Befugnis für das Jugendamt in „Kindesschutzfällen"

Die Regelung in § 62 Abs. 3 Nr. 2d) SGB VIII ist eine wichtige Befugnis für das Jugendamt in „Kindesschutzfällen" bzw. bei dem begründeten Verdacht auf das Vorliegen eines solchen Falles die hierzu erforderlich Daten auch bei Dritten gezielt zu erheben (hierzu siehe Weiteres unten bei IV.). § 62 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII stellt eine Entlastung der Verwaltung aber regelmäßig auch des Betroffenen dar. Gegen diese Art der Erhebung dürfen keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen des Betroffenen sprechen (Rombach in Hauck/ Noftz, SGB X, K § 69 Rz. 26). Im Zweifelsfall genügen schon Anhaltspunkte, um die Datenerhebung bei Dritten auszuschließen. Es bleibt dann nur die Möglichkeit, den Betroffenen über den vereinfachten Weg der Datenerhebung bei der anderen Stelle zu informieren und Gelegenheit zu geben hiergegen Einwände zu erheben.

Eine Erhebung „am Betroffenen vorbei" bei Dritten kommt auch in den Fällen nach § 62 Abs. 3 Nr. 1a) SGB VIII in Betracht, d.h. wenn eine gesetzliche Vorschrift dies zulässt oder sogar vorschreibt. Hierin kann eine Befugnis zur Datenerhebung in den Fällen gesehen werden, in denen die Jugendhilfebehörden Eingriffrechte ausüben (z.B. § 42 SGB VIII; vgl. Hauck/Noftz, SGB VIII K 62 Rz. 8) und soweit nicht ohnehin die Fallgruppe nach § 62 Abs. 1 Nr. 2d) SGB VIII vorliegt (für das Kita-Verfahren im ISBJ ist z. B. die Befugnis zum regelmäßigen Abgleich der Meldedaten durch eine Verordnung im Melderecht zugelassen worden).

5. Gemäß § 64 Abs. 1 SGB VIII unterliegen die erhobenen Daten einer Zweckbindung, d.h. dürfen nur für die Zwecke verarbeitet werden, für die sie erhoben worden sind (die erlaubte Zweckänderung bei Nutzung innerhalb der Stelle „Jugendamt" bleibt unberührt, vgl. Ausführungen oben bei 2. Der Zweck wird durch die fachlichen Notwendigkeiten der in Betracht kommenden Leistungen und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe, also nach dem SGB VIII, bestimmt (z.B. dürfen die Daten aus der Hilfeplanung nicht für eine Überprüfung der UVG- Leistungen verwertet werden).

Soweit bei der Erhebung deutlich gemacht wird, dass der Zweck der Erhebung selbst schon eine bestimmte Weiterleitung mit umfasst, ist eine gesonderte Einwilligung für eine Weiterleitung zwischen den Sozialleistungsträger nicht mehr erforderlich (§ 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X).

Gemäß § 78 SGB X wird diese Zweckbindung auch bei einer Weiterleitung an Empfänger „weitergegeben", die nicht zu den in § 35 SGB I genannten Stellen gehören.

Empfänger i.S.d. Vorschrift kann jede natürliche oder juristische Person sein. Diese Empfänger außerhalb des Sozialleistungssystems dürfen die personenbezogenen Daten nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihnen von den in § 35 SGB I genannten Stellen (also dem Jugendamt) ausnahmsweise befugt offenbart worden sind („absolute" Zweckbindung5). In Frage kommende Stellen können hier insbesondere Schulen, der öffentliche Gesundheitsdienst oder auch Träger der freien Jugendhilfe sein. Für die Strafverfolgungsbehörden enthält § 78 Abs. 1 SGB X besondere Regelungen, mit denen das weitergeleitete Zweckbindungsgebot für diesen Bereich relativiert wird.

Die Übermittlung von erhobenen oder anvertrauten Daten zu anderen als den Zwecken, für die diese erhoben worden sind, ist zulässig, wenn eine Einwilligung für die jeweilige Übermittlung vorliegt.

Dabei sind die Voraussetzungen des § 67b Abs. 2 SGB X zu beachten. Das heißt, regelmäßig sollte das Schriftformgebot eingehalten werden. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass gerade bei der Hilfeplanung eine andere Form angemessen ist (vgl. Ausführungen unten bei III.). Auch eine mutmaßliche Einwilligung kann in bestimmten Ausnahmekonstellationen vorliegen.

Für minderjährige Personen, die noch nicht das 15. Lebensjahr vollendet haben, muss der gesetzliche Vertreter die Einwilligung abgeben. Nach der Vollendung des 15. Lebensjahres entscheidet der betroffene Minderjährige eigenständig, außer es besteht auch in diesem Alter ausnahmsweise noch keine Einsichtsfähigkeit (so ggf. bei geistig Behinderten).

Wenn die Sorgeberechtigten sich hierbei widersprechen, ist auf die Mitwirkungsverpflichtung nach § 60 SGB I für einen Leistungsbezug hinzuweisen oder ­ bei Kindeswohlgefährdung bei einer hierdurch eintretenden Leistungsverzögerung - eine familiengerichtliche Entscheidung herbeizuführen.

