Unterkunftskosten bei der Umsetzung des SGB II („Hartz IV")

Erhebliche Mehrbelastung des Landeshaushalts durch Anerkennung unangemessen hoher Unterkunftskosten bei der Umsetzung des SGB II („Hartz IV") infolge rechtswidriger Ausführungsvorschriften

Die für Soziales zuständige Senatsverwaltung hat Ausführungsvorschriften zur Ermittlung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 SGB II erlassen, die in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig sind und bewirken, dass Leistungsempfänger auch bei unangemessen hohen Aufwendungen nicht die Wohnung wechseln müssen. Dadurch kommt es zu ungerechtfertigten Leistungen und einer erheblichen Mehrbelastung des Landeshaushalts.

Der Rechnungshof hat sich parallel zu den Prüfungen zur Umsetzung des neuen SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende - („Hartz IV") in vier Bezirksämtern und Arbeitsgemeinschaften („JobCentern"), über die in T 125 bis 142 berichtet wird, auch mit den Vorgaben der für Soziales zuständigen Senatsverwaltung zur Ermittlung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung befasst. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Für diese Leistungen ist das Land Berlin als kommunaler Träger zuständig (vgl. T 125). Die Ausgaben beliefen sich im Jahr 2005 auf 1,176 Mrd. ; hieran hat sich der Bund mit 29,1 v. H. beteiligt. Die Zahl der leistungsberechtigten Bedarfsgemeinschaften ist von zunächst 270 776 im Januar 2005 auf 354 516 im Juni 2006 angestiegen, sodass noch höhere Ausgaben angefallen sind. Nach statistischen Daten der Bundesagentur für Arbeit waren in Berlin im Dezember 2006 332 946 Bedarfsgemeinschaften (606 120 Personen) leistungsberechtigt.

Angesichts dieser finanziellen Dimensionen kommt einer zeitnahen Überprüfung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung auf Angemessenheit und der gesetzeskonformen Festlegung von Angemessenheitskriterien eine besondere Bedeutung zu.

Der Bund hat von seiner in § 27 Nr. 1 SGB II vorgesehenen Ermächtigung, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, welche Aufwendungen für Unterkunft und Heizung angemessen sind und unter welchen Voraussetzungen die Kosten für Unterkunft und Heizung pauschaliert werden können, bislang keinen Gebrauch gemacht. Infolge fehlender bundeseinheitlicher Kriterien verfahren alle kommunalen Träger nach jeweils eigenen Vorgaben. Die Senatsverwaltung hat insoweit nicht auf ihre für den Bereich des BSHG erlassenen Ausführungsvorschriften (AV-Unterkunft) zur Definition angemessener Unterkunftskosten zurückgegriffen, die ausgehend von der Nettokaltmiete nach personenzahlbezogenen Wohnungsgrößen in Quadratmetern und Mieten im Alt- und Neubau sowie im sozialen und frei finanzierten Wohnungsbau differenzierten. Sie hat vielmehr neue Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II (AV-Wohnen) erlassen. Diese stellen nur noch auf Bruttowarmmieten, gestaffelt nach der Anzahl der Personen eines Haushalts, ab und legen folgende Richtwerte fest:

Bei der Überprüfung, wie es zur Festsetzung dieser Angemessenheits-Richtwerte gekommen ist, hat der Rechnungshof ermittelt, dass es der Senatsverwaltung primär darum ging, den Leistungsempfängern einen Wohnungswechsel auch bei hohen Mieten so weit wie irgend möglich zu ersparen. Sie hat die Angemessenheits-Richtwerte so hoch festgesetzt, dass 80 v. H. der Mieten des Berliner Wohnungsbestandes abgedeckt werden. Internen Berechnungen lag insoweit eine monatliche Nettokaltmiete von ca. 5 /m² zuzüglich durchschnittlicher Betriebskosten von 2,22 /m² zugrunde.

Zur vergleichbaren Rechtslage nach dem früheren BSHG hatte das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, Ausgangspunkt für die angemessene Höhe der Unterkunftskosten sei die abstrakt zu ermittelnde personenzahlabhängige Wohnungsgröße, sodass sich die angemessene Höhe der Unterkunftskosten als Produkt aus der für die Hilfeempfänger abstrakt angemessenen Wohnungsgröße und dem nach den örtlichen Verhältnissen angemessenen Mietzins pro Quadratmeter bestimme. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Mietaufwendungen für eine Unterkunft seien die örtlichen Verhältnisse zunächst insoweit maßgeblich, als auf die im unteren Bereich der für vergleichbare Wohnungen am Wohnort der Hilfebedürftigen marktüblichen Wohnungsmieten abzustellen und auf dieser tatsächlichen Grundlage die sozialhilferechtlich maßgebliche Mietpreisspanne zu ermitteln sei. Sodann sei zu prüfen, ob dem Hilfeempfänger eine andere bedarfsgerechte, kostengünstigere Wohnung konkret verfügbar und zugänglich sei (vgl. zuletzt BVerwG DVBl. 2005, 1326).

Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgend hat das Bundessozialgericht zu § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in zwei Urteilen vom 7. November 2006 u. a. ausgeführt, für die Angemessenheitsprüfung sei zunächst die Größe (Quadratmeterzahl) der konkret betroffenen Wohnung festzustellen. Vergleichsmaßstab für die Angemessenheit der Wohnungsgröße seien die Wohnflächen, die nach den landesrechtlichen Ausführungsvorschriften zu § 10 Wohnraumförderungsgesetz für bestimmte Haushaltsgrößen vorgesehen seien. Hilfebedürftigen stehe lediglich ein nach den örtlichen Verhältnissen einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zu. Letztlich komme es darauf an, dass das Produkt aus Wohnfläche und Standard der Wohnung der Angemessenheit entspreche. Erst wenn alle anderen Erkenntnismöglichkeiten erschöpft seien, könnten die Tabellenwerte zu § 8 Wohngeldgesetz als gewisse Richtwerte für die Angemessenheit Berücksichtigung finden.

Die Sachdarstellungen des Rechnungshofs bedürfen keiner Stellungnahme des Senats.

Die Angemessenheits-Richtwerte der Senatsverwaltung lassen diese Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung außer Acht. Die AV-Wohnen weisen zum einen das wesentliche Kriterium der Wohnungsgröße nicht aus. Zum anderen entsprechen die personenzahlgestaffelten Miethöhen nicht dem unteren Bereich der Berliner Wohnungsmieten bzw. spiegeln nicht einen einfachen, im unteren Segment liegenden Wohnungsstandard wieder. Die den internen Berechnungen (für die in den AV-Wohnen allein veröffentlichten Bruttowarmmieten) zugrunde gelegte Nettokaltmiete von etwa 5 /m² (T 145) entspricht ausweislich des Mietspiegels 2005 je nach Wohnlage dem Mietpreis im oberen bis mittleren Preissegment des Berliner Wohnungsmarktes. Die Senatsverwaltung selbst legt für das mittlere Preissegment Nettokaltmieten von 4,00 bis unter 6,00 /m² und für das untere Preissegment Nettokaltmieten unter 4,00 /m² zugrunde, wie sich aus ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage vom März 2006 (Drs 15/13325) ergibt.

Demnach ist auch sie sich bewusst, dass die Angemessenheits-Richtwerte in ihren AV-Wohnen jedenfalls nicht dem unteren Preissegment entsprechen, wie es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Fall sein müsste.

Nach übereinstimmender Rechtsprechung wird über die Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II und damit über die Rechtmäßigkeit der entsprechenden Regelungen der AV-Wohnen allein von den Gerichten entschieden. So stellt z. B. das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg fest, dass „der unbestimmte Rechtsbegriff der Angemessenheit in vollem Umfang der richterlichen Nachprüfung unterliegt". Und führt in diesem Zusammenhang weiter aus: "Entsprechend vermögen die von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz Berlin erlassenen Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II (AV-Wohnen) den Senat [des LSG] nicht zu binden." (L 14 B 1218/06 AS ER).

Einige Kammern des Sozialgerichts haben daher eigene Berechnungen zur Ermittlung einer angemessenen Miete angestellt. Im Ergebnis wurden dabei die Richtwerte nach der AVWohnen bestätigt, so dass die 115. Kammer in einem Beschluss vom 19.01.2007 feststellt: „Zwar handelt es sich bei den Ausführungsvorschriften nicht um Gesetzesvorschriften mit Außenwirkung, die das Gericht binden, die Kammer geht jedoch davon aus, dass ­ jedenfalls gegenwärtig noch ­ die dort genannten Richtwerte das untere Segment des tatsächlichen Wohnungsmarkts im Land Berlin hinreichend genau wiedergeben." Zusätzlich wird nach der einschlägigen Rechtsprechung des BSG wie auch schon des BVerwG vor einer Umzugsaufforderung die Prüfung verlangt, ob eine bedarfsgerechte Wohnung zu den geforderten Konditionen konkret verfügbar und zugänglich ist. Das Verlangen, Mieten z. B. durch Umzug zu reduzieren, oder die Begrenzung von Mieten auf das angemessene Maß ist demnach immer nur dann zulässig, wenn zu vorgegebenen Höchstgrenzen auch Wohnraum verfügbar ist.

Die Feststellung des Rechnungshofs, die Angemessenheits-Richtwerte seien rechtswidrig, wird daher mit aller Entschiedenheit zurück gewiesen.

Die Senatsverwaltung hat eingewandt, sie habe im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung Bruttowarmmieten zur Beurteilung der Angemessenheit der Unterkunftskosten benannt. Nach der Rechtsprechung sei auf das Produkt aus angemessener Wohnfläche und angemessenem Quadratmeterpreis abzustellen (sog. Produkttheorie). Von daher sei es rechtlich nicht zulässig, in den AV-Wohnen bestimmte Wohnungsgrößen als besonderes Kriterium für die Angemessenheitsprüfung vorzugeben. Bei der Berechnung ihrer Richtwerte seien im Sinne der Produkttheorie auch die jeweils angenommenen Wohnungsgrößen als Berechnungsfaktor eingeflossen.

Dem kann nicht gefolgt werden. Die Senatsverwaltung verkennt, dass die Rechtsprechung ausdrücklich auf eine Ermittlung der einzelnen Faktoren abstellt, und zwar auch auf einen Abgleich der konkreten Wohnungsgröße mit der für die Angemessenheitsprüfung maßgeblichen Größe nach § 10 Wohnraumförderungsgesetz i. V. m. den landesrechtlichen Ausführungsvorschriften. Die Produkttheorie besagt, dass nicht alle berücksichtigungsfähigen Faktoren jeweils im Bereich der Angemessenheit liegen müssen, solange der Grundsicherungsträger nicht mit unangemessen hohen Kosten belastet wird.

Die Senatsverwaltung bestreitet ferner, dass ihre Angemessenheits-Richtwerte dem mittleren bis oberen Mietpreissegment des Berliner Wohnungsmarktes entsprechen. Der Berliner Mietspiegel 2005 weise Nettokaltmieten in einer Bandbreite von 1,99 bis zu 11,00 /m² (und mehr) auf. Richtwerte mit einer Grundlage von bis zu 5 /m² netto kalt lägen daher im unteren bis mittleren Preissegment des Berliner Wohnungsmarktes. Diese Argumentation lässt die prozentuale Verteilung des Wohnungsbestandes über die gesamte Bandbreite außer Acht und ist als ungewichtete Querschnittsbildung ungeeignet. Wie in T 145 ausgeführt, ging die Senatsverwaltung davon aus, mit der ihren Berechnungen zugrunde gelegten Nettokaltmiete von ca. 5 /m² 80 v. H. des Berliner Wohnungsbestandes abzudecken.

Die Bewertung des Rechnungshofs der Stellungnahme der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales steht mit der Rechtslage und der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang. Die Produkttheorie bedeutet, dass bei der Zusammenführung der in die Angemessenheitsbetrachtung einfließenden Faktoren auf die Angemessenheit der tatsächlichen Aufwendungen im Ergebnis, insbesondere das Produkt aus angemessener Wohnfläche und angemessenem Quadratmeterzins abzustellen ist. Maßgebend ist danach die Kostenangemessenheit im Ergebnis und nicht die Angemessenheit der einzelnen Faktoren. Bei Kostenangemessenheit im Ergebnis kann ein Hilfeempfänger bei einem besonders günstigen Quadratmeterpreis auch eine größere Wohnung nehmen oder bei Beschränkung in der Fläche Ausstattungs- oder Lagepräferenzen verwirklichen. Die Richtwerte nach Ziffer 4 Abs. 2 AV-Wohnen regeln insoweit die für die Leistungsbewilligung nach § 22 Abs. 1 SGB II maßgebende Kostenangemessenheit im Ergebnis. Für die Leistungsbewilligung nicht entscheidend sind die einzelnen Faktoren, die bei der verwaltungsinternen Ermittlung der Richtwerte zugrunde gelegt wurden. Deshalb enthält die AV-Wohnen im Einklang mit der Produkttheorie der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Angaben zu Wohnungsgrößen.

Die Senatsverwaltung hat in Nr. 4 Abs. 3 Satz 1 AV-Wohnen vorgeschrieben, dass die Kosten der Unterkunft einschließlich Heizkosten für die Dauer eines Jahres ab Beginn des Leistungsbezuges in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Damit sollte nicht lediglich Anlaufproblemen beim Inkrafttreten des SGB II zum 1. Januar 2005 begegnet werden. Diese Regelung gilt auch für alle künftigen Leistungsfälle.

Da nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht werden, soweit diese angemessen sind, erfordert das Gesetz eine Überprüfung der Angemessenheit bereits vor Leistungsbewilligung. Eine einjährige Bestandsschutzfrist, während der auch unangemessen hohe Aufwendungen für Unterkunft und Heizung generell übernommen werden, ist mit dem Gesetz unvereinbar. Die Regelung der Senatsverwaltung ist daher rechtswidrig und hat zudem erhebliche finanzielle Auswirkungen (vgl. T 154).

Mit dem SGB II soll in erster Linie die Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt verbessert werden. Dies gelingt vorzugsweise in den ersten zwei Jahren der Arbeitslosigkeit. So stellt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in seinem Kurzbericht Nr. 23 vom 08.12.2006 („Bedarfsgemeinschaften im SGB II in 2005 ­ Beachtliche Dynamik bei steigenden Empfängerzahlen") fest: „Von den Neuzugängen im ersten Halbjahr 2005 können durchschnittlich 43 Prozent innerhalb von zwölf Monaten den Leistungsbezug beenden." Gerade im ersten Jahr des Leistungsbezugs nach SGB II müssen daher alle Aktivitäten auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt konzentriert werden. Die in der AV-Wohnen verankerte Jahresfrist trägt diesem vordringlichen Ziel Rechnung.