Nachhaltigkeit

HINTERGRUNDINFORMATIONEN ­ LINKSEXTREMISMUS 205

3 LINKSEXTREMISMUS

Aktionsorientierter Linksextremismus

Autonome ÜBERSICHT Entstehung / Gründung Ab 1980

Mitgliederzahl Bund: ca. 5 500 (2005: ca. 5 000) Berlin: ca. 980 (2005: ca. 1 060) Organisationsstruktur Netzwerk Veröffentlichungen Mehrere Szenezeitschriften Berlin bildet einen regionalen Schwerpunkt der autonomen Szene, deren Anfänge zu Beginn der 80er Jahre lagen. Aus Kreisen weder organisationsgebundener noch im traditionellen Sinne ideologisch festgelegter, so genannter undogmatischer Linksextremisten erschienen damals Diskussionspapiere, deren Verfasser sich als „autonom" bezeichneten. Sie sprachen von einer „neuen autonomen Protestbewegung", die den „Koloss Staat" mit dezentralen Aktionen, mit „Phantasie und Flexibilität", mit „vielfältigen Widerstandsformen auf allen Ebenen" angreifen müsse. Es gelte, „den bürgerlichen Staat zu zerschlagen".

Der Einsatz von „befreiender Gewalt" ­ sowohl gegen Menschen als auch gegen Sachen ­ als politisches Mittel gegen die „strukturelle Gewalt" der Gesellschaft und des Staates,398 stellt für die autonome Szene ein unverzichtbares Element ihrer „revolutionären Politik" dar.

Vgl. Fridolin: Wo ist Behle? In: „INTERIM", Sonderheft „Bewegung ­ Militanz ­ Kampagne" vom März 1998 (Es handelt sich um ein unter Pseudonym geschriebenes Papier, das sich mit strategischen Fragen, auch dem Einsatz von Gewalt, auseinandersetzt.).

Die Bandbreite an Aktionsformen reicht von Demonstrationen, Informations- bzw. Diskussionsveranstaltungen, Vorträgen, Ausstellungen, der Herausgabe von Steckbriefen über politische Gegner, Flugblättern und Broschüren über Störaktionen, Blockaden, Brandanschläge und andere Sachbeschädigungen bis hin zu Überfällen auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten, wobei im Extremfall der Tod des Opfers billigend in Kauf genommen wird.

Während sie ihren Hass auf das politische und gesellschaftliche System durch gezielte militante, bisweilen terroristische Aktionen zum Ausdruck bringt, lehnt sie zugleich das staatliche Gewaltmonopol kategorisch ab: „Manche werfen ihren ersten Stein als offensiven Akt der Befreiung, andere aus Notwehr gegen die Bullen. Aber allen ist gemeinsam, dass die Militanz zum identitätsstiftenden, prägenden Bestandteil der Bewegungserfahrung wird."

Ihre Aktionsfelder beziehen sich auf Themen, die in hohem Maße polarisieren: Faschismus, Imperialismus, Kapitalismus, Militarismus, Rassismus, Sexismus werden als wesentliche Bestandteile des herrschenden politischen Systems betrachtet, das es abzuschaffen gilt.

Die Autonomen diffamieren den Verfassungsstaat, lehnen das parlamentarische System ab und vertreten Versatzstücke kommunistischen und anarchistischen Gedankenguts. Das Ziel einer „unterdrückungsfreien Gesellschaftsordnung" versuchen autonome Gruppen mittels Anschlägen zumeist gegen Firmen oder staatliche Stellen, die in ihren Augen das System repräsentieren, der Öffentlichkeit zu vermitteln.

Die Auseinandersetzung mit den Themen Antifaschismus, Antimilitarismus, Antiimperialismus, Antisexismus, Antikapitalismus und Antirassismus verläuft dabei nicht in geraden Linien: Zum einen ist eine geschlossene theoretische Fundierung vielen Anhängern verdächtig, da sie ihrem Anspruch, autonom zu leben, widerspricht. Zum anderen versuchen sie, Protestbewegungen zu instrumentalisieren, um über sie ihre Ideologie zu vermitteln.

Das Verhältnis zur Theorie ist bei den einzelnen Gruppierungen der Autonomen unterschiedlich. Zu nennen sind zum einen die so genannten Altautonomen, die sich der autonomen Szene seit deren Entstehung bis Mitte der 80er Jahre anschlossen. Sie suchten die Vernetzung mit

Mehr als nur eine kämpferische Haltung: Autonome Militanz. In: Autorenkollektiv AG Grauwacke: Autonome in Bewegung. Berlin 2003, S. 141 ­ 160, hier S. 142.

Vgl. S. 71 ff.

Vgl. S. 69 ff.

Die öffentliche Rekrutenvereidigung in Bremen am 6.5.1980, die zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten führte, gilt als die Geburtsstunde der autonomen Szene in Deutschland. Die Gewaltwelle der Jahre 1980 / 81 blieb bisher der quantitative Höhepunkt dieser Szene. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 1995. Berlin 1996, S. 14 ff.

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Hausbesetzern und bürgerlichen Protestbewegungen wie AKW-Kritikern, Startbahn-West-Gegnern und der Friedensbewegung.

In ihrer Selbstsicht verstehen sie sich als gesellschaftliche Avantgarde: „Unser Problem besteht vielmehr darin, es mit einer Bevölkerung zu tun zu haben, die zum überwiegend großen Teil mit den hier herrschenden Verhältnissen identifiziert ist, und zwar unabhängig davon, inwieweit diese ihr zum Vorteil gereichen oder nicht."

Die Altautonomen gehören einem zahlenmäßig kleinen, ideologisch gefestigten und theoretisch fundierten Kreis mit engen persönlichen Verbindungen an, der über szeneinterne Autorität verfügt und vorwiegend klandestin, abseits vom Tagesgeschehen operiert.

Von diesen Autonomen der ersten Generation sind jene zu unterscheiden, die ebenfalls stark motiviert sind, allerdings erst ab den späten 80er Jahren zur Szene stießen. Sie bilden gegenwärtig den harten Kern und sind federführend bei der Organisation von Veranstaltungen, Protestaktionen und Anschlägen. Ideologisch gefestigt verfügen sie jedoch nur selten über ein ähnlich theoretisch fundiertes Wissen wie die Altautonomen.

Aufgrund ihrer aktionistisch ausgerichteten Vorgehensweise binden und rekrutieren sie Autonome der jungen Generation.

Deren Angehörige fluktuieren stark, sind zumeist im Ausbildungsalter und haben oft lediglich vage linksextremistische Vorstellungen, verbunden mit einem hohen Aggressionspotenzial, das sich ein Ventil im Hass auf das politische und gesellschaftliche System sucht.

Bürgerinitiativen, die sich in den benannten Bereichen engagiert haben, sind nicht Gegenstand der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Jedoch haben Vertreter des autonomen Spektrums häufig versucht, Protestbewegungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dies gelang in unterschiedlicher Intensität und mit wechselnder Nachhaltigkeit.

Fridolin: Wo ist Behle? In: „INTERIM", Sonderheft „Bewegung ­ Militanz ­ Kampagne" vom März 1998, S. 24.

Vgl. Die Ästhetik des Widerstands und andere Fragen. In: „INTERIM" Nr. 474 vom 22.4.1999, S. 26 ff. Die Ästhetik des Widerstands: „Soziale Bewegungen und als ein Teil davon die Autonomen waren ein ernstzunehmender Faktor der Gesellschaft. Dies hat sich seit Ende der 80er Jahre geändert. Wenn man nur noch eine x-beliebige Subkultur in einer beliebigen Gesellschaft ist, hat das keine Sprengkraft mehr."

Vgl. Matthias Mletzko: Merkmale politisch motivierter Gewalttaten bei militanten autonomen Gruppen. In: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie Nr. 11/1999, S. 180 ­ 199.