7. Die Regelungen des Datenschutzes lassen in bestimmten Fällen auch eine Übermittlung von Daten ohne Einwilligung des Betroffenen zu.

Zuvor ist jedoch stets zu prüfen, ob mit einer Weitergabe in anonymisierter oder pseudonymisierter Form (Definition siehe § 67 Abs. 8 und 8a SGB X) der Zweck nicht ebenfalls zu erreichen ist. Dies wird z. B. der Fall sein, wenn eine Supervision für das Fallteam erfolgt, in der über praktische Fälle ohne Nennung der Klar-Namen gesprochen werden kann.

Als Ermächtigung ­ ggf. auch verbunden mit einer Verpflichtung - für eine Datenweitergabe ohne Zustimmung kommen insb. in Betracht:

- § 69 SGB X: Diese bereits erwähnte Regelung stellt eine sehr umfassende Ermächtigung dar. Danach können Daten auch an einen Dritten weitergegeben werden, wenn es zur Aufgabenerfüllung des Jugendamts gehört oder der Dritte diese Daten zur eigenen Aufgabenerfüllung benötigt. Die Befugnis umfasst jedoch nicht die Weitergabe an Dritte, die nicht Stellen im Sinne des § 35 SGB I sind. D.h. die Weitergabe an Schulen, Polizei und Gesundheitsämter kann nicht auf diese Vorschrift gestützt werden. Unabhängig von dieser Einschränkung ist eine Übermittlung nach § 69 SGB X ebenfalls unzulässig, wenn der Erfolg für die Kinder- und Jugendhilfeleistung dadurch in Frage gestellt wird (§ 64 Abs. 2 SGB VIII).

- Eine Übermittlung ist in den Fällen zulässig, in denen sogar anvertraute Daten weitergegeben werden könnten (vgl. hierzu Ausführung unten bei II. und V.).

- § 73 SGB X erlaubt die Übermittlung von Daten wegen eines Strafverfahrens von erheblicher Bedeutung oder eines Verbrechens. Die Anordnung erfolgt durch den Richter (§ 73 Abs. 3 SGB X). § 68 SGB X erlaubt eine Übermittlung ohne Zustimmung für die dort genannten Zwecke u.a. auch an die Polizei. Die Notwendigkeit der Einholung einer Aussagegenehmigung (vgl. hierzu unten bei V.3.) bleibt von diesen Übermittlungsbefugnissen unberührt.

- § 71 SGB X nennt weitere Übermittlungsbefugnisse und ­verpflichtungen, wozu auch die Verhinderung schwerer Straftaten (§ 138 StGB) und der Schutz der öffentlichen Gesundheit nach dem Infektionsschutzgesetz (Verhinderung der Verbreitung besonders aufgezählter, ansteckender Krankheiten) gehören.

Bei der Übermittlung und Nutzung sind allerdings die besonderen Beschränkungen für anvertraute / geheimnisgeschützte Daten zu beachten (hierzu siehe unten bei II.).

8. Die Datenerhebung für die Zwecke nach § 52 SGB VIII (Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz) ist auf Grund der nunmehrigen Einbeziehung in § 62 Abs. 3 Nr. 2 c SGB VIII auch ohne Mitwirkung des Betroffenen zulässig. Damit wird die Erhebung von Daten über den Betroffenen durch das Jugendamt, wenn dies für die Aufgaben nach § 52 SGB VIII erforderlich ist, erleichtert. Soweit dies z. B. in Stellungnahmen gegenüber dem Gericht für dessen Entscheidungsfindung im Sinne des § 52 SGB VIII erforderlich ist, folgt hieraus auch in Verbindung mit § 64 Abs. 1 SGB VIII eine Übermittlungs-/Offenbarungsbefugnis. Hierbei sind von der Jugendgerichtshilfe jedoch die Grenzen des § 65 SGB VIII bei anvertrauten Daten zu beachten.

9. Eine wichtige Besonderheit beinhaltet die Datenerhebung und ­ nutzung im Bereich der kindschaftrechtlichen Vertretung durch Beistandschaft, Amtspflegschaft und Amtsvormundschaft. Hierzu regelt § 61 Abs. 2 SGB VIII, dass nur der § 68 SGB VIII anzuwenden ist. Daher sind die §§ 62 bis 67 SGB VIII, § 35 SGB I und §§ 67 bis § 85a SGB X sämtlich nicht anwendbar. Anwendbar bleibt jedoch § 203 StGB . § 68 SGB VIII enthält im Übrigen ein abschließendes Zweckbindungsgebot, welches auch für andere Stellen gilt, an die Daten befugt übermittelt worden sind (§ 68 Abs. 4 SGB VIII). Hiermit ist einerseits eine Erleichterung für die Aufgabenerfüllung verbunden, da die Befugnisse weiter gefasst sind und andererseits eine Privilegierung verbunden, da kein Zugriff von außen wie von den Strafverfolgungsoder Ausländerbehörden nach SGB X zulässig ist. Die Beurteilung der Erforderlichkeit ist von Gesetzes wegen hier in besonderer Weise in die treuhand-ähnliche Vertrauensposition des Beistandes oder Vormundes gelegt.