungen erreicht werden?

4. Welcher Handlungsbedarf besteht gegenüber dem Umgang mit Kulturgütern in Berliner Sammlungen, die in Folge der BodenreformVerstaatlichung oder als enteignete Kunstwerke zur Zeit der DDR in öffentlichen Besitz gelangten?

5. Welche Werke im Eigentum von öffentlichen Kultureinrichtungen Berlins stehen auf der Liste des schützenswerten „nationalen Kulturgutes"?

Unter welchen Voraussetzungen werden Kulturgüter auf diese Liste gesetzt und welche Bedeutung hat diese Liste tatsächlich zum Schutz der Kulturgüter?

6. Besteht aus Berliner Sicht Bedarf an einer Überarbeitung der Handreichung zur Rückgabe vorwiegend NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes und wie sollte diese künftig aussehen?

7. Besteht ein landesrechtlicher Handlungsbedarf?

Begründung:

Die Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Berliner Straßenszene" aus dem Jahr 1913 durch das Berliner Brücke-Museum an die Erben des ehemaligen Eigentümers Alfred Hess hat in Berlin und deutschlandweit hohe Wellen geschlagen. Das Werk wurde nach mehrjährigen Verhandlungen von der Berliner Kulturverwaltung im Sommer 2006 unter Berufung auf die Washingtoner Erklärung von 1998, die Gemeinsame Erklärung von 1999 und die Handreichung von 2001 zurückgegeben und wurde im November 2006 in New York versteigert.

Seit Bekanntwerden der Absicht des Senats, das Gemälde zu restituieren, wurde weit über Berlin hinaus die Frage diskutiert, ob der Senat zu dieser Entscheidung kommen durfte. Vieles spricht dafür, dass der Senat seine Handlungsspielräume in dieser Sache nicht ausgeschöpft hat. Sollte das der Fall sein, hat er nicht nur seine Amtspflichten verletzt, sondern trägt die Schuld daran, dass Berlin um ein wesentliches Kunstwerk ärmer geworden ist, das längst identifikatorischen Charakter für das Kulturleben der Stadt erlangt hatte.

Die Restitution von NS-Raubkunst aus öffentlichen Sammlungen auf der Basis und im Geiste der Washingtoner Erklärung ist eine notwendige und nicht zu bestreitende Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Das Abgeordnetenhaus von Berlin bekennt sich uneingeschränkt zu den Washingtoner Grundsätzen von 1998.

Allerdings hat der „Fall Kirchner" sehr deutlich vor Augen geführt, welche Problematik den nachgelagerten rechtlichen Vorgaben innewohnt, die in Deutschland zur Handhabung der Washingtoner Grundsätze entwickelt wurden.

So dürfen etwa die in der Handreichung enthaltenen Vorgaben nicht so weit führen, dass die mit Rückgabeforderungen konfrontierten Sammlungen überhaupt keinen Handlungsspielraum mehr haben, die Beweislast bei den vorwiegend schwer zu dokumentierenden Einzelfällen grundsätzlich bei den Museen liegt und die von den Washingtoner Grundsätzen beabsichtigte „gerechte und faire Lösung" immer zu Lasten der öffentlichen Sammlungen geht.

Die Gemeinsame Erklärung und die Handreichung beinhalten einige Vermutungen zugunsten der Alteigentümer, die von den Museen oder die beteiligten Kulturverwaltungen nur schwer widerlegt werden können, nicht zuletzt weil einmal vorhandene Belege und Beweise nach 70 Jahren und den Wirren des Zweiten Weltkrieges nicht mehr vorhanden sind. Hinzu kommt, dass die Restitutionsverhandlungen oftmals von unverhältnismäßigen Verdienstanreizen für nicht betroffene Dritte (Anwälte und Auktionshäuser) bestimmt werden, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass restituierte Kunstgegenstände von den begünstigten Erben bald und in der Regel ins Ausland versteigert oder verkauft werden.

Der Sonderauschuss kann nicht bei der alleinigen Klärung des Umgangs mit dem Kichner-Gemälde stehen bleiben, sondern muss dringend Leitlinien und Lösungsvorschläge für den künftigen Umgang mit dem Themenkomplex der Herkunft und Restitution von Berliner Kunstwerken entwickeln. In diesem Kontext sind nicht ausschließlich aus nationalsozialistischer Verfolgung abgeleitete Restitutionsansprüche zu berücksichtigen, sondern auch solche, die sich etwa auf Rückforderung von sog. Beutekunst oder in der DDR zwangsenteigneten Kulturgütern beziehen.

Vor diesem Hintergrund soll der Sonderausschuss detailliert aufschlüsseln, ob und inwiefern ein erweiterter Handlungsspielraum für die betroffenen Museen und den beteiligten Kulturverwaltungen notwendig ist und ob in einer Klärung mit dem Bund und den anderen Ländern eine Überarbeitung der bisherigen Handreichungspraxis vonnöten ist.