GG Dem unmittelbaren Zwang kommt besondere Bedeutung zu

Staatliche Zwangsanwendung können demnach nur solche Bedienstete ausüben, die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen können. Dies sind in der Regel Angehörige des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen (vgl. Artikel 33 Abs. 4 GG).

Dem unmittelbaren Zwang kommt besondere Bedeutung zu. Er stellt einen Eingriff in die freie Selbstbestimmung der oder des Einzelnen dar und ist deshalb besonders sorgfältig zu prüfen. Außerdem ist er gerade im Vollzug in vielfältigen Konfliktlagen denkbar. Der Gesetzgeber hat sich deshalb dagegen entschieden, lediglich auf die allgemeineren Vorschriften zum (Verwaltungs-)Vollstreckungsrecht zu verweisen und diese gegebenenfalls zu ergänzen. Der Zehnte Abschnitt enthält nicht nur die für den Vollzug spezielleren Bestimmungen, sondern auch die allgemeinen Grundsätze, wie etwa den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 78), das Handeln auf Anordnung (§ 79) und die Androhung (§ 80). Dieses einheitliche Regelwerk zum unmittelbaren Zwang steht im systematischen Zusammenhang zu den übrigen Regelungen im Vollzug und erleichtert den Bediensteten dadurch die Prüfung, in welchen Fällen und auf welche Weise sie unmittelbaren Zwang anwenden können.

Absatz 3 enthält als Beispiele der Hilfsmittel Fesseln und Reizstoffe. Letztere werden im Gegensatz zu § 95 Abs. 4 StVollzG sowie § 1 Abs. 2 Nr. 1 WaffG i.V.m. Anlage 1 Abschnitt 1 Unterabschnitt 1 Nr. 2.8 und § 1 Abs. 2 Nr. 2 a WaffG i.V.m. Anlage 1 Abschnitt 1 Unterabschnitt 2 Nr. 1.2. und 1.2.3 a nicht unter den Begriff der Waffe subsumiert.

Dies entspricht ihrer Klassifizierung in § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln). Damit ist die Begriffsbestimmung der Reizstoffe in Fällen des unmittelbaren Zwangs im Land Berlin einheitlich. Reizstoffe sind wiederum der Oberbegriff für Stoffe wie z. B. Pfefferspray. Die Auswahl der Hilfsmittel richtet sich nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 78). 77. Zu § 77 (Allgemeine Voraussetzungen)

Die Bestimmung entspricht § 94 StVollzG. Sie enthält die allgemeinen Voraussetzungen, unter denen Bedienstete unmittelbaren Zwang anwenden können. Absatz 1 legt fest, dass unmittelbarer Zwang ultima ratio ist. Zunächst hat die Anstalt im Rahmen ihres Erziehungsauftrags zu versuchen, auf andere Weise auf den Willen der Gefangenen einzuwirken und sie dadurch zu einem ihren Pflichten entsprechenden Verhalten hinzuführen. Die Bediensteten sind zu unmittelbarem Zwang erst dann befugt, wenn sie ihre Aufgabe mit anderen Mitteln nicht erfüllen können. Es gibt Situationen, in denen Vollzugs- und insbesondere Sicherungsmaßnahmen unabhängig von dem Willen der Betroffenen durch unmittelbare Einwirkung auf ihre Person oder Sachen durchzusetzen sind, z. B. wenn sich die Gefangenen gegen Maßnahmen, die sie selbst betreffen, zur Wehr setzen.

Während Absatz 1 die Befugnis enthält, gegen Gefangene mit unmittelbarem Zwang vorzugehen, gibt Absatz 2 den Bediensteten dieses Recht gegenüber Dritten, die Gefangene zu befreien oder in den Anstaltsbereich widerrechtlich einzudringen versuchen oder sich dort unbefugt aufhalten. Die Anstalt wird hierdurch in die Lage versetzt, notfalls auch gegenüber anderen Personen als Gefangenen, die sich in ihren Wirkungsbereich begeben haben, ihre Aufgaben durchsetzen zu können.

Absatz 3 stellt klar, dass die Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs aufgrund anderer Vorschriften durch die dazu bestimmten Hoheitsträger und die Ausübung von Notwehr-, Notstands-, Verfolgungs- und Festnahmerechten durch Bedienstete unberührt bleibt. Letztere ermächtigen zur Soforthilfe in akut gefährlichen Situationen.

78. Zu § 78 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)

Die Bestimmung entspricht § 96 StVollzG. Sie enthält den unter anderem auch im Polizeirecht geltenden Grundsatz, dass nur solche Maßnahmen angewendet werden dürfen, die geeignet, erforderlich und zweckmäßig sind, das angestrebte Ziel zu erreichen. Dies bedeutet auch, dass eine Maßnahme nur so lange und so weit durchgeführt werden darf, wie ihr Zweck es erfordert. Absatz 1 statuiert die Wahl des mildesten Mittels, Absatz 2 eine Folgenabschätzung.

79. Zu § 79 (Handeln auf Anordnung)

Die Bestimmung entspricht § 97 StVollzG. Absatz 1 enthält die Pflicht zur Befolgung von Anordnungen der Vorgesetzten. Von dieser Gehorsamspflicht sind die Bediensteten nur befreit, wenn die Befolgung der Anordnung die Menschenwürde verletzten würde oder wenn die Anordnung erkennbar nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt wurde. Sie haben in diesen Fällen ein Widerstandsrecht.

Die Bediensteten trifft nach Absatz 2 eine Widerstandspflicht, wenn sie durch die Ausführung des angeordneten unmittelbaren Zwangs eine Straftat begehen würden. Das „Handeln auf Anordnung" ist nur dann ein Schuldausschließungsgrund bei einer Anordnung, welche die Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens verlangt, wenn die Bediensteten dies nicht erkennen und es nach den ihnen bekannten Umständen auch nicht offensichtlich ist.

80. Zu § 80 (Androhung)

Die Bestimmung, die § 98 StVollzG entspricht, bezweckt, dass unmittelbarer Zwang nur angewendet wird, wenn die Betroffenen ein von ihnen gefordertes Verhalten trotz des angedrohten Zwangs verweigern. Die Androhung des unmittelbaren Zwangs als Vorstufe zu deren Ausübung dient dazu, den Konflikt zu entschärfen. In Fällen, in denen schnelles Reagieren geboten ist, kann unmittelbarer Zwang nach Satz 2 allerdings sofort angewendet werden. Dies kann dann der Fall sein, wenn die Umstände eine Androhung nicht zulassen, weil etwa die Anwendung unmittelbaren Zwangs bei vorheriger Androhung zu spät käme, oder wenn unmittelbarer Zwang sofort angewendet werden muss, um eine Straftat zu verhindern oder eine gegenwärtige Gefahr abzuwenden.

81. Zu § 81 (Schusswaffengebrauch) Absatz 1 Satz 1 verbietet den Gebrauch von Schusswaffen durch Bedienstete innerhalb der Anstalt (§ 98 Abs. 1 Satz 1). Das Verbot ist örtlich auf den Bereich der Anstalt begrenzt. Entscheidend für die Zulässigkeit des Schusswaffengebrauchs ist die Frage, wo sich die Person befindet, die die Schusswaffe benutzen würde. Mit diesem Verbot folgt die Bestimmung Nr. 65 der VN-Regeln zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug. Beim Schusswaffengebrauch als schärfstem Zwangsmittel muss regelmäßig eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen. In besonderen Gefahrensituationen, wie z. B. einer Geiselnahme, kann Unterstützung durch Polizeivollzugsbedienstete angefordert werden. In Satz 2 ist klargestellt, dass in solchen Fällen Polizeivollzugsbediensteten der Gebrauch von Schusswaffen erlaubt ist, soweit ihnen andere Bestimmungen diese Befugnis verleihen